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ZUM AUFKOMMEN DES JÜNGEREN FU*ARKS
EinBeitragzurSchriftgeschichte›vonunten‹
FürThorstenAndersson
The ›Scandinavianrunic reform‹has fundamentallyaffected our insightsinto
the development of the younger fuþarks. The aim of this paper is twofold.
Firstly, it questions the notion of an intentional reform on several grounds.
Secondly,itaimsatintroducingnewsystematicfactorswhichsupportthelin-
guistic approach toward this transformation as an internally driven process
basedonlanguagechange(particularlysyncope).Thegeneralfocusisonthe
contextualization of the writing system in written culture as exemplified by
literacy and particular societal structures in Scandinavia on the brink of the
VikingAge.
1.ZieldesBeitrages
In diesem Beitrag sollen nochmals die Faktoren untersucht werden, die
zur Kürzung der älteren Runenreihe von vierundzwanzig auf nur noch
sechzehn Zeichen geführt haben.1 Schriftgeschichtlich ist dieser Prozess
umso interessanter, als sich keine (auch nur annähernde) Parallele für
einederartigeReduktiondesGrapheminventarsindenbekanntenSchrift-
systemen des Erdkreises beibringen lässt (siehe etwa Daniels/Bright
1996).NichtzuletztsollhierdieAnnahmeeiner›SkandinavischenRunen-
reform‹ kritisch hinterfragt werden. Eine ›Reform‹ wird zumeist in An-
schlag gebracht, um die einheitliche (d.h. gemeinnordische) Reduktion
des Fuþarks von vierundzwanzig auf sechzehn Zeichen zu erklären. Mi-
chael Barnes etwa folgert: »As things stand, we have to reckon with a
radicalrunicreformswiftlyestablishedthroughoutthewholeofScandina-
1 DieserBeitrag,derimDezember2007währendeinesForschungsaufenthaltsin
Kapstadtentstand,solldieDebattezumjüngerenFuþarkÐinspiriertvonSte-
phan Elspaß’ Projekt Ð neu anregen. Der Ansatz von Elspaß (2005, 2007) zur
jüngeren germanischen Sprachgeschichte 1700Ð2000 ist meines Erachtens in
wesentlichenPunktenfürdieälterenordischeSprachgeschichtepositivauszu-
werten.ÐIchdankeimbesonderenHeinrichBeck,KlausDüwel,LenaPeterson
sowieThorstenAndersson,diedieersteManuskriptfassungdesArtikelsgelesen
unddurchdiversefachlicheKommentareverbesserthaben.
DOI10.1515/bgsl.2009.026
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via«(Barnes2003,S.54).DerartigeProjektioneneffektiversprachplaneri-
scher Eingriffe des 19. und 20. Jahrhunderts Ð man denke nur an die
Konstruktion des Nynorsk in Norwegen Ð werden aber schon durch die
dezentraleGesellschaftsstrukturderfrühenWikingerzeitinFragegestellt,
dieüberregionaleodersogargemeinskandinavischeAnsätzeeinerExeku-
tive,LegislativeundJurisdikativevölligvermissenlässt.
An die Stelle der vielzitierten ›Reform‹ soll in diesem Beitrag eine
Sprach- und Schriftgeschichte ›von unten‹ treten, durchaus im theoreti-
schenVerständnisvonStefanElspaß(2005,2007).InAnlehnunganTrud-
gillundWatts(2002)verlagertElspaßdendiachronenBlickwinkelgewis-
sermaßenvonderVogelschauzudenGraswurzeln:
»Whether it may be disputed that a ›language history from below‹ is
feasibleforeachindividuallanguageandlanguageperiod,thecontribu-
torstothisbook[d.h.Elspaß2007,M.S.]mayallagreethatitisneces-
sary to work ona change of perspective and somesort of ›alternative
histories‹ofourlanguages[...].«(Elspaß2007,S.5f.)
