Table Of ContentA. Dürer, Melencolia I
MELANCHOLIE
ZUR PROBLEMGESCHICHTE · TYPOLOGIE
PATHOGENESE UND KLINIK
VON
HUBERT TELLENBACH
PROFESSOR DR. MED. DR. PHIL. OBERARZT
AN DER PSYCHIATRISCHEN UND NEUROLOGISCHEN
UNIVERSITATSKLINIK HEIDELBERG
MIT EINEM GELEITWORT VON
PROF. DR. DR. FRHR. VON GEHSATTEL
MIT EINEM TITELBILD
SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG GMBH
1961
ISBN 978-3-662-12459-8 ISBN 978-3-662-12458-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-12458-1
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© by Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1961
Urspriinglich erschienen bei Springer-Verlag oHG. Berlin · Gottingen · Heidelberg 1961
Softcover reprint of the hardcover 1s t edition 1961
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DEN LEHRERN
THEODOR WILLEMSEN UND WALTER RITTER VON BAEYER
Geleitwort
In bemerkenswerten Studien hat TELLENBACH den Weg vorbereitet zu dem
neuen, weit angelegten und groß durchgeführten Werk über die Melancholie.
Bedenkt man, von diesen Vorarbeiten kommend, in erster Linie seine Studie über
"Gestalten der Melancholie", und vergleicht seine Auslegung von "Daseinsgestalt"
und "Wesensgestalt" der Schwermut in Analysen von Werther, Kierkegaard und
Koheleth mit dem letzten, erstaunlich dichten Werk aus der Erfahrungswelt der
klinischen Psychiatrie, so ist man versucht zu sagen, daß die Fähigkeit, von Ge
stalten des Daseins sich ansprechen zu lassen, dieser künstlerische Zug, im ganz
heitlichen Umreißen der Aufbauordnung und zuinnerst des Wesensbildes der endo
genen Psychose hier die Stufe der Meisterschaft erreicht. Nicht darf verschwiegen
werden, daß eine elementare Vertrautheit mit dem Phänomen des Genialen
TELLENBACH befähigt, den immer wieder unbegreiflich anmutenden Absturz der
menschlichen Natur in die Psychose bis an die Grenze des Aussagbaren zu ver
folgen (vgl. S. 144f.).
Aus der Gesamtheit des Wissens um Melancholie und Melancholiker, wie
solches als das Ergebnis der Forschung von zwei Jahrtausenden vorliegt; aus der
Fülle in historischer Treue gewürdigter Formulierungen, insbesondere auch der
neuesten Forschung, einer Treue, die sich gleicherweise freihält von blinder Kritik
und blinder Zustimmung, ist im Zug einer neu erschlossenen Weite und Tiefe
eigenster Forschung das Werk über die Melancholie zustande gekommen. In einer
Mischung von diskreter Begeisterung und eigenwüchsiger Sprachgewalt; von ge
sammelter Energie des Unterscheidans und Bestimmens; von phänomenologischer
Klarheit der Wesensschau in typologischen Fragen und Strukturanalysen; vor
allem aber in der unvergleichlichen Subtilität der klinischen Beobachtungen und
ihrer epikritischen Auslegung, ordnet sich das Werk den seltenen Erzeugnissen
wissenschaftlichen Geistes ein, die von repräsentativer exemplarischer Bedeutung
sind. Werke des angedeuteten Ranges überraschen durch die scheinbar mühelose
Selbstverständlichkeit, mit der Türen aufgestoßen werden, hinter welchen das
jeweilige Forschungsgebiet erhellende Sachverhalte sich verborgen hielten, so daß,
unerwarteter Weise, naheliegende und doch die längste Zeit dem Zugriff der
Forschung entzogene Gegebenheiten mit einem Mal aufleuchten, und dies mit dem
Ergebnis, daß nunmehr grundlegende Ordnungszusammenhänge zu scheinen be
ginnen, die einleuchten, deren langwährende Verdunkelung die Forschung aber
teils in unlösbare Scheinprobleme verstrickte, teils zu verstiegenen Konstruktionen
veranlaßte. Es zeigt sich, daß eben auch im Gebiet der wissenschaftlichen For
schung das Wahre in der überzeugenden Gestalt des Schlichten und Einfachen
auftritt, dem man den mühevollen Weg, auf dem es erschlossen wurde, nicht mehr
anmerkt.
VIII Geleitwort
Überblickt man das Ganze des vorgelegten Werkes, das den Stoff in fünf
Kapitel aufgliedert, so sind es die drei mittleren, in welchen die Forschung auf
neuen Anbauflächen der alten Melancholielehre sich ansiedelt. Deren Einbeziehung
gestattet dann, eine dem Sachgebiet gemäßere Ordnung zu stiften und darzu
stellen.
Vor allem sind es die Grundbegriffe des "Endon" und des "Endogenen", die
im zweiten Kapitel eine Klärung erfahren, wodurch sofort die Fragestellung auf
den sicheren Boden gestellt wird, nach welchem sich die Forschung seit etwa
60 Jahren vorgetastet hat, ohne je ihn wirklich betreten zu können. Eine scheinbar
geringfügige Unterscheidung, die nämlich des "Endon" und des "Endogenen"
verändert, wie mit einem Zauberschlag, grundlegend die Problemlage, indem sie
einen Tatbestand ordnet, dessen Aufweis die grundsätzliche Orientierung der
Melancholie-Forschung von ihrer Verhaftung an ein nebuloses und vages Ungefähr
befreit; diesem mußte sie auf dem Weg des Suchens, als das Opfer einer duali
stischen Psychiatrie, anheimfallen. Auf 1 lf:! Seiten wird der ganzheitliche Aspekt
des Endon entwickelt, in prägnanten, luciden, einprägsamen Wendungen, die
einen ersten Höhepunkt des Werkes bedeuten. Indem solcherart das einheitliche
Ursprungsfeld der endogenen Phänomene vorgestellt wird, gelingt es, diese als
Emissionen, als Abwandlungen, als particulare Äußerungsformen des Endon zu
verstehen. So wird es möglich, von diesem Ausgangsort her, bislang nicht einzu
ordnende depressive Erscheinungen in ihrer Herkunft zu erfassen, sie in ihre
Ursprungstiefe hineinzusehen, kurz das "Spektrum des Endogenen" zu ent
wickeln; und das ohne sich zu beschränken auf jene Varianten des Spektrums,
die, als pathologische Abwandlungen der Endogenität, allein das Forschungsgebiet
des Psychiaters ausmachen~ Wo immer die Psychiatrie fortschreitet zu einem
entscheidenden Verständnis pathologischer Erscheinungsweisen des Menschseins,
setzt die jeweils neue Schau als ihre wesentliche Bedingung voraus ein Verständnis
der anthropologischen Norm. Man denke hier an SPINOZAs These: Verum est index
sui et falsi.
Sofort ist durch diesen erfolgreichen Vorstoß in ein grundlegendes Aufbau
element des totum humanum mitgesetzt die Möglichkeit, in hellsichtiger Klar
stellung die bis in das neueste Schrifttum hineinreichende Wirrnis aufzulösen, die
ihren Ausgang nimmt von der Verkennung jenes weder auf Physisches noch
Psychisches zurückführbaren, die Natur des Menschen durchwohnenden organis
mischen Eigenbereiches: des Endon nämlich und des Endogenen.
Erst nachdem systematisch die dialektische Auseinandersetzung geleistet
worden ist, welche bald die Herkunft, bald den nosologischen, dann wieder den
anthropologischen Sinn der Endogenität von Psychosen zum Gegenstand macht,
ist schließlich der Grund gelegt für die Frage nach den besonderen typologischen
Wesenszügen, den Situationen und Konstellationen, den spezifischen Bedrohungen,
welche das Absinken des Daseins in den Schwerebereich der Melancholie vorbe
reiten. Dann erst wird es möglich, die Bedingungen für den psychologischen ~d
den metapsychologischen Stufengang dieses Absinkens in Erscheinung treten zu
lassen.
Es gelingt TELLENBACH als Ergebnis der Katamnesen von 119 genesenen
Melancholie-Kranken einen Typus melancholicus herauszupräparieren. Darin und
in brillianten Abschnitten zur Pathogenese der endogen-melancholischen Psychose
Geleitwort IX
gipfelt der an neuen Funden reiche, eigenartige Hauptteil des Werkes. Fast zwei
Drittel des Buches nehmen diese Themen für sich in Anspruch.
Als glücklicher Einfall erwies sich die Bemühung, in systematischer Nach
exploration von genesenen Kranken die prämorbide Wesensstruktur des Typus
melancholicus zu erarbeiten und sie zur Ausgangsstelle zu machen für die zentrale,
pathogenetische Intention des Werkes. Wohl mag zuerst überraschen, wenn dieses
Unternehmen das Ergebnis zeitigt, im Charaktermerkmal der "Ordentlichkeit"
einen konstitutiven Wesensgrundzug des melancholischen Typus zu statuieren.
Indessen kann nach den vorgelegten Untersuchungen nicht bezweifelt werden, daß
die Selbstverwirklichung des Melancholischen sich ereignet in der Form eines
pointierten Bedachtseins auf Ordnung im Sinne von "Ordentlichkeit". Allerdings,
so hören wir, ist diese auch vielen Gesunden gemäße Ausrichtung auf Ordnung bei
Melancholikern zu verstehen als eine des Maßes entbehrende, programmatisch
starre Festgelegtheit auf Ordnung in diesem oder jenem wesentlichen Daseins
bezug. Der Terminus "Festgelegtheit" involviert sofort die Vorstellung einer
möglichen Bedrohung. Läßt sich doch das Lebensgeschehen nicht festlegen ohne
die Elastizität seiner situationsgerechten Abwandelbarkeit einzubüßen. Diese Ein
buße bedeutet unter Umständen einen bedrohlichen Freiheitsverlust. Hier geht
TELLENBACH von den Ergebnissen älterer Autoren aus, die sahen, daß im Ange
haltenwerden der basalen Lebensbewegung, in einer Störung des Sichereignen
Könnens der Selbstverwirklichung, die Grundstörung, die zwiefache, der endo
genen Melancholie bestehe. Diese Anschauung rückt TELLENBACH ins helle Licht
psychopathologischer Bewußtheit: beide eben genannte Aspekte der basalen
"Werdenshemmung" sind nicht nur in meisterhaften psychopathologischen Ana
lysen verdeutlicht, sie werden sofort auch mit dem Mittel einer sachgerechten
Namengebung fixiert und zwar als die "Konstellation der Inkludenz und der
Remanenz". Weit hinter die älteren Untersuchungen wird auf diese Weise zurück
gegriffen in das Vorfeld der eigentlichen Psychose. Schon der naturgegebene
Aufenthalt in diesem Vorfeld erweist sich beim Melancholiker als eine spezifische
Situation von bedrohlichem Charakter.
Dies aber festzustellen genügt TELLENBACH nicht; denn der Rückgriff auf das
Vorfeld der Psychose bedeