Table Of ContentNeue Schulen für die Kids
Reihe Schule und Gesellschaft
Herausgegeben von
Franz Hamburger
Marianne Horstkemper
Wolfgang Melzer
Klaus-Jürgen Tillmann
Band 19
Franz Hamburger/
Gerhard Heck (Hrsg.)
Neue Schulen für die Kids
Veränderungen
in der Sekundarstufe I
in den Ländern
der Bundesrepublik Deutschland
Unter Mitarbeit von
Frauke Choi, Felicia Lauer
und Till-Sebastian Idel
Leske + Budrich, Opladen 1999
Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier.
ISBN 978-3-8100-2137-3 ISBN 978-3-322-97417-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-97417-4
© 1999 Leske + Budrich, Opladen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt
Franz Hamburger / Gerhard Heck
Zwischen produktiver Vielfalt und neuer Unübersichtlichkeit -
eine Bestandsaufnahme der Veränderungen in der
Sekundarstufe I ............................................................................. 7
Berichte und Analysen über Bundesländer
Joachim Rippel
Der bildungspolitische (,,historische") Kompromiß -
die Erweiterte Realschule im Saarland......................................... 25
Hermann L. Gukenbiehl / Holger Mahr-George
Die Regionale Schule in Rheinland-Pfalz..................................... 37
Christa Lampe
Sekundarschulen in Niedersachsen -
ein Bericht zum Stand des Schulversuchs. .. ............... ......... .......... 57
Behörde fir Schule, Jugend und Beruftbildung der Freien und
Hansestadt Hamburg
Erster Zwischenbericht über den Schulversuch "Integrierte
Haupt-und Realschule" ............................ ....... .......... .............. ..... 73
Horst Weishaupt / Monika Plath
Die Regelschule in Thüringen - Entwicklungsstand und
Perspektiven..................................... .... ....... ............... ....... ............ 93
Adolf Wagner
Die Gestaltung der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt............. ... 111
Marita Leonhardt-Runck / Dorit Stenke
Die Mittelschule in Sachsen - 125
eine entwicklungsoffene Schule .................................................. .
Wolfgang Melzer
Funktion, wissenschaftliche Erträge und bildungspolitische
Konsequenzen eines Modellversuchs zur Mittelschule im
Freistaat Sachsen........................................................................... 137
Berichte und Analysen über Einzelschulen
LotharSack
Die Fritz-Karsen-Schule - eine Gesamtschule mit Grundstufe
und gymnasialer Oberstufe in Berlin-Neukölln ..... ..... ....... ....... .... 159
Armin Lohmann
Pädagogische Ansprüche an eine Schulentwicklung:
"Wir nehmen unsere Schiller ernst!" ............................................ 173
Myrle Dziak-Mahler
Ein Kölner ,,Dauermodell" - oder: Der permanente Versuch,
fächerintegriert zu denken und zu handeln................................... 183
Till-Sebastian Idel
Integrierte Schul entwicklung auf dem Lande -
das Schulmodell Rockenhausen in Rheinland-Pfalz..................... 203
Autorinnen und Autoren .............. ....... ........ ....... ....... ..... ....... ..... ... 225
Franz Hamburger / Gerhard Heck
Zwischen produktiver Vielfalt und neuer
Unübersichtlichkeit -
eine Bestandsaufnahme der Veränderungen
in der Sekundarstufe I
Nach einer Phase der Systemkonkurrenz ist es lUll die Sekundarstufe I ruhiger
geworden. Zwei Jahrzehnte lang hat der Streit lUll das dreigliedrige Schu1-
wesen und die strukturelle Alternative der Gesamtschu1e die Diskussion über
die Gestaltung der Sekundarstufe I bestimmt, bevor es Ende der 80er Jahren
still wurde lUll Schu1refonn und Bildungsbewegung. Selbst die wenigen Alter
nativschu1en fmden kein öffentliches Forwn mehr. Als bescheidenes Ergebnis
eines langen Bemühens lUll ein nicht-segregierendes Schulwesen kann die
Förderorientierung in der Jahrgangsstufe 5 und 6 festgehalten werden; in zwei
Bundesländern hat diese Gemeinsamkeit immerhin die Qualität einer sechs
jährigen Grundschu1e erreicht.
Zu Beginn der 90er Jahre zeigte sich ungeachtet der schulpolitischen Ko
lonisierung der neuen Bundesländer, daß das Einfrieren von Schu1refonn, ins
besondere der Entwicklungsstillstand für Gesamtschulen, keine langfristig tra
gende Strategie sein sollte. Von dieser Einsicht blieben freilich die Länder
Bayern und Baden-Württemberg gänzlich verschont.
Der Blick auf diese zwei Jahrzehnte öffentlicher Auseinandersetzung
über die Institution Schu1e darf nicht dazu verleiten, die langfristigen
bildungspolitischen und refonnpädagogischen Diskussionsprozesse zu über
sehen. Zwar hat tatsächlich eine bestimmte Zeit lang die Diskussion Gesamt
schule versus Dreigliedrigkeit die Aufinerksamkeit und die refonnorientierten
Veränderungsmotive gebündelt, die gesellschaftspolitischen Akzente von
Schulrefonn wiederentdeckt und schließlich zu einem Gegeneinander von A
und B-Ländern geführt. Aber die Diskussion lUll die strukturellen Verände
rungsnotwendigkeiten der Sekundarstufe I bewegten sich freilich in einem
zeitlich größeren Zusammenhang.
Die Sekundarstufe I: Ein bildungspolitischer Dauerbrenner
Seit Beginn der 60er Jahre hat in der BRD in einer bestimmten Konstellation
demographischer und ökonomischer Krisenbedingungen, Überfiillungsäng
sten und politischer Selektionskritik eine Debatte über Fonnen einer integrier-
7
ten Sekundarstufe I stattgefunden, die andere Akzente setzte als jene z.B. um
die Einheitsschule am Ende der Weimarer Republik (Leschinsky 1978).
Schon 1963 hat dann Heinrich Roth darauf hingewiesen, daß das Ver
künunern der "Volksschule" zur ,,Restschule" vorhersehbar sei und hat des
halb fiir eine Integration von Volks- und Mittelschule (heute Realschule)
plädiert (vgl. Roth 1963 und Herrlitz 1981). Neben der gesamtschulischen
Integration der Sekundarstufe I ist also die Zweigliedrigkeit als Alternative
zur Dreigliedrigkeit schon eine frühe Diskussionsvariante gewesen. In der
Konfrontation der Gesamtschuldiskussion hat Klaus Hurrelmann ebenfalls
schon früh, nämlich 1980, den Vorschlag gemacht, die Konfrontation
zwischen Dreigliedrigkeit und Integration durch die Zweigliedrigkeit zu ver
ringern und damit die bildungspolitische Blockierung auflösen zu können
(Hurrelmann 1980). Hurrelmann hat die Diskussionslinie weiter verfolgt und
in den Thesen von 1988 argumentativ ausgebaut. Die Auseinandersetzung,
die sich über diese Thesen anschloß, war im wesentlichen eine Diskussion,
die die Zweigliedrigkeit ausschließlich im bildungspolitischen Anspruchs
rahmen der vollständigen Integration der Sekundarstufe I problematisierte -
der Titel eines Herrlitz-Aufsatzes aus dem Jahre 1981 bringt dies deutlich
zum Ausdruck. Erst in den 90er Jahren wird die Zweigliedrigkeit sowohl als
Alternative zur Drei- als auch Viergliedrigkeit diskutiert, was ihre Reform
aspekte besser in den Vordergrund treten läßt.
Zunächst aber stand die Diskussion der Hurrelmannschen Thesen im
Vordergrund (zusammenfassend Bradtke 1995), wobei neben dem Zuge
ständnis von ,,Realitätsplausibilität" und pragmatischer Durchsetzbarkeit die
Warnungen vor einem Zweiklassensystem dominierten. Die Argumentation
von Andreas Gruschka und Günter Rüdell (1988) verdeutlichte diese Ein
wände besonders von den Implikationen und Folgen einer nicht integrierten
Sekundarstufe 11 her, während Klaus Klemm und Hans-Günter Rolff (1988)
von der Aufteilung des Schulwesens in zwei Wege nach der 4. Grundschul
klasse schwerwiegende Belastungen gerade der Grundschule im Sinne eines
forcierten Selektionsdruckes erwarten.
Im Vorgriff auf die ProblemsteIlen der gegenwärtigen Entwicklung lassen
sich diese Argumente reaktualisieren, weil die Ausgestaltung der Sekundar
stufe 11 im Anschluß an integrierte oder teilintegrierte Sekundarstufen I
tatsächlich erneut zum Problem wird (vgl. Idel in diesem Band) und in den
regionalen bzw. lokalen Auseinandersetzungen die Konkurrenz um die Über
gänger aus der Grundschule die zeitweilige öffentliche Auseinandersetzung
bestimmt, wobei die quantitativ erheblich ausgeweitete Realschule (Rösner
1998), wo sie weiter selbständig existiert, zum Motor der Konkurrenz wird.
Die erziehungswissenschaftliche Diskussion befaßte sich aber nicht nur
mit den konzeptionell-strukturellen Fragen, sondern registrierte empirische
Entwicklungen (beispielsweise in den Jahrbänden der Schulentwicklung) und
diagnostizierte die strukturellen Probleme, die sich aus der bildungspoliti
schen Blockade auf Bundesebene ergaben (vgl. Arbeitsgruppe Entwicklung
8
des Bildungswesens 1992; der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen,
daß die Diskussion um Schulversuche typischerweise auch in anderen früh
und hoch selektiven Bildungssystemen stattfindet - zu Österreich vgl. Erzieh
ung und Unterricht, Heft 1 + 2/1998).
Zwar hat die Expansion der Bildungsbeteiligung, der Abbau von ge
schlechtsspezifischen und regionalen Besonderheiten die Differenzierung der
Bildungsgänge, die Professionalisierung der Lehrerausbildung und die Mo
dernisierung der Curricula eine Reihe von alten Problemen der Sekundarstufe
I gelöst, aber ein Teil der alten Probleme ist geblieben und neue sind entstan
den. So ist die Durchlässigkeit innerhalb der Sekundarstufe I noch immer
ebenso ein Strukturproblem wie die Förderung leistungsschwacher Schü1er in
allen Sekundarstufe I-Formen und die regionalen Ungleichheiten ihrer Wahl
möglichkeiten. Hinzu kommen die steigenden und zugleich sich wandelnden
Anforderungen des technologisierten Beschäftigungssystems und des Lebens
in einer modernisierten Informationsgesellschaft. Da mit der Wahl der Schul
laufbahn unterschiedliche Chancen verbunden sind, diese neuen Anforderun
gen aktiv zu bewältigen, entstehen neue Disparitäten, die mit dem Schulange
bot in der Sekundarstufe I unmittelbar zusammenhängen. Dies ist um so pro
blematischer, weil als zentraler Auftrag der Sekundarstufe I die Sicherung
einer auf Leben, Berufsausbildung und Weiterbildung bezogenen Grundbil
dung bestimmt werden kann.
Aus dieser Analyse ergibt sich ein komplexes Schulreformprogramm, das
daraufhinauslaufen soll,
"den Streit um die flächendeckende Einführung der Gesamtschule oder die Beibehal
tung des dreigliedrigen Schulwesens zu beenden,
der Entstehung neuer Disparitäten vorzubeugen und bestehende abzubauen,
der Entwicklung und Erprobung flexibler Organisationsformen im Bereich der Sekun
darstufe I besondere Aufmerksamkeit zu widmen,
sich auf ein verbindendes Konzept von Grundbildung in der Sekundarstufe I zu ver
ständigen,
den Gestaltungsspielraum der einzelnen Schulen stärker an pädagogischen Ansprü
chen auszurichten und diesen gemäß zu erweitern und
Einsichten erziehungswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung fiir bildungs
politische Entscheidungsprozesse stärker in Anspruch zu nehmen" (Arbeitsgruppe
Entwicklung des Bildungswesens 1992).
Die neue Schulreformbewegung und ihre Grenzen
Die erziehungswissenschaftliche Debatte hat sich nun seit Anfang der 90er
Jahre mit praktischen Veränderungstendenzen überschnitten bzw. beide Ent
wicklungen haben sich wechselseitig beeinflußt und die Qualität einer "Schul-
9
reformbewegung" angenommen. Diese neue "Schulreformbewegung" hatte
verschiedene Ursachen:
Dem Beitrittsgebiet konnte nicht umstandslos nur das westdeutsche
Schulwesen aufgepfropft werden, obwohl dort der Übergang von einer inte
grierten Sekundarstufe I zu gegliederten Schulformen sogar weitgehend selbst
vollzogen wurde. Auch gab es manche Überlegungen, im östlichen ,,Neuland"
auch etwas Neues zu beginnen und nicht mit dem westdeutschen Schulwesen
auch dessen Blockaden zu übernehmen.
Eine weit mobilisierendere Entwicklung ist demographischer Natur. Der
Rückgang der Schülerzahlen im ländlichen Raum stellt die Schulverwaltung
und -politik vor Dauerprobleme, ein differenziertes und zugleich wohnort
nahes Schulangebot zur Verfiigung zu stellen. Ein stark gegliedertes Schul
wesen wird für die regionale Schulökonomie zum Hemmschuh.
Die gesellschaftspolitischen Motive, die für die frühe Gesamtschul
diskussion relevant waren, sind für die Bildungspolitik schon längere Zeit dis
kreditiert. Dennoch haben auch sie Anregung in erstarrte Schullandschaften
gebracht, wo - wie bspw. in Rheinland-Pfalz - eine langjährige christdemo
kratische parteipolitische Dominanz durch einen Regierungswechsel 1992 be
endet wurde.
Doch dürften im Vergleich für das Bedingungsgefüge der Schulreform
der 90er Jahre die sozialkulturellen Veränderungen mehr Gewicht haben. Das
dreigliedrige Schulwesen paßte in gewisser Weise in die ideologische Be
gründung einer Gesellschaftsordnung, die sich in Unter-, Mittel- und Ober
schicht aufteilen ließ und kam dem Ordnungsmodell für die Strukturierung
der Arbeitswelt entgegen. Mitte der 50er Jahre formulierte der Pädagoge
Heinrich Weinstock die klassische Legitimationsformel:
"Dreierlei Menschen braucht die Maschine: Den, der sie bedient und in Gang hält; den, der
sie repariert und verbessert; schließlich den, der sie erfindet und konstruiert ... Die richtige
Ordnung der modernen Arbeitswelt gliedert sich in drei Hauptschichten: Die große Masse
der Ausführenden, die kleine Gruppe der Entwerfenden und dazwischen die Schicht, die
unter den beiden anderen vermittelt. D.h.: Die einen müssen anordnen und verordnen, die
anderen müssen den OrdnunBsgedanken ausfUhren; aber damit das ordentlich geschieht,
muß eine dritte Gruppe den übergang vom Gedanken zur Tat, von der Theorie zur Praxis
vermitteln ...
Die ersten müssen zuverlässig antworten, die dritten selbständig fragen können; die
Mittelschicht aber ist dafUr verantwortlich, daß die Fragen der einen von den anderen
richtig verstanden werden ... Was ergibt sich aus dieser Struktur unserer modemen Arbeits
welt fiir den Aufbau unseres Bildungswesens? Offenbar verlangt die Maschine eine dreige
gliederte Schule: Eine Bildungsstätte fiir die Ausführenden, also zuverlässig antwortenden
Arbeiter, ein Schulgebilde fiir die verantwortlichen Vermittler und endlich ein solches fiir
die Frager, die sogenannten theoretischen Begabungen" (Weinstock 1955).
Die Gesamtschulbewegung begleitete programmatisch die (begrenzte) Auflö
sung dieser Struktur, war dann allerdings dem Auseinanderdriften in hetero
gene Lebenslagen und ihren differenzierten sozialkulturellen Milieus, die den
alten Schichtstrukturen nicht so unähnlich sind, nicht gewachsen. Die Plurali-
10