Im Folgenden soll der intrasystemische und folgerechte Charakter der
UmbildungdesälterenFuþarkserhelltwerden,dermeinesErachtensdem
sprachplanerischenEingriffeinergezielten›Reform‹diametralgegenüber
steht. Aus phonologischer bzw. phonotaktischer Sicht sind neue Argu-
mente in die Debatte einzuführen, die den Modus operandi dieser Trans-
formationerhellenkönnen.WährendderVerlustvonVokalgraphemenim
Ganzen befriedigend durch Lautwandelprozesse im Anlaut der Runenna-
men erklärt werden kann, stellt die Ausmusterung der Konsonantengra-
pheme gund d(nebst p)offensichtlichdasgrößteProblemdar.Die
vielzitierte ›Reform‹ steht und fällt daher mit den ›Auslaufmodellen‹
und ,deren Ablösungin irgendeinerForm zumotivieren ist. Hierzusoll
imFolgendeneineneueLösungsperspektiveaufgezeigtwerden.
1.1ZumStandderForschung
BestimmendfürdieForschungslagesinddivergierendeModelle,dieganz
verschiedeneErklärungsfaktorenundReformansätzeeinbeziehen(zueiner
Übersicht siehe Düwel 2008, S.88Ð94). Selbst neuere Theorien, die sich
der ›Skandinavischen Runenreform‹ verschreiben, divergieren beträcht-
lichinihrenkonkretenLösungsvorschlägen,vgl.etwaStroh-Wollin(2002),
Birkmann (2004), Liestøl (1981a, 1981b) sowie die zahlreichen Arbeiten
von Michael Barnes.2 Aufs Ganze gesehen fällt auf, dass die Forschung
2 Michael Barnes hat die Auffassungeiner ›Runenreform‹ in einer ganzen Reihe
vonArbeitenverfochten.SieheBarnes(1987,1998,S.450,2003,S.53Ð55)sowie
zuletztBarnes(2006,S.19f.;meineHervorhebung):»theyoungerfuþarkarose
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die ›Runenreform‹ völlig unterschiedlich, insgesamt aber durchaus vage
erklärt. Selbst Forscher, die von dieser Grundannahme ausgehen, zeigen
inihrenVorgabenkeinenerkennbarenKonsensus.Aufdieentscheidende
Frage antwortet Thomas Birkmann denn auch mit einer ausweichenden
Antwort:
»GabeseinRunensymposiumum700?Auchdaswissenwirnicht,aber
ichwerdefüreinespätereZeitIndizienfürdieAusbreitungvonRunen-
reihenvorführen,allerdingsistmirauchklar,dassdieMittedes9.Jahr-
hunderts eine andere Zeit ist als das Ende des 7.Jahrhunderts Ð aber
istderUnterschieddennwirklichsogroß?«(Birkmann2004,S.215)
Ichmöchtebehaupten, dassdieEntwicklungdesjüngeren Fuþarkswohl
einenanderenLaufgenommenhätte,wenneswirklicheinderartiges»Ru-
nensymposium« zu Anfangder Wikingerzeit gegeben hätte.Aber die Vor-
aussetzungendafür,vorallemgrammatischeGrundbildungundlateinisch-
altrunische Diglossie und Digraphie waren im entscheidenden Zeitraum
des 7.Jahrhunderts in Skandinavien wohl nicht erfüllt. Sonst hätte man
beispielsweise die ›Störfälle der Akrophonie‹ erkannt und ›Auslaufmo-
delle‹ wie die Runen w und e durch neue Runennamen mit passendem
AnlauterneutimSchriftsystemverankert:z.B.w=*walR(an.valr›Toter
auf dem Walplatz‹), oder e = *e¯l- (an. e´l ›Hagelschauer‹).3 Man bedenke
hierbei, dass die Ausmusterung der acht ›überschüssigen‹ Grapheme, zu-
letzt gund d,nachweislicheinstufenweiserProzesswar,derzunächst
zu ›partiellen Substitutionen‹ führte; vgl. in der Eggja-Inschrift (KJ 101,
um 650Ð700) la˛t mit t im Auslaut gegenüber suwima˛de, gAla˛nde mit d im
Inlaut(siehe§4unten).
Der Umstand,dass derartige Modifikationen dernordischen Überliefe-
rung gegenüber dem anglosächsischen (oder weiter gefasst anglofriesi-
schen)Fuþorcvölligausblieben,machteinebewusste›Reform‹umsoun-
wahrscheinlicher. Insgesamt muss denn auch eingewendet werden, dass
die›SkandinavischeRunenreform‹keintragfähigesArgumentdarstellt,da
as a result of a reform that reduced the number of runes from anything
betweentwenty-fourtoeighteen(Barnes1987)tosixteen«.Vgl.nochBarnesu.
Page(2006,S.51;meineHervorhebung):»Thereform wasprobablycomplete
by AD 700«. Ð Zu einem eingehenden Kommentar siehe Schulte (2006b) und
ders.(2009).
3 DabeiwäremanfreilichaufSchwierigkeitengestoßen,etwaeinenneuenRunen-
namenmitanlautendem/e/zufinden,zumalBrechungdenRunennamen*ehwaz
(an. io´r ›Ross‹) verfremdete, andererseits aber neue Umlautformen wie ælgR
(an. elgr ›Elch‹) zunächst noch anlautendes /æ/ hatten, das erst Jahrhunderte
spätereinzeldialektalmit/e/zusammenschmolz;zudiesemForschungsproblem
sieheSchulte(2006d,S.401f.).Vgl.uiArki/wærki/Dat.Sg.›Schmerz‹gegenüber
tuirk /dverg/ Akk. Sg. ›Zwerg‹ in der oben angesprochenen Inschrift von Ribe.
DemGedankenspieleines›NordischenRunensymposiums‹imSinneBirkmanns
(umoderkurzvor700)sollhierabernichtweiternachgegangenwerden.
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mit ihr im Prinzip jede Änderung des Schriftsystems ›begründet‹ werden
könnte. An sich handelt es sich um eine ad hoc-Hypothese, die weder
falsifiziert noch verifiziert werden kann. Wenn man außerdem bedenkt,
dass Reformen prozesstypologisch i.d.R. gerade in entgegengesetzter
Richtung wirken, d.h. einen Ausbau des Grapheminventars begünstigen,
verliertdieangesetzte›SkandinavischeRunenreform‹weiterhinanPlausi-
bilität.
Bezeichnend für dieheutige Forschungslage ist weiterhin,dass für die
früheWikingerzeitohneweiteresdieMöglichkeitenmodernerSprachpla-
nung vorausgesetzt werden. Beispielhaft ist die folgende Stellungnahme
vonMagnusKällström:
»Detverkarinteomöjligtattenanledningtillatden16-typigarunraden
i sin ursprungliga form har sa˚ fa˚ vokaltecken är att man med avsikt
harskapat ettskriftsystemdär dialektskillnadersuddadesut. Sa˚ länge
ordförra˚detochgrammatikenvargemensam,bordenämligenenruntext
ha varit begriplig även i omra˚den med starkt avvikande uttal.« (Käll-
ström2007,S.46)
FreilichistdieseArgumentationeherimsprachplanerischenKontextdes
19. und 20. Jahrhunderts verständlich als in einer dezentralen Gesell-
schaftsstruktur des 7.Jahrhunderts Ð man denke nur an den norwegi-
schen Sprachplaner Ivar Aasen und seine Konstruktion der zweiten nor-
wegischen Schriftsprache, des Nynorsk, die er auf der Grundlage der
(west)norwegischen Dialekte unter Berücksichtigung des Altnordischen
entwickelte. Dass diese unmittelbare Engführung beider Epochen, der
(frühesten) Wikingerzeit und der Moderne, aber einen Anachronismus
birgt,wirdallgemeinübersehen.
2.Argumentationsstrategienzur›Runenreform‹
WenndieseallgemeinenÜberlegungenansichschongegeneinenplaneri-
schen Eingriff in die nordische Runenüberlieferung um (oder kurz vor)
700n.Chr.sprechen,sogiltesimWeiteren,zweizentraleArgumenteder
Forschungkritischzubeleuchten.Diesezielenzumeinenaufdiepragma-
tischeEbene,denWandelderKommunikationsstruktur,undzumanderen
aufdierunographischenDaten,d.h.dieBedeutungeinzelnergraphischer
Subsysteme der Runenschrift für die Entwicklung des jüngeren Fuþarks.
Wie sich zeigen soll, hat keines dieser beiden Argumente per se Erklä-
rungskraftimSinneeinesPrimusmovens.4
4 Weitererunographischeundnumerisch-magischeArgumentationsstrategienwer-
den diskutiert in Schulte (2006a). Wenn wir die ›Runenreform‹ zu Beginn der
Wikingerzeitentschiedenablehnen,müssenwiralsoaufdielinguistischenFak-
torenzurückkommen;sieheunten3.1Ð3.2.
NEUEÜBERLEGUNGENZUMAUFKOMMENDESJÜNGERENFU*ARKS 233
2.1WandelderKommunikationsstruktur
OhnedenBegriffder›Reform‹inAnschlagzubringen,wertetKurtBraun-
müller in zwei methodischen Beiträgen neben dem Sprachwandel auch
denWandelkommunikativerBedürfnissealsLeitprinzipderUmgestaltun-
gen (siehe Braunmüller 1998, 2002). Braunmüller zufolge ist die Verferti-
gunglängererhistorischer InschriftenalszentralerFaktor dieses»geziel-
tenEingriffe[s]«(Braunmüller1998,S.19)einzustufen:
»WennsowohleinesystematischewiegraphematischeReduzierungdes
Alphabets als Ausgangspunkt für diese Umstrukturierung in Frage
kommt, die teils durch Sprachwandelprozesse [...], teils durch andere
kommunikativeBedürfnisse(VerfertigunglängererhistorischerIn-
schriften) bedingt wurde, wird klar, daß diese Gebrauchsschrift maxi-
mal vereinfacht werden mußte, wenn sie weiterhin praktikabel sein
sollte.«(Braunmüller1998,S.19;meineHervorhebung)
»Allfurtherrestructuringsoftheolderfutharkcanbeinterpretedas
typological simplifications,probably along with aconsiderable change
inthecommunicative purposes oftherunicscriptwhichwasused
toproduce longerinscriptions (mostlyinstone) withnarrative/histori-
calmessages.«(Braunmüller2002,S.651;meineHervorhebung)
Wenn man indes bedenkt, dass es auch ältere Inschriften mit längeren
(teils historisch-narrativen) Texten gibt, so verliert diese Annahme so-
gleich an Überzeugungskraft; vgl. den Stein von Tune (Knirk 2006), die
Gruppe der Blekinger Inschriften (Williams 2001) und nicht zuletzt die
Steinplatte von Eggja mit kaum weniger als 200 Runen (Høst 1986; siehe
§4unten).SchwererindeswiegtderEinwand,dassgeradedas8.Jahrhun-
dert in runologischer Sicht eine extrem fundarme Periode darstellt, die
wohlauch inZukunft nursporadisch durchNeufunde bereichertwerden
wird.5 Diese Belegsituation gilt zumindest für Norwegen und Schweden
(zur dänischen Überlieferungslage siehe Stoklund 2006). Weiterhin argu-
mentiert Braunmüller (1998, S.19f.; meine Hervorhebung), dass »[a]lle
diese gezielten Eingriffe in ein bestehendes Schriftsystem [...] wie-
derumfundierteslinguistischesWissenvoraus[setzen],dasmansichnicht
ohneirgendeineFormvonSchulungerworbenhabenkann«.
Letzteresmöchteichstarkbezweifeln.Braunmüllerverweistindiesem
ZusammenhangaufKarinFjellhammerSeimsArbeitenzudenRunensylla-
barien des Mittelalters (Seim 1991, 1998, vgl. auch Knirk 1998). Es darf
aber nicht übersehen werden, dass die digraphisch lateinisch-runische
Schriftkultur desMittelalters nicht mitder schriftkulturellenSituation zu
5 EineindrucksvollesBeispielbietetjüngstderNeufundvonSkei:einebronzene
SchöpfkellemitRuneninschrift,dieum800n.Chr.datiertwird.SieheHagland/
Stenvik(2008).
234 MICHAELSCHULTE
BeginnderWikingerzeit(um700n.Chr.)gleichgesetztwerdendarf.6Dass
die reduktive Entwicklung des nordischen Fuþarks auf »fachlichem Wis-
sen«beruht,wieBraunmüller(1998,S.19)annimmt,dürftedaherhöchst
fraglichseinundderGesellschaftsstrukturÐd.h.imAllgemeinendezent-
ralen Strukturen Ð Skandinaviens im 6. und 7.Jahrhundert nicht gerecht
werden(vgl.unten3.1).
Allgemein wird vonder Forschung übersehen, dassder Übergang zum
jüngerenFuþarkeinenanderenProzesstypdarstelltalsbeispielsweisedie
Reformbestrebungen des Ersten Grammatikers im isländischen Kontext
des 11.Jahrhunderts. Dieser ›extensive‹ Reformtyp wird übrigens auch
anhand der Reformansätze des Merowingerkönigs Chilperich klar, wozu
Bischoff(1990)imkontinentalenZusammenhangfolgendesanmerkt:
»Themasteryofwriting,however,alsoextendedintheseventhcentury
to the Merovingian aristrocracy, and the kings signed their diplomas
themselves. King Chilperich (561Ð84) even concerned himself, like a
second Claudius, with the reform of the alphabet, inserting the letters
Θ, Ψ, Z, Δ, according to the manuscript, (for the sounds w (long-o),
ae, the, and wi; cp.the wyn-rune), and promoting their use. We learn
thisfromthesardonicreportofGregoryofTours(Hist.Franc.V44).«
(Bischoff1990,S.194)
Der typologische Zusammenhang des extendierenden anglofriesischen
FuþorcmitdenReformbestrebungendesChilperichunddesErstenGram-
matikers erscheint aus meiner Sicht unbestreitbar; in allen drei Fällen
handeltessichumbewussteErweiterungenderSchriftaufderGrundlage
einesfremdenAlphabets(derlateinischenSchriftimFallederanglofriesi-
schenRunenreihenundderErstenGrammatischenAbhandlung,dergrie-
chischen Schrift im Falle der merowingischen Schriftreform). Diese Er-
weiterungsprozessesindtypologischabernichtmitdemSchrumpfendes
jüngerenFuþarkszuvergleichenÐebenweilhierschriftgeschichtlichder
EinflusseinesfremdenAlphabetsausbleibt.
2.2Kurzzweig-undLangzweigrunen
Entscheidend für die Beurteilung der Fuþark-Problematik ist weiterhin
die Frage, wie die Relation verschiedener Subsysteme, vornehmlich der
6 DieundifferenzierteGleichsetzungverschiedenerZeit-undSprachräumeistmei-
nesErachtensdergrößteSchwachpunktimkontaktlinguistischenAnsatzBraun-
müllers; vgl. Schulte (2005) gegenüber Braunmüller (2004). Ð In keinem Fall
kann die skandinavische Situation mit der ›Importschrift‹ des Fuþorc auf den
Britischen Inseln verglichen werden; vgl. Page (1999, S.19f.). Zur Digraphie
sieheauchBarnes/Page(2006,S.91):»IntheBritishIslesandIrelandtherewere
threedistinctwritingsystemsinuseduringtheVikingAgeandtheearlyMiddle
Ages:ogam,romanandrunic.«
NEUEÜBERLEGUNGENZUMAUFKOMMENDESJÜNGERENFU*ARKS 235
Kurz-undLangzweigrunenzuerklärenist,undwiesichdiesebeidenGra-
phemsysteme chronologisch zueinander verhalten. Typologisch bereitet
die Einteilung zwischen Kurz- und Langzweigrunen im Prinzip keine
Schwierigkeiten(vgl.Schema2unten).KlausDüwelmerktallerdingskri-
tischan:
»FormtypologischscheinendieLangzweigrunenälteralsdieKurzzweig-
runen,undunterdiesenwiederumgiltTypA(Rök-Runen)alsdertypo-
logisch ältere, allerdings wird in neuerer Zeit beides in Frage gestellt
(z.B.Barnes1987,S.42ff.).Damitistabernochnichtsüberdaszeitliche
Früher oder Später einer der beiden Reihen gesagt. Die Entscheidung
darüber ist auch eine Frage der Definition, was Langzweigrunen (im
VergleichzumälterenFuthark)sind,undhängtnichtzuletztvondenin
der Forschung jeweils zugrundegelegten, zum Teil weiten Datierungen
(sogarDatierungsspielräumen)ab[...].«(Düwel2008,S.92)
IndenachtzigerJahrenhattenAslakLiestølundMichaelBarnesdenzen-
tralen Status der Kurzzweigrunen für die Reduktion der älteren Runen-
reihe hervorgehoben (siehe Liestøl 1981a,1981b, Barnes 1987). In seinen
späteren Arbeiten hat Barnes seine ursprüngliche These selbst revidiert
(siehev.a.Barnes1998u.2006).GegendiezentraleStellungderKurzzwei-
grunen sind verschiedene Ð insbesondere schriftgeschichtliche Ð Ein-
wändegeltendzumachen(Schulte2009).DievielfachbezeugtenInterims-
systemeundMischreihenvonKurz-undLangzweigrunen,nichtzuletztdie
»älteren ›norwegischen‹ Runen« sprechen meines Erachtens unmittelbar
gegenLiestølsundBarnes’These(sieheuntenSchema2;zudiesenMisch-
reihen vgl. Seim 2007, S.182f.).7 Darüber hinaus kann diesem Ansatz ein
Anachronismusbescheinigtwerden,zumaldasjüngereFuþarkbereitsmit
der Ribe-Inschrift(stratigraphische Datierungum 720Ð725n.Chr.) inEr-
scheinung tritt. Dies hat natürlich auch Michael Barnes anerkannt, ohne
allerdingsdasReformmodellaufzugeben:
»But most crucial: the younger fuþark is already in evidence on the
Ribe cranium (where, for example, t denotes /t/ and /d/, k/k/ and /g/,
[θ] and [ð]; cf. Stoklund 1996:207Ð8, Barnes 1998:450; Grønvik
2001:61Ð2), and that inscription has been placed within the fairly nar-
row range of years 717Ð30 on the basis of the dendrochronological
datingofthelayersinwhichitwasdiscovered[...].«(Barnes2003,S.55)
InjüngererZeithatBarnesweiterhinbetont,dassdietypologischeUnter-
scheidungzwischenKurz-undLangzweigrunenÐwieüberhauptdieExis-
tenz von Standard-Runenreihen oder »Lehrbuch-Futharken« (Seim 2007,
S.182) Ð eine moderne Abstraktion ist, die von Schreibtischrunologen
erdacht wurde (Barnes 2006). Barnes muss aber in Kauf nehmen, dass
7 DurchaushäufigbegegnenMischsystemeindennorwegischenRuneninschriften
derWikingerzeit,z.B.N251.
236 MICHAELSCHULTE
damit gleichzeitig seine ursprüngliche These, die Kurzzweigrunen seien
als Ausgangspunkt der Reform (oder wenigstens als zentrale Formreihe)
zubetrachten,weiteranSchlagkraftverliert.
Aus meiner Sicht verhält es sich denn auch diametral umgekehrt: Ein
graphisch vereinfachtes System wie die Kurzzweigrunen (und die stab-
losen Runen vom Hälsinge-Typ; vgl. Peterson 1994, Fridell 2000) gründet
aufdernumerischenReduktiondesGrapheminventarsvonvierundzwan-
zigaufsechzehnRunen.HierbeiliegteindeutigdasVerhältnisvonUrsache
und Wirkung vor. Denn ein System mit vierundzwanzig Zeichen benötigt
naturnotwendig eine größere Anzahl distinktiver graphologischer Merk-
malealsein16-Zeichen-System.MitanderenWorten,nachderReduktion
des Zeicheninventars des älteren Fuþarks können die graphologischen
DistinktionenbiszueinemgewissenGradungehindertabgebautwerden,
ohne dassGraphemeihrekontrastivenMerkmaleverlieren.Unddiesge-
schieht zwangsläufig im Zuge des Ökonomiestrebens der Schrift, noch
gefördertdurchErleichterungenbeimaufwendigenSchreibprozessinteils
hartenMaterialienwieHolzsowiebesondersSteinundMetall.
Alle Vereinfachungen des runischen Schriftsystems sind aus meiner
Sicht als direkte bzw. indirekte Reaktion auf den Sprachwandel der
Übergangszeitzuinterpretieren.AlsMotorvonReduktionenscheidengra-
phische Prozesse völlig aus. Dieser elementare Sachverhalt kann anhand
derfolgendenGegenüberstellungvonvierabstrahiertenRunenreihenver-
anschaulichtwerden:Schema1:IdealisiertesGraphemsystemdesälteren
24-Zeichen-Fuþarks, Schema 2: Jüngere 16-Zeichen-Systeme: 2.1. Kurz-
zweigrunen,2.2.Langzweigrunenund2.3.sog.›älterenorwegischeRunen‹.
Schema1: 24-Zeichen-System:IdealisiertesälteresFuþark8
8 NachAntonsen(1975,S.8).
NEUEÜBERLEGUNGENZUMAUFKOMMENDESJÜNGERENFU*ARKS 237
Schema2: 16-Zeichen-System:IdealisiertesjüngeresFuþarkÐ
2.1.Kurzzweigrunen,2.2.Langzweigrunenund2.3.diesog.݊lteren
norwegischenRunen‹(vonobennachunten)9
EntgegenLiestøl(1981a,1981b)undBarnes(1987)ermöglichterstdieReduk-
tion des Zeicheninventars den Verlust distinktiver graphologischer Merkmale
unddamitdietypologischeVereinfachung,welchezurEntwicklungderKurz-
zweigrunennebstderstablosenRunenführt(Schema2.1.oben;zudenstablo-
senRunensiehePeterson1994).KurzzweigrunenfungiereninkeinemFallals
PrimusmovensdesSchriftwandels,vielmehrsindsiedasProdukteinerfolge-
rechten Entwicklung.DiegegenteiligeAnnahmeerweistsichnichtzuletztim
Hinblick auf die Beleglage als anachronistisch: Kurzzweigrunen sind deutlich
späterbezeugtalsLangzweigrunen(vgl.etwaFridell2000,Barnes2001,2006).
InseinenspäterenArbeitenhatBarnesseineTheseindiesemPunktrevidiert
(sieheBarnes1998,2006).ImjüngerenFuþarkbestehtalsokeinBedarfmehr
für die aufwendigen Distinktionen der älteren vierundzwanziger Runenreihe.
Damit bleibt nunmehr vorrangig zu klären, wie die Reduktion der Konsonan-
tengraphemeg undd motiviertist,daihrWegfalldasSchicksaldesälteren
Fuþarks endgültig besiegelt (siehe unten §3.2). Doch zuvor soll eine weitere
GrundthesezumWandelderRunenschriftangesprochenwerden.
