Table Of ContentNietzsche 
Werk und Wirkungen 
Herausgegeben von 
Hans Steffen 
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
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Bayerische 
Staatsbibliothek 
München 
Kleine Vandenhoeck-Reihe 1394 
Umschlag: Hans-Dieter Ullrich - (£) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974. -
Alle Rechte vorbehalten. -  Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist 
es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photo- oder akustomechani-
schem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen 
ISBN 3-525-33357-9 
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INHALT 
Vorwort  5 
Karl Löwith 
Nietzsches Vollendung des Atheismus  7 
Alfred Guth 
Nietzsches „Neue Barbaren"  19 
Raymond Polin 
Nietzsche und der Staat oder Die Politik eines Einsamen  27 
Beda Allemann 
Nietzsche und die Dichtung  45 
Hans Steffen 
Schopenhauer, Nietzsche und die Dichtung Hofmannsthals  . . ..  65 
Peter Pütz 
Thomas Mann und Nietzsche  91 
Gunter Martens 
Im Autbruch das Ziel. Nietzsches Wirkung im Expressionismus . . 115
VORWORT 
Nicht seine Erklärung, daß Gott tot sei, sondern die Überwindung des 
mit  dem  Tod  Gottes  zusammenhängenden  Nihilismus  ist,  wie Karl 
Löwith zeigt, Nietzsches Leistung, die ihn zum ersten großen Anthro 
pologen der Moderne hat werden lassen. Das vor allem erklärt seine 
tiefgreifende,  anhaltende Wirkung. Sicher spielte dabei auch die Ver 
führung durch seine Sprache, die ja auf Wirkung angelegt ist, eine nicht 
zu unterschätzende Rolle. „Zwichen Denken und Bilden"  (Hofmanns 
thal), polemisch und hinter Masken, musikalisch und doch  prägnant, 
schlägt sie den Leser in ihren Bann. Die Wirkung in den achtziger und 
neunziger Jahren  des 19. Jahrhunderts  war daher um  so größer, als 
hier  eine  Sprachschöpfung  und  Sprachleistung  vorlag,  wie  man  sie 
damals in Deutschland  nicht mehr kannte. Dem „Dichter"  Nietzsche 
hat deshalb Beda Allemann einen eigenen Beitrag gewidmet. Indessen 
war es doch mehr der Inhalt seiner Lehre und die von ihm praktizierte 
„wissenschaftliche"  Methode  der  Entlarvungspsychologie,  welche auf 
die jungen Schriftsteller der Jahrhundertwende wirkte, die ja, vom Biolo 
gismus und Psychologismus beeinflußt, hier eine Möglichkeit fanden, in 
Übereinstimmung  mit  ihrer  Zeit,  die  „naturalistische"  Schule  zu 
überschreiten. Das mußte nicht zwangsläufig eine „Nietzscheexegese" 
(Benn) werden, sondern der Philosoph gab auch die Mittel an die Hand, 
ihn so auszulegen und zu variieren, daß die Exegese unter der Hand 
zur Auseinandersetzung wurde. 
Sofern  sich  eine  Wirkungsgeschichte  nicht  mit  einem  Zitatennach 
weis begnügen  will, wird  sie diesen  Vorgängen  und  Umformungen 
nachgehen müssen. Das führt  zu Schwierigkeiten  eigener Art.  Denn 
mit der „Wirkungsgeschichte" ist ein Methodenpluralismus verbunden, 
wie unsere drei Abhandlungen  (Steffen,  Pütz, Martens), die zu  ver 
schiedenen  Ergebnissen  führen,  zeigen  mögen. Denn wir wollten mit 
ihnen  weniger  auf  den  Umfang  als auf  die Vielfalt  von  Nietzsches 
Wirkung  hinweisen.  Vielleicht  wären  George,  Hesse,  Rilke,  Musil 
oder  Benn  ergiebigere  Beispiele gewesen, um  diese Vielfalt  sichtbar 
zu machen. Doch wird auch an unseren  Beispielen deutlich, wie ver 
schiedenartig die Wirkung Nietzsches jeweils gewesen ist. 
