Table Of ContentMethodenlehre der
Therapeutisch-Klinischen
Forschung
Von
Paul Martini
Professor der Medizin an der Universität Bonn
Mit 15 Abbildungen
Springer-Verlag Berlin Beideiberg GmbH
1947
ISBN 978-3-642-49546-5 ISBN 978-3-642-49837-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-49837-4
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
Copyright 1948 by Springer-Verlag Berlin Heidelberg
Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag OHG., Berlin and Gattingen 1948
Softcoverreprint ofthe bardeover Istedition 1948
Meiner liehen Frau
Vorwort
zur "Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung".
Drei Jahre, in denen ich das Glück hatte, die große medizinische Ab
teilung des St.-Hedwig-Kra:(lkenhauses in Berlin zu leiten, waren erfüllt
von dem Suchen nach befriedigenden Methoden therapeutischer Unter
suchungen. Die vorliegenden Ergebnisse sind noch nichts Vollendetes.
Ich veröffentliche sie trotzdem, denn die Änderung des bisherigen Zu
standes scheint mir keinen Aufschub zu ertragen.
Bonn, im April 1932.
P. Martini.
Vorwort. .
Wer eine besondere Methodenlehre der therapeutisch-klinischen For
schung für nötig erklärt, hält offenbar die einfache ärztliche Erfahrung
für unzureichend. Man wendet ein: Gute Ärzte haben in ihrem Leben
doch so viel erfahren, haben gründlich beobachtet und haben ihre Mei
nungen immer wieder kritisch korrigiert ! Warum ist dann trotz aller dieser
wirklichen oder scheinbaren Garantien die therapeutische Quintessenz
der ärztlichen Erfahrung in weiten Bereichen und in vielen Einzelfragen
ganz und gar widerspruchsvoll ? Für diese Dissonanz gibt es nur die eine
Erklärung, daß die gewöhnliche, "naive" Erfahrung schlechthin und daß
auch di.e bisher geläufigen Methoden der klinischen Forschung den beson
deren Ansprüchen therapeutisch-klinischer Probleme nicht genügen.
Nach 13 Jahren weiterer Erfahrung hofft das vorliegende Buch diese
Lücke vollkommener schließen zu können, als es seinem Vorgänger, der
"Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung" 1932, möglich war.
Bonn, im Aprill945.
P. Martini.
Inhaltsverzeichnis.
I. Die Problemstellung 1
II. Die Mitursachen in der therapeutischen, Forschung 5
III. Der Vergleich als Grundlageder therapeutischen Untersuchung 12
IV. Die therapeutische Forschung bei akuten Krankheiten 14
A. Die Beurteilung auf Grund des Krankheitsausgangs . . . . 18
1. Die relative Häufigkeit von Heilung oder Tod als Grundlage der Be-
urteilung • • . . . . • . . • . . . . . • . . • • • • . . • • 18
2. Die Korrektur der Wahrscheinlichkeit von Heilung oder Tod. • . 22
3. Die statistische Behandlung relativer Häufigkeiten mit Hilfe von
Nomogrammen . . . . . o o o o 24
0 • • 0 • 0 • 0 • 0 • 0 0 0 0
4. Die Schätzung der Zahl der voraussichtlich zil dem therapeutischen
Urteil notwendigen Kranken • • • 28
0 • • • 0 • 0 • • 0 0 '0 • 0 0
B. Die Beurteilung auf Grund der Dauer und der Schwere einer Krankheit • 31
1. Die statistischen Mittelwerte • . o . . . . . o . 32
0 0 0 • 0 0 0 •
2o Der Begriff der Dauer bei der therapeutischen Untersuchung . • . 34
3. Die Berechnung der Mittelwerte der Krankheitsdauer und ihrer mitt-
leren Fehler • o o o . o o o o . o o o • o o o . . o . . 36
0 0 0
4o Die Dauer einer Erkrankung als Maßstab des Erfolgs bei erheblicher
Letalität • o o o 40
0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 • • • 0 0 • 0 0 0
5. Die Verwertung des Grades der Fieberhöhe uswo für das therapeutische
Urteil •. o .••... o ••. 41
0 0 • 0 0 0 0 • 0 • • • • • •
C. Die Beurteilung therapeutischer Erfolge auf Grund der Komplikationen
einer Krankheit •• 42
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 ••• 0 • 0 • •
D. Die klinisch-synoptische Beurteilung therapeutischer Ergebnisse • • • 46
E. Spezielle Methodologie therapeutischer Untersuchungen bei akuten Krank-
heiten ••. o . o .•. 47
0 0 0 0 • 0 0 0 0 • • • • • • • • • • •
1. Lungenentzündungen 47
2o Scharlach • o . . o 0o 50
3. Diphtherie • 55
0 0 0 0 0
4. Typhöse Erkrankungen 60
5. Malaria •• 64
0 0 0 0 0
VI Inhaltsverzeichnis.