2.3TypologischeReduktionundmaximaleKontraste
DerHauptstromderForschungbetontdasZusammenwirkendertypologi-
schenReduktionmitdergraphischenVereinfachungvonRunenformenals
Leitprinzip derUmgestaltung. Dabeiwird kaumbedacht, dassSchriftsys-
teme gewöhnlich konservativ sind, so dass diese Entwicklung massive
Einwirkungen und Systemzwänge voraussetzt. Beispielsweise kommt die
folgende Stellungnahme von Michael Barnes kaum über die deskriptive
Ebenehinaus:
»Theyoungerfuþarkincomparisonwiththeolderischaracterizedby
havingfewerrunesandsimplerrunes,andtheeliminationoftheopposi-
tions : , : , : , together with or followed by the creation of the
short-twig alphabet with its system of minimal contrasts, consti-
tutes our earliest plausible evidence of conscious reform with re-
duction and simplification as its guiding principles.« (Barnes 1998,
S.450;meineHervorhebungen,M.S.)
Wie wir sehen, wird die Kombination typologischer und graphischer Ver-
einfachungeninVerbindungmitder›Runenreform‹alsentscheidendesEr-
9 NachSeim(2007,S.183).
238 MICHAELSCHULTE
klärungsmodell beansprucht. Gerade aberdas Schädelfragment von Ribe
(schon um 725) mit seinem auf 15 Runen reduzierten Grapheminventar,
weist in typologischer Sicht noch ältere Runenformen für h, m, A
auf.10AusmeinerSichtsindgraphischerWandelundGraphemverlustent-
gegenallgemeinerStellungnahmenichtunbedingtdirektgekoppelt.11Ein
wesentlicher Zusammenhang, der mir zwingend erscheint, ist, dass ein
16-Zeichen-SystemsichnaturnotwendigingraphischerSichteinfacherge-
staltetalsein24-Zeichen-System,waskonkretbedeutet,dassrunographi-
sche Vereinfachungen dem Graphemverlust nachgeordnet sind (vgl. §2.2
oben).
Wie bereits betont wurde, strebt die Schrift nicht ohne weiteres nach
einem ›System minimaler Kontraste‹, wie sie das jüngere Fuþark vor der
Einführung der punktierten Runen darstellt. Dieser Schwachpunkt, der
besonders der Arbeit von Jørgen Rischel (1967/68) anhaftet, sofern sie
Erklärungsstatus beansprucht, wurde mehrfach von der Forschung her-
vorgehoben (vgl. Barnes 1987, Schulte 2006a). Abschließend liefert diese
Beschreibungsgrundlage über den rein deskriptiven Ansatz hinaus keine
diachronenGesichtspunkte,dieeinenKausalnexuserhellenkönnten.Wie
istdieseBredouillezulösen?
3.EinintegralerNeuansatz:Schriftwandel›vonunten‹
Wie kann eine Schriftgeschichte ›von unten‹ konkret Form annehmen?
Spätestens mit den Arbeiten von Liestøl und Barnes wurden phonologi-
scheFaktorenaufdenPlangerufen,diedenVerlustvonVokal-undSemi-
vokalzeichen plausibel machen (vgl. §3.1 unten).12 Dagegen hat sich die
Forschung schwer getan, den Verlust der Konsonantengrapheme g und
d zu begründen. Nach der Erörterung des Vokalbereichs stellt Michael
BarnesernüchtertzumVerlustderKonsonantengraphemegunddfest:
»No such considerations apply to and , however, and that is why I
assumeabovethattheyweredeliberatelyeliminatedaspartofacon-
sciousreformofthefuþarkÐhencetheirimportanceandtheimport-
10 Zur Ribe-Inschrift siehe besonders Stoklund (1996, S.201Ð203, 205; 2003,
S.555Ð558; 2004, S.31; 2006, S.365f.), dazu Grønvik (2001, S.61f.), Barnes
(2003, S.55) und Schulte (2006a, S.48); vgl. außerdem Källström (2007, S.50,
63).
11 SieheSchulte(2006a,S.49),ders.(2008,S.86);vgl.dazuauch§2.2oben.
12 Liestøl (1981a, 1981b) und Barnes (1987); siehe weiterhin Bord (1997) und
Schulte(2004,2006a,2006b)mitumfassendenLiteraturangaben.