Das impliziert zugleich die Frage nach der methodischen Stringenz der 
Wirkungsforschung.  Gehört  zu  ihren  Mitteln  nicht  der  Analogie 
schluß,  der  Nachweis  von  „Entsprechungen"?  Und  führt  das  nicht 
rasch  zu  Vermutungen,  Überzeugungen  und  Überredungen?  Hier 
bedarf  es  noch  mancher  methodischer  Überlegung.  Vielleicht  sollte 
man Wirkungsgeschichte auf breiterer Ebene betreiben, als wir es tun. 
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Ohnedies  spielte mehr als nur  ein Wirkungsfaktor  bei einem  Autor 
eine Rolle. Könnte man dies genauer bestimmen, so ließe sich u.  U. 
ein Konsensus herstellen, der den Raum des Ungesicherten reduzierte, 
das Schlüsse-Ziehen absicherte. Allerdings hätten auch diese Wirkungs 
faktoren letzlich nur Materialwert: Begriffen werden müssen ihre vom 
Autor  geschaffene  Funktionalität  und  neue  Wertigkeit.  Dieser  her-
meneutische Frageansatz ist „universal". Hierfür mag Nietzsche selbst 
Beispiel sein, geht doch seine Wirkung weit über die Literatur hinaus: 
Man  weiß,  daß  nicht  nur  Thomas  Mann,  sondern  auch  Mussolini 
Nietzscheaner waren. Aber das muß selbst wieder interpretiert werden. 
So wäre Mussolinis Impressionabilität in Rechnung zu stellen, ja man 
müßte grundsätzlicher, als man es heute vielerorts tut, fragen, ob der 
Gebrauch einiger Schlagwörter durch ein faschistisches Regime relevant 
ist. Berufen sich nicht andere, gleich unangemessen, auf Marx? 
Das ändert nichts daran, daß unser heutiges Verhältnis zu Nietzsche 
von historischer Erfahrung geprägt ist. Nicht nur negativ, sondern auch 
positiv. Denn sie scheint ein erneutes Zwiegespräch mit Nietzsche, das 
sachlich  und  kritisch  zugleich  ist, zu  begünstigen.  Dafür  mögen  die 
beiden Beiträge unserer französischen Mitarbeiter stehen (Polin, Guth), 
die ihrerseits  Beispielcharakter  haben.  Denn  vor allem in  Frankreich 
wird  Nietzsche heute wieder diskutiert. Das wird  sicherlich zu  einer 
stärkeren  Auseinandersetzung  mit  ihm  auch  in  Deutschland  führen, 
Ansätze  lassen  sich  bereits  erkennen.  Geht  also diese Wirkung  von 
Frankreich aus- oder von Nietzsche? 
Hans  Steffen 
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KARL LÖWITH 
NIETZSCHES  VOLLENDUNG  DES ATHEISMUS 
Die Geschichte der modernen Gottlosigkeit des Menschen und  seiner 
Welt endet und vollendet sich mit Nietzsche, weil sein  „Atheismus" 
keinen  Widerpart mehr am Theismus oder auch nur Deismus hatte, 
wie das für die philosophischen Atheisten der Aufklärung noch der Fall 
war. Die Parole des Atheismus ist heute nicht mehr ein Bekenntnis. 
An  die  Stelle, die zwei Jahrtausende  hindurch  Gott  als das  höchste 
Seiende und als summum bonum einnahm, tritt bei Nietzsche der alles 
umfassende „Ring" der amoralischen Welt: die ewige Wiederkehr des 
Entstehens und Vergehens, in die auch der Mensch, als ein Ring im 
großen Ring der Welt, mit hineingehört, wenn er nicht ein  Ebenbild 
Gottes ist, sondern eine Hervorbringung der natürlichen Welt. Mit die 
ser  Entgöttlichung  und  Verweltlichung des Menschen  vollendet  sich 
die Geschichte des philosophischen Atheismus. 
Begonnen hat sie aber schon lange vor Nietzsches Erklärung, daß Gott 
tot sei. Sie beginnt mit den französischen Aufklärern des 17. Jahrhun 
derts, wie das P. Hazard  in seinem  Buch  „La crise de la conscience 
Europeenne" nachgewiesen hat. Die reife Frucht dieser Krise sind dann 
die Schriften von Voltaire, Diderot und Holbach, die man schlechthin 
„les  philosophes".  nannte,  weil  sie  nicht  mehr  religiös  und  gläubig 
waren. Von Diderots Tochter wird überliefert, daß ihr Vater auf dem 
Sterbebett gesagt habe, daß die Philosophie mit dem Unglauben beginne. 