V. Die therapeutische Forschung bei chronischen Krankheiten auf
Grund des individuellen Krankheitsverlaufs . . . . . . . . 67
A. Die allgemeinen Grundlagen und Vorbedingungen . . . . . . . . . 67
1. Die Perioden eines Krankheitsverlaufs als Grundlagen: Vorbeobach-
tungszeit, therapeutische Prüfungszeit, Nachbeobachtungszeit . . . 68
2. Die Vermeidung von Mitursachen . . . . . . . • . . . . . . . 69
3. Die Güte der Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 69
4. Die subjektiven Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
5. Die Dauer der Beobachtungsperioden. Der konstante und der kon
tinuierlich g~Jrichtete Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
6. Der zeitliche Ansatz der Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . 74
7. Die Diskontinuität der Verlaufsrichtung und die Niveaudifferenz als
Kennzeichen der therapeutischen Wirkung . . . . . . . . . . . 75
B. Das therapeutische Urteil (Der therapeutische Vergleich) beim Vorliegen
zahlenmäßiger Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
1. Die Erfolgsbeurteilung aus der Diskontinuität von Verlaufsrichtungen 77
a) Die Beurteilung aus der Veränderung eines Merkmals in der Zeit . 78
b) Die Beurteilung aus der Differenz geschätzter Winkel der Verlaufs
richtungen . . . ·. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
c) Die Beurteilung aus der Differenz der errechneten Verlaufs-
richtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
2. Die Erfolgsbeurteilung aus der Differenz der Mittelwerte verschiedener
Perioden . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
3. Die quantitative therapeutische Untersuchung . 94
C. Die Erfolgsbeurteilung bei mehreren Kriterien , . 97
D. Die Gesamtbetrachtung einer Schar von individuell beobachteten Fällen 98
E. Die therapeutische Untersuchung bei einem untrennbaren Komplex von
Heilfaktoren und im besonderen in Heilbädern ............1 02
F. Spezielle Methodologie therapeutischer Untersuchungen bei chronischen
Krankheiten . . . . • . . 105
I. Die Zuckerkrankheit . . . . 105
2. Die Hochdruckkrankheit . . 118
3. Die Herzinsuffizienz . . . . 124
4. Die Basedowsche Krankheit . . . . . . 131
5. Die (doppelseitigen) Nierenerkrankungen . . . . . . . 139
Anhang: Bemerkungen zu therapeutischen Untersuchungen bei der
Cystitis . • . . . . . . . . . . . . . . . . . • . 149
6. Das Magengeschwür . . . . . . . . . . . . . . . . 150
7. Die Lungentuberkulose; Anhang: Die Lungenblutnng . 157
8. Der Lungenabszeß . . . . , . . 167
9. Die multiple Sklerose . . . . . 171
10. Die Angina pectoris . . . . . . 176
11. Die rheumatischen Krankheiten . 179
Literaturverzeichnis . 187
Sachverzeichnis. . . 189
I. Die Problemstellung.
Von verschiedener Art und verschiedenem Rang sind die Grundlagen
unserer Heilmittel. Klinische, pharmakologische, physiologischl;l, patho
logisch-anatomische, bakteriologische und in der Tradition verankerte
Motive stehen hinter ihnen, ja allein schon die Schmerzstillung kann uns
als Motiv genügen.
