Table Of ContentNationalitätenprobleme
in Südosteuropa
herausgegeben von Roland Schönfeld
mit Beiträgen von
Aurel Braun · Georg Brunner
Dionisie Ghermani · Wolfgang Höpken
Marvin Jackson · Bennett Kovrig
Paul Lendvai · Viktor Meier
Boris Meissner · Pedro Ramet
Jens Reuter · Gerhard Seewann
Kathrin Sitzler · Stefan Troebst
R. Oldenbourg Verlag · München 1987
Ein Teil der in diesem Band in erweiterter und aktualisierter Form veröffentlichten Beiträge
ist bereits in der Monatsschrift des Südost-Instituts SÜDOSTEUROPA Jahrgänge 35 (1986)
und 36 (1987) erschienen.
© 1987 Südost-Institut, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die
der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechani
schem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungs
anlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, Vorbehalten. Werden mit schriftli
cher Einwilligung des Südost-Instituts einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche
Zwecke hergestellt, ist an das Südost-Institut die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergü
tung zu entrichten, über deren Höhe das Südost-Institut Auskunft gibt.
Druck: Druckerei Appl, Wemding
ISBN 3-486-52261-2
Vorwort
In der Reihe ihrer Symposien zur Gegenwartsforschung veranstalteten das
Südost-Institut und die Südosteuropa-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit
dem Arbeitskreis für Regional- und Nationalitätenprobleme in der Sowjet
union, Ostmittel- und Südosteuropa am 12. und 13. März 1986 in den Räumen
der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in München ein internationales Sym
posion über „Nationalitätenprobleme in Südosteuropa“. Dieses Symposion war
die erste internationale wissenschaftliche Fachtagung zu diesem Thema in der
Bundesrepublik Deutschland. Das bedeutende Interesse in der Wissenschaft
und der erhebliche Widerhall in den Medien haben uns ermutigt, die aufgrund
der Diskussion überarbeiteten und aktualisierten Referate in unserer Schriften
reihe zu veröffentlichen. Ziel dieser Publikation ist es, einen Beitrag zur Dis
kussion neuester Forschungsergebnisse und zum fortgesetzten Gedankenaus
tausch über dieses Thema zu leisten.
Die Aktualität des behandelten Themas bedarf keiner Erläuterung. Die zuneh
mende Verschärfung der Nationalitätenkonflikte im südosteuropäischen Raum
vermehrt die Bedeutung dieser Region als weltpolitischer Krisenherd. Streitig
keiten um Fragen der ethnischen Zugehörigkeit, nationale Egoismen, die De
montage von Minderheitenrechten und die Sorge um die in den Nachbarstaa
ten lebenden Angehörigen des eigenen Volkes bergen beträchtlichen außenpo
litischen Sprengstoff. Eine intensive Analyse dieser Problematik ist daher nicht
nur von wissenschaftlicher, sondern auch von beträchtlicher politischer Bedeu
tung.
Den Mitarbeitern dieses Bandes, der Stiftung Volkswagenwerk für großzügige
finanzielle Unterstützung, der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung für be
währte Gastfreundschaft und, nicht zuletzt, der Sekretärin der Abteilung Ge
genwartsforschung im Südost-Institut, Frau Hiltrud Pfeiffer, für ihre Mühe bei
der Vorbereitung des Symposions wie auch dieser Veröffentlichung sei an die
ser Stelle herzlich gedankt.