Der  Marquis  de  Sade  hat  aus  der  weitverbreiteten  Gottesleugnung 
extreme Konsequenzen gezogen, und noch im 19. Jahrhundert ist Proud-
hons Glaube an den sozialen, politischen und moralischen  Fortschritt 
die Kehrseite seines radikalen „Atheismus". Aber auch die französische 
Aufklärung  und ihr Kampf gegen die überlieferten  kirchlichen  Insti 
tutionen und Lehren ist nicht der Anfang dieser Bewegung, an deren 
Ende Nietzsche steht. Es geht ihr voraus der engliche Bürgerkrieg von 
1642 und die deistische Kritik des Christentums. Der Materialismus von 
Hobbes ist hundert Jahre älter als der von La Mettrie und D. Humes 
«Treatise of Human Nature", sein Dialog über natürliche Religion und 
der  „Essay  on  Miracles"  antizipieren  den Angriff  der  französischen 
Philosophen  gegen das Christentum. Als Montesquieu  1731 England 
besuchte, berichtet  er, es gebe dort  unter  den Gebildeten  überhaupt 
keine Religion mehr. 
Im Vergleich zur englischen und französichen Kritik des Christentums 
ist der Atheismus  der deutschen  Philosophie  ein Nachzügler,  dessen 
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Stellung zur Religion prinzipiell zweideutig ist, weil seine Kritik der 
Religion immer auch ihrer philosophischen Rechtfertigung dient. Das 
gilt für  Kants Schrift über  „Die Religion innerhalb der Grenzen  der 
bloßen  Vernunft",  für  Fichtes  „Kritik  aller  Offenbarung"  und  für 
Hegels  Religionsphilosophie.  Sie  alle  wollen  das  Christentum  noch 
bewahren, indem sie es in seiner historischen und dogmatischen Form 
destruieren. Erst nach Hegel und in der Auseinandersetzung mit ihm 
ist dann von seinen linksradikalen Schülern - D. F. Strauss, Feuerbach, 
Bruno Bauer und Marx - eine entschieden atheistische Position bezogen 
worden. Daß auch sie noch im Umkreis der christlichen  Überlieferung 
stehen  und  „Halbpriester"  sind,  hat  erst  Nietzsche  erkannt,  indem 
er  nicht  so sehr  die Theologie  oder  Gottesidee  angriff,  sondern  die 
moralischen Konsequenzen der christlichen Religion. Daher sein Ver 
such zur  „Umwertung" aller bisherigen, d. i. christlichen  Werte und 
sein  Kampf  gegen  das  in  der  modernen  Kultur  latente,  „homöo 
pathische"  Christentum.  Was  Nietzsche  Nihilismus  nannte,  ist  gar 
nichts  anderes  als  das  Nichtiggewordensein  dieser  überkommenen, 
verkommenen und doch noch immer bewahrten Werte. Mit der Infrage 
stellung  des  „Wertes  dieser  Werte"  ergibt  sich  die Möglichkeit  zu 
grundsätzlich anderen Wertschätzungen mit Bezug auf das Dasein im 
ganzen. Gegenwärtig befinde man sich aber noch in einem Zwischen 
zustand,  wo man  zwar an  keine Glaubensartikel  mehr  glaubt,  aber 
dennoch alles beim alten läßt. „Jetzt ist alles durch und durch  falsch, 
schwach oder überspannt." Man erwartet zwar nicht mehr eine christ 
liche Erlösung durch einen richtenden und gerechten Gott, versucht aber 
doch im gleichen Sinn mit einer irdisch-politischen Lösung aufzuwarten  i 
durch eine soziale Gerechtigkeit. Man glaubt nicht mehr an ein kom 
mendes Gottesreich, hält es aber doch fest in Gestalt einer weltlichen 
Utopie.  Man  verneint  die  christliche  Selbstverleugnung,  aber  man 
bejaht  auch nicht die natürliche Selbstbehauptung.  Man glaubt  nicht 
mehr  an die christliche Ehe und an den christlichen Staat, was aber 
niemand hindert, Geburt, Hochzeit und Tod mit einem Anschein von 
christlicher Heiligung zu umgeben. Daß infolge dieser Zweideutigkeit 
jetzt  alles ohne einen glaubwürdigen  Sinn erscheint und wertlos ge 
worden ist, versteht Nietzsche als die Folge davon, daß als die maß 
geblichen  Werte immer  noch jene gelten, die faktisch  unmaßgeblich 
geworden  sind  und  denen  die  wirklich  betätigten  Wertschätzungen 
unseres weltlich gewordenen Lebens schon längst widersprechen. 
Es klingt wie eine direkte Fortsetzung von Feuerbachs und Kierkegaards 
Kritik der modernen Christenheit, wenn Nietzsche schreibt: 
Ich sehe mich um; es ist kein Wort von dem mehr übriggeblieben, was ehemals 
Wahrheit hieß - christliche Wahrheit, christlicher Glaube, christliche Kirche. 
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Jedermann weiß das und trotzdem bleibt alles beim alten. Wohin kam das 
letzte Gefühl von Anstand, wenn unsere Staatsmänner sogar sich heute noch 
Christen nennen und zum Abendmahl gehen. Wen verneint denn das Christen 
tum? Was heißt es „Welt"? Daß man Soldat, Richter, Patriot ist; daß man sich 
wehrt; daß man auf seine Ehre hält; daß man seinen Vorteil will; daß man 
stolz ist; jede Praktik jedes Augenblicks, jede zur Tat werdende Wertschätzung 
ist  heute  antichristlich.  Was für  eine  Mißgeburt  von  Falschheit  muß der 
moderne Mensch sein, daß er sich trotzdem nicht schämt,Christnochzuheißen. 
Die positive Absicht von  Nietzsches Destruktion der  überkommenen 
christlichen  Daseinsauslegung  war von Anfang  an die Wiedergewin 
nung der natürlichen Welt. Er hatte sich schon mit neunzehn Jahren in 
einer autobiographischen Skizze von 1863 die entscheidende Frage nach 
dem  alles  Umfassenden  gestellt:  ist  es Gott  oder  die  Welt?  „Mein 
Leben" beginnt mit dem denkwürdigen Satz: „Ich bin als Pflanze nahe 
dem Gottesacker, als Mensch in einem Pfarrhaus geboren".  Es endet 
mit der Feststellung, daß es Zeit werde, selbst die Zügel zu ergreifen und 
in das Leben hinauszutreten.  „Und so entwächst der Mensch  allem, 
was ihn  einst umschlang;  er braucht  nicht die Fesseln zu  sprengen, 
sondern unvermutet fallen sie ab; und wo ist der Ring, der ihn endlich 
noch umfaßt?  Ist es die Welt? Ist es Gott?" Nietzsche entschied sich 
gegen den biblischen Gott des Alten und Neuen Testaments und für den 
»großen Ring" der Welt, der auch den Menschen mitumfaßt, und er 
entschied sich damit zugleich gegen die gesamte christlich-platonische 
Meta-physik oder „Hinterwelt". 
Nietzsches jugendliche Zweifel an der Wahrheit der christlichen Über 
lieferung  kommen  zu einem  entschiedenen  Abschluß in den  Gleich 
nisreden Zarathustras, der ein „fünftes",  antichristliches  Evangelium 
sein will. „Also sprach Zarathustra" war als „Vorhalle" geplant zu dem 
unvollendeten  Bau des „Willens zur Macht", der -  wie alle Schriften 
nach  dem Zarathustra  -  der  Versuch  einer  „Umwertung"  aller bis 
herigen,  d. i.  christlichen  Werte  ist, indem  er  eine neue  „Weltaus 
legung" entwirft.  Der  „Tod Gottes" verlangt zunächt  eine  Überwin 
dung des bisherigen, christlichen Menschen zum „Übermenschen" und 
ermöglicht die Wiedergewinnung der Welt. Die Vorrede des Zarathu 
stra erzählt, wie dieser einem alten Heiligen begegnet, der Lieder zum 
Lobe Gottes singt, ohne zu wissen, daß sein Herr nicht mehr lebt. Im 
letzten Teil des Zarathustra begegnet er einem andern Heiligen, dem 
letzten Papst, der bereits weiß, daß Gott tot ist, und der darum „außer 
Dienst" ist. Im Verlauf des Gesprächs nennt der fromme Papst den gott 
losen Zarathustra den „Frömmsten aller Gottlosen". Zarathustra, der 
sich selbst schlechthin den „Gottlosen" nennt, erhebt sich zugleich mit 
dem Nieder- und Untergang Gottes. Und weil dieser christliche Gott 
fast zwei Jahrtausende lang der Sinn und Zweck von Mensch und Welt 
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war, ergibt sich als nächste Folge seines Todes der „Nihilismus", der 
besagt, daß Welt und Mensch ohne Sinn und Zweck sind. Es gibt keine 
Antwort mehr auf die Frage: „Wozu überhaupt Mensch?" Um nach dem 
Tode Gottes weiterleben zu können, bedarf es einer Verwandlung und 
Überwindung  des bisherigen,  christlichen  Menschen  zum  Übermen 
schen. Der zweite, von Nietzsche hervorgehobene Hauptsatz der Vor 
rede, nach dem ersten vom Tode Gottes, lautet:  „Ich lehre euch den 
Übermenschen", nämlich im Sinn einer nun nötig gewordenen „Über 
windung" des Menschen. Nietzsches Lehre vom Übermenschen wertet 
die Lehre vom Gottmenschen Christus, dem bisherigen Übermenschen, 
um. Zarathustras fünftes Evangelium will von dem bisherigen „Erlöser" 
erlösen. An die Stelle der imitatio Christi tritt der Versuch zur An-
gleichung des Menschen an den Gesamtcharakter des Lebens der Welt. 
Überwinden muß sich der Mensch, um nicht in der Nichtigkeit des aus 
dem  Tode Gottes hervorgegangenen  Nihilismus zu  enden  oder  zum 
„letzten", verächtlichsten Menschen herabzusinken. Er muß „Gott und 
das Nichts" besiegen. 
„Der Übermensch ist der Sinn der Erde." Er kann als solcher auf alle 
meta-physischen Hinterwelten und überirdischen Hoffnungen  auf ein 
Reich Gottes verzichten. „Bleibt der Erde treu", ist der dritte Haupt 
satz der Vorrede. Er zieht aus dem Tode Gottes und der Überwindung 
des Menschen zum Übermenschen die Folgerung einer rein welthaften 
Existenz ohne Transzendenz. Dieser irdische, leibhaftige und im wört 
lichen  Sinn verweltlichte Mensch, der sich nun  anschickt, die Herr 
schaft über die Erde anzutreten - die Herrn der Erde sollen Gott erset 
zen (XII, 518)l -, muß sich, weil ihm kein Gott mehr befiehlt, was er 
soll, selbst seinen Willen geben und sich selbst befehlen können. Der 
Adler und die um seinen Hals geringelte Schlange, der Stolz und die 
Klugheit, sind Zarathustras Tiere. Der Hochmut des Stolzes, der hohe 
Mut richtet sich gegen die Demut der Ergebung in Gottes Willen, deren 
christliches Sinnbild das opferwillige Lamm ist. Zarathustra, der Gott 
lose, sucht seinesgleichen. „Und alle die sind Meinesgleichen, die sich 
selber ihren Willen geben und alle Ergebung von sich abtun" (VI, 250). 
Eine Art von Ergebung ist es aber auch, wenn man meint:  „Es gibt 
sich!"  Entgegen diesem  laisser faire  und  allem  halben  Wollen  sagt 
Zarathustra:  „tut immerhin was ihr wollt, -  aber seid erst solche, die 
wollen können." So sehr aber das Prinzip des „Ich will" den gehorsamen 
Geist des „Du sollst" ablöst, ist doch auch der Glaube an Gottes Willen 
von  einem  eigenen  Willen  bestimmt.  Was  „übrig  blieb"  nach  dem 
Verfall des christlichen Glaubens, ist zwar das eigene „Ich will", aber 
dieser  scheinbare  Rest  ist  auch  schon  sein  Kern.  Der  Wille  ist  das 
„Prinzip" schon  des Glaubens,  weil der gläubige Mensch  nicht  sich 
selber will. Der europäische Nihilismus, dessen Problem es ist, „ob er 
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