Die erste Stelle können die Mittel und Methoden beanspruchen, die wir
selbst als kausal bezeichnen. Das sind diejenigen, bei denen wir imstande
sind, aus einer direkten Einsicht in physiologisch-pathologische Einheits
zusammenhänge heraus zu handeln und willkürlich in einen solchen Zu
sammenhang so einzugreifen, daß der normale Zustand oder doch eine so
große Annäherung an ihn wieder erreicht wird, daß der klinische Beweis
hierfür unschwer zu führen ist. Solche Mittel sind höchstes und letztes
Ziel unserer therapeutischen Arbeit, sie stehen aber in der inneren Medizin
nur ausnahmsweise zur Verfügung. Die Hormone und Vitamine gehören
in dem nicht sehr weiten Bereich ihrer exakten Indikation hierher, dazu
einige antiinfektiöse Pharmaka wie Salvarsan, die Sulfonamide und Peni
cillin, aber wieder nur in einem begrenzten Bereich. Eine ausgesprochen
kausale Therapie treibt in erheblichem Umfang die Chirurgie; ihre Ektomien
zum Beispiel treffen teilweise das Übel an der Wurzel.
Der weitaus größere Teil unserer Heilmittel besitzt aber andere, und
zwar viel schwächere Unterlagen. Wir rechnen bei ihnen schon von vorn
herein nicht damit, daß wir durch sie unmittelbar eine Annäherung an die
Norm herbeiführen werden, sondern wir begnügen uns mit der Aussicht,
oft genug schon mit der Hoffnung, die Bedingungen für eine solche An
näherung, d. h. für die Heilung, zu bessern.
Die Ausgangsstellungen unseres therapeutischenV orgehens liegen dabei
entweder in allgemeinen Erfahrungen über Faktoren und Konstellationen,
die geeignet sind, die Entstehung von Krankheiten zu begünstigen bzw.
zu verhindern, oder sie entstammen ärztlichen Traditionen. Besonders
oft sind sie auf Deduktionen zurückzuführen, die den verschiedenen
theoretischen Fächern der Medizin entstammen. Dieser letzte Ausgang hat in
den letzten hundert Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, und alle
großen therapeutischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte sind so zu
stande gekommen. Jede therapeutische induktive Forschung wird in Zu-
2 Die Problemstellung.
kunft ein Allgemeines nicht nur zum Ziele, sondern auch zur Voraussetzung
haben müssen. So induktiv die Forschung auch sei, kann sie doch nicht
eines deduktiven Momentes entbehren. Die Frage ist nur, wie groß die An
sprüche sein dürfen, die an die deduktiven Ausgangspunkte gestellt werden.
Diese Ansprüche müssen bei therapeutischen Fragestellungen notwendiger
weise verhältnismäßig niedrig sein. Die Generation vor uns konnte noch
hoffen, daß ein immer tieferes Eindringen in die physiologischen und patho
physiologischen Zusammenhänge uns auch die therapeutischen Erkennt
nisse und Zusammenhänge schließlich wie reife Früchte zutragen müsse.
Dieser Traum ist ausgeträumt. Wir wissen heute nicht nur, daß der Weg
zu therapeutischen Erkenntnissen ein unabsehbar langer wäre, wenn wir
warten wollten, bis die physiologischen und pathologisch-physiologischen
Erkenntnisse so groß geworden wären, sondern auch, daß wir keine Aussicht
haben, auf diesen Wegen allein zu ausreichenden klinischen Antworten zu
gelangen. Es muß deshalb versucht werden, sich dem Ziel auch von minder
sicheren Ausgangspunkten, von Arbeitshypothesen aus, zu nähern. Von
der Arbeitshypothese aber muß verlangt werden, daß sie doch begründet
sei in wissenschaftlichen Tatsachen; falls dies nicht möglich ist, sollte es
klar geoffenbart werden. Die Arbeitshypothese hat eine große Freiheit;
das Wichtigste an ihr ist, daß sie als eine einer rigorosen Prüfung zu unter
ziehende Hypothese und nicht als zu beweisende These die Untersuchung
einleitet und begleitet.
Jedes der verschiedenen theoretischen Fächer trägt einen Teil bei zu
den Deduktionen und so auch zu den induktiven Arbeiten der therapeuti
schen Klinik. Aus dem Sitz, der Form und Art von krankhaften Verände
rungen, die der Pathologe findet, ziehen wir Schlüsse auf die Ursachen
der krankhaften Prozesse, und wir leiten aus ihnen therapeutische Folge
rungen ab, wie solche Prozesse am besten zu vermeiden sind. Der Pharma
kologie entnehmen wir teilweise grundsätzlich gerichtete Möglichkeiten,
a-ber noch häufiger solche symptomatischer Natur, und zwar nicht nur
Augenblickserfolgen zuliebe, sondern in der nicht unbegründeten Hoffnung,
mit der Besserung von Symptomen auch die Heiltendenz als solche zu be
günstigen. Die Bakteriologie stellt uns ihre am Tier gewonnenen Er
fahrungen zur Verfügung, um diese womöglich für den Menschen fruchtbar
zu machen. Die neuen Einblicke endlich, die die normale und die
pathol!Jgische Physiologie auf experimentellem Weg in die Abläufe
gesunder und krankhafter Vorgänge gewinnen, können mittel- oder un
mittelbare praktische Rückwirkungen auf unsere Einsichten in deren
therapeutische Beeinflußbarkeit gewinnen.
Ohne die Hilfe der theoretischen Medizin wäre die Klinik des größten
Teiles ihrer Hilfsmittel und ihrer Zukunftsaussichten beraubt. Wir be
kommen aus der Theorie auch nicht nur die Anregung zur klinischen Er
probung. Wir wenden die Mittel und Methoden, die so in das therapeutische
Die Problemstellung. 3
Gesichtsfeld und in die klinische Rüstkammer eingeführt worden sind, auch
oft genug lediglich im Vertrauen auf ihre theoretische oder experimentelle
Begründung an, oder nur ihren willkommenen symptomatischen Eigen
schaften zuliebe, jedenfalls zum großen Teil, ohne daß eine systematische
klinische Nachprüfung erfolgt wäre, obwohl erst diese unserem ärztlichen
Vorgehen festen Boden unter die Füße geben kann. Je unsicherer die
Brücke ist, die von der theoretischen (deduktiven) Ausgangsstellung zur
therapeutischen Anwendung und zum klinischen Beweis führt, je größer
die Ansprüche eines Mittels und je schicksalsschwerer die klinische Lage,
um so mehr müssen wir den klinischen Beweis zu der theoretischen Begrün
dung dazu fordern.
Handelt es sich gar nur um therapeutische Vorschläge, die sich weder
auf irgendwie ehrwürdige Erlebnisse oder Erfahrungen noch auf rationale
Begründungen stützen können, so kann diesen nicht der mindeste thera
peutische Wert zuerkannt werden, solange nicht einwandfreie klinische
Beweise für sie geführt sind.
Die Forderung nach dem klinisch therapeutischen Beweis kann also
von verschiedener Dringlichkeit -sein. Ebenso ist die Durchführbarkeit
des Beweises sehr unterschiedlich; sie kann leicht sein und in anderen Lagen
auf die größten Schwierigkeiten stoßen. Je mehr wir uns einer wirklich
kausalen Therapie nähern, um so wirksamer werden im allgemeinen auch
die Mittel. Um so offenbarer ist ihre Wirkung, wenigstens im Tatsächlichen,
wenn auch noch nicht im Quantitativen. Je unspezifischer eine Heil
methode ist, um so schwerer beweisbar werden ihre Wirkungen sein, um so
problematischer sind sie aber deshalh. So bedürfen wir in den Lagen des
klinischen Beweises am dringlichsten, wo er am schwersten zu führen ist.
Grundsätzlich gibt es aber kein therapeutisches Problem, bei dem der
klinische Beweis entbehrlich wäre. Die methodologischen Grundsätze und
Wege zu zeigen, die für therapeutische Forschungen maßgebend sein müssen,
ist die Aufgabe dieses Buches. Die Grundsätze sind seit der Erfahrungs
philosophie von Francis Bacon im Besitz der Wissenschaft, und kein
Geringerer als Laplace hat 1814-wenn auch nurbegrenzt auf die akuten
Krankheiten - den Weg der therapeutischen Untersuchung gewiesen:
"Um die beste von verschiedenen Behandlungen zu erkennen, die zur Heilung
angewandt werden, genügt es, jede von ihnen an einer gleichen Anzahl von
Kranken zu ~rproben, indem man alle anderen Umstände genau gleich ge
staltet. Die Uberlegenheit der günstigsten Behandlungsmethode wird sich um
so mehr manifestieren, je mehr die Zahl der Kranken wächst, und die Be
rechnung wird uns die Wahrscheinlichkeit erkennen lassen, die ihrem Nutzen
und ihrer Überlegenheit über die andere entsprichi1." Damit war die Not-
1 Dieser Passus findet sich nicht in der deutschen Übersetzung von "Du calcul
des probabilites" und auch weder in der ersten noch dritten Auflage der französischen
Ausgabe, sondern nur in der zweiten Auflage.