Dr. Roland Schönfeld
Inhalt
Vorwort.................................................................................................................. 5
Boris Meissner
Die „nationale Frage“ in marxistischer und leninistischer Sicht................. 9
Paul Lendvai
Nationalismus in Ost- und Südosteuropa - Nicht nur Gefahr, sondern
auch Stütze für die sowjetische Hegemonie.................................................. 33
Georg Brunner
Die Rechtsstellung ethnischer Minderheiten in Südosteuropa................. 39
Marvin Jackson
Changes in Ethnic Populations of Southeastern Europe: Holocaust,
Migration and Assimilation - 1940 to 1970 .................................................. 73
Pedro Ramet
Theoretical Models of Yugoslav Nationalities Policy.................................. . 105
Viktor Meier
Bosnien und seine Muslime als Sonderproblem des Vielvölkerstaates . . . 125
Jens Reuter
Die albanische Minderheit in Jugoslawien...................................................... 133
Kathrin Sitz/er
Die ungarische Nationalitätenpolitik der letzten Jahre - konstante
Prinzipien bei modifizierter Praxis?................................................................ 149
8
Inhalt
Gerhard Seewann
Zigeuner in Ungarn........................................................................................... 165
Aurel Braun
Structural Change and its Consequences for the Nationalities in Romania 181
Dionisie Ghermani
Die historische Legitimierung der rumänischen Nationalitätenpolitik . . . 197
Bennett Kovrig
The Magyars in Rumania: Problems of a „Coinhabiting“ Nationality . . . 213
Stefan Troebst
Zum Verhältnis von Partei, Staat und türkischer Minderheit in Bulgarien
1956-1986 ........................................................................................................ 231
Wolfgang Höpken
Modernisierung und Nationalismus: Sozialgeschichtliche Aspekte der
bulgarischen Minderheitenpolitik gegenüber den Türken ......................... 255
Bibliographie ausgewählter, insbesondere neuerer Arbeiten zum Thema
Jozo Dzambo,
Nationalitäten in Südosteuropa. Zusammengestellt von
München........................................................................................................... 281
Autorenverzeichnis 305
Boris Meissner
Die „nationale Frage“ in marxistischer und
leninistischer Sicht
„
1. Die nationale Frage “ im Marxismus und im Leninismus1
Seit dem Zweiten Weltkriege hat sich ein kommunistisches Mächtesystem her
ausgebildet, in dem der Marxismus-Leninismus die Staatsideologie bildet. Von
der sowjetischen Hegemonialmacht wurde dabei der Eindruck erweckt, daß
der Leninismus eine natürliche Fortentwicklung des Marxismus darstelle und
daher völlig mit ihm übereinstimme. Erst mit der zunehmenden Differenzie
rung in diesem Staatensystem, das von der Sowjetunion als „sozialistisches
Weltsystem“ bezeichnet wird, wurden neben den Gemeinsamkeiten die Unter
schiede zwischen dem Leninismus in seiner stalinistischen Ausprägung und
dem ursprünglichen Marxismus sichtbarer. In vielen Bereichen förderte der
Rückgriff auf den Marxismus die Autonomiebestrebungen im Zeichen eines
Reformkommunismus, wie er erstmals vom titoistischen Jugoslawien vertreten
wurde. In anderen Fällen war es wiederum zweckmäßiger, am Leninismus
unter Beseitigung späterer Entstellungen festzuhalten. Diese Ambivalenz gilt
vor allem für die „nationale Frage“, der in Ost- und Südosteuropa nicht nur für
Vielvölkerstaaten, wie der Sowjetunion und Jugoslawien, eine besondere
Bedeutung zukommt.
Trotz einer gemeinsamen ideologischen Grundposition unterscheidet sich die
leninistische Stellung zur „nationalen Frage“ wesentlich von der marxistischen
Einstellung. Die „nationale Frage“ betrifft dabei erstens den Nationsbegriff,
zweitens das Verhältnis der Nation oder eines ihrer Teile zum Staat und drit
tens die Frage ihrer Selbstbestimmung nach innen und außen.
Gemeinsam ist im Hinblick auf die Nation (russ. nacija) der marxistischen und
leninistischen Auffassung, daß es sich bei der Nation um eine Entwicklungs
form der Gesellschaft handelt, die sich in der kapitalistischen Gesellschaftsfor
mation herausgebildet hat und daher mit ihren Schwächen behaftet sei. Sie
würde daher erst unter dem Sozialismus zur vollen Entfaltung gelangen, um
1 Vgl. B.Meissner: Nationalitätenfrage und Sowjetideologie, in: G.Brunner, B.Meissner
(Hrsg.): Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion und Osteuropa, Köln 1982, S. 11 ff.
10 Boris Meissner
unter dem Vollkommunismus in der klassenlosen Gesellschaft der Menschheit
aufzugehen2.
Ihre innere Festigkeit und Beständigkeit erhielt die Nation nach marxistischer
und leninistischer Auffassung erst durch die kapitalistische Produktionsweise.
Ihre historische Vorstufe würde die aus der Verschmelzung einiger Stammes
verbände hervorgegangene Völkerschaft (russ. narodnost’) bilden. Sie wäre im
Verhältnis zur Nation wesentlich labiler und würde vor allem nicht die gleiche
qualitative Stufe des Wirtschaftslebens aufweisen. Das gleiche wird im Verhält
nis von Nation und Völkerschaft auf der Grundlage der sozialistischen Pro
duktionsweise angenommen.
Infolge der Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft, die durch das
Privateigentum an den Produktionsmitteln bedingt sei, wird die Ausbeutung
der Menschen durch den Menschen angeblich „gesetzmäßig“ durch die Ver
sklavung und Ausbeutung der unterdrückten Nationen und Völkerschaften
ergänzt. Daher würden die nationalen Beziehungen unter dem Kapitalismus
aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Ungleichheit zwangsläufig den
Charakter der Herrschaft der einen und der Unterordnung der anderen anneh
men. Dagegen wird bei der sozialistischen Gesellschaft sowjetischen Typs,
obgleich sie im Unterschied zur marxistischen Grundforderung auf dem
Staats- und nicht Gesellschaftseigentum beruht, von einer harmonischen
Zusammenarbeit zwischen den bestehenden Klassen und sozialen Gruppen
unter Führung der Arbeiterklasse mit der jeweils herrschenden kommunisti
schen Partei an der Spitze ausgegangen.
Aufgrund dieser Fiktion wird von sowjetischer Seite unterstellt, daß es unter
dem Sozialismus gelungen sei, unter Beseitigung der Ausbeutung und aller Pri
vilegien nationaler und national-religiöser Art eine tatsächliche politische, wirt
schaftliche und kulturelle Gleichberechtigung der einzelnen Nationen durch
Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und durch die Anglei
chung ihres Entwicklungsstandes zu erreichen. Die nationalen Beziehungen
unter dem Sozialismus würden sich daher auf der Grundlage der Freundschaft,
der vollen Gleichberechtigung und der brüderlichen gegenseitigen Hilfe der
Nationen und Völkerschaften entwickeln und eine harmonische Verbindung
mit den internationalen Beziehungen auf der Grundlage des sozialistischen
Patriotismus und proletarisch-sozialistischen Internationalismus bilden.
2 Vgl. F.W.Konstantinow (Red.): Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie,
Frankfurt a.M. 1974, S.378ff.; G.J.Glesermann: Klassen und Nation, Berlin (Ost) 1975;
A. M. Rumjancev: Naucnyj Kommunizm, Slovar’ (Wissenschaftlicher Kommunismus. Wör
terbuch), 3.Aufl. Moskau 1980, S. 184 ff.
Die „ nationale Frage “ in marxistischer und leninistischer Sicht 11
. “
2 Die Einstellung von Marx und Engels zur „nationalen Frage
Die sowjetischen Nationstheoretiker berufen sich heute in erster Linie auf
Lenin und nicht auf Stalin. Sie behaupten, daß Lenin die Ideen von Marx und
Engels über die Nation schöpferisch weiterentwickelt habe3. In Wirklichkeit
hatten Marx und Engels, die vom westlichen Nationsbegriff ausgingen und die
Nation mit dem bürgerlichen Nationalstaat gleichsetzten, eine völlig andere
Einstellung zur „nationalen Frage“ als Lenin4. Dem Nationalitätsprinzip stell
ten sie „das Recht der großen europäischen Nationen auf Absonderung und
unabhängige Existenz“ gegenüber. Aus diesem Recht leiteten sie vor allem den
Anspruch der durch politische Gewaltakte zerstückelten „historischen Natio
nen“, wie der deutschen und polnischen Nation, auf Wiederherstellung ihrer
staatlichen Einheit ab5.
Die heute im Historischen Materialismus und in der Theorie des „Wissen
schaftlichen Kommunismus“ behandelte Nationstheorie und die mit ihr ver
bundene Selbstbestimmungskonzeption geht dagegen hauptsächlich auf Lenin
und in besonderem Maße auf Stalin zurück6. Einen Ansatz für die spätere
Unterscheidung zwischen bürgerlichen und sozialistischen Nationen bildet
allerdings die Feststellung im Kommunistischen Manifest:
Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.
Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen
Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn
auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie7.
Marx und Engels glaubten, daß die mit der proletarisch-sozialistischen Revolu
tion' verbundene Emanzipation der Völker nationale Konflikte hinfällig
machen würde. Im Kommunistischen Manifest hei&t es:
Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der
Nationen gegeneinander.
3 Vgl. P.N. Fedoseev: Marksizm v XX. veke. Marks, Engel’s, Lenin i sovremennost’ (Der
Marxismus im 20. Jahrhundert), Moskau 1972, S. 324 ff.
4 Vgl. H.Cunow: Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatslehre, Bd.II, Berlin
1921, S. 23 ff.; E. R. Goodman: The Soviet Design fora World State, New York 1960, S. 1 ff.;
S. F. Bloom: The World of Nations. A Study of the National Implications in the Work of Karl
Marx, New York 1941; Ch.C.Herod:The Nation in the History of Marxian Thought, The
Hague 1976.
5 Vgl. Cunow(Anm.4), a.a.O., S.41.
6 Vgl. B. Meissner: Die marxistisch-leninistische Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht, in:
D. Blumenwitz, B. Meissner (Hrsg.): Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deut
sche Frage, Köln 1984, S. 89 ff.
7 K. Marx und F. Engels: Ausgewählte Schriften, Stuttgart 1953, Bd. I, S. 40.
12 Boris Meissner
Marx hat daher folgerichtig die nationale der sozialen Emanzipation unterge
ordnet, während Lenin zwar die nationalen Interessen den proletarisch-soziali
stischen unterordnete, zugleich aber davon ausging, daß die nationale Selbst
bestimmung der von ihm angestrebten sozialen Selbstbestimmung des Proleta
riats voranzugehen habe8. Marx und Engels waren der Auffassung, daß die
nationalen Verschiedenheiten und Gegensätze im Laufe der von den National
staaten zu einem Weltstaat als Vorstufe zur kommunistischen Weltgesellschaft
führenden Entwicklung allmählich geringer werden würden. Sie gingen dabei
davon aus, daß dieser Weltstaat als Ergebnis der von ihnen angestrebten uni
versellen proletarisch-sozialistischen Revolution und zugleich als eine zeitlich
begrenzte Übergangsform zentralistisch aufgebaut sein würde. Sie saher aber
bei der Herausbildung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft keine
Verschmelzung der Nationen zu einem Menschheitskollektiv mit einer einzi
gen Weltsprache, wie später Lenin, vor.
Marx und Engels waren infolge ihrer Grundeinstellung ausgesprochene Geg
ner des Nationalitätsprinzips9. Sie lehnten daher auch die gewaltsame Anglie
derung von Volksteilen, die außerhalb der Grenzen eines gegebenen National
staates lebten, ab10.
Nach ihrer Auffassung hatte ein großer Nationalstaat auch nicht die Berechti
gung, kleinere Nationen und Nationalitäten in seinem Staatsverband festzu
halten und erst recht nicht, weitere zu annektieren, wenn ihm die Fähigkeit
abging, die Fremdvölker auf eine höhere Kulturstufe zu heben. Nur in einem
solchen Fall war ein Befreiungskampf der unterdrückten Völker historisch
gerechtfertigt.
Von dieser Ausnahme abgesehen besaßen die kleinen Nationen und Nationali
täten nach Marx und Engels nicht das Recht, sich aus einem größeren Staats
verband herauszulösen und einen eigenen unabhängigen Staat zu begründen
oder sich einem anderen Staat, der ihre nationale Eigenart besser gewährlei
stete, anzuschließen.
Engels schrieb 1859 in seiner bekannten Schrift Po und Rhein11:
Daß die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein Mensch behaupten. Alle Ver
änderungen, sofern sie Dauer haben, müssen aber im großen und ganzen darauf hinausge
8 Vgl. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin (Ost), 1953, S.514.
9 Vgl. die drei Artikel von Engels im „Commonwealth“ aus dem Jahre 1966, in: C. Grünbergs
„Archiv der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 6. Jg., S. 214 ff.; auszugs
weise bei Cunow (Anm. 4), a. a. O., S. 38 ff. Mit besonderer Schärfe wandten sich Marx und
Engels gegen die panslawistischen Bestrebungen.
10 Als Beispiele erwähnte Engels die Deutschen in der Schweiz und im Elsaß und die Franzosen
in Belgien und in der Schweiz.
11 Zitiert nach Cunow (Anm. 4), a.a.O., S. 42.
Die „ nationale Frage in marxistischer und leninistischer Sicht 13
“
hen, den großen und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre wirkli
chen natürlichen Grenzen zu geben, die durch Sprache und Sympathie bestimmt werden,
während gleichzeitig die Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer
nationalen Existenz nicht mehr fähig sind, den größeren Nationen einverleibt bleiben und
entweder in ihnen aufgehen, oder sich nur als ethnographische Denkmäler ohne politische
Bedeutung erhalten.
Marx und Engels erkannten somit nur das Selbstbestimmungsrecht „histori
scher Nationen“, d. h. von großen oder kulturell-zivilisatorisch besonders ent
wickelten Staatsvölkern an.
Das Selbstbestimmungsrecht als ein auf dem Nationalitätsprinzip beruhendes
und daher auch für die kleinen oder kulturell-zivilisatorisch noch wenig ent
wickelten Völker geltendes universelles Prinzip wurde von ihnen dagegen strikt
abgelehnt. Aus dieser Einstellung ist ihre zwiespältige Haltung zu den nationa
len Bewegungen ihrer Zeit zu erklären. Während sie die Einigungs- und Unab
hängigkeitsbestrebungen der Deutschen, Italiener, Polen und Madjaren unter
stützten, empfanden sie eine ausgesprochene Abneigung gegen die Tschechen
und die übrigen in der Habsburger Monarchie lebenden kleinen slawischen
Völker sowie die Rumänen, die sie als „Volksabfälle“ bezeichneten12. Mehr
Wohlwollen brachten sie den südslawischen Völkern im Bereich des Osmani-
schen Reiches, insbesondere den Serben, entgegen. Ausnahmsweise waren sie
sogar bereit, ihnen einen föderativen Staatsaufbau zuzugestehen.
Die Kolonialfrage und die Bemühungen, die nationale Frage in Österreich-
Ungarn unter Erhaltung der Reichseinheit zu lösen, gaben den Anstoß zu einer
Revision der Marx-Engels’schen Thesen. Einerseits war es die Beschäftigung
der 1889 neugegründeten II. Internationale mit dem Kolonialproblem, ande
rerseits die Auseinandersetzung der Austromarxisten mit den Strukturfragen
eines Nationalitätenstaates, welche diese Änderung bewirkte.
Es waren vor allem die führenden Nationalitätenpolitiker der österreichischen
Sozialdemokratie, die ausgehend von den besonderen Verhältnissen des Habs
burger Vielvölkerstaates die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts auf
der Grundlage des Nationalitätsprinzips suchten. Besondere Bedeutung kam
dabei den Schriften von Karl Renner und Otto Bauer13 zu, die für eine weitge
hende nationale Selbstverwaltung der einzelnen Völker unter Anwendung des
exterritorialen Personalitätsprinzips eintraten. Eine umfassende Kulturautono
12 Vgl. Goodman (Anm.4), a.a.O., S. 10f.; Herod (Anm. 4), a.a.O., S. 17ff.
13 Vgl. K. Renner („Synopticus“): Nation und Staat, Wien 1899; Derselbe („Rudolf Springer“):
Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, 1. Aufl. Leipzig/Wien 1902; 2. Aufl.
(Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich),
Leipzig/Wien 1918; O.Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, l.Aufl.
Wien 1907,2. Aufl. Wien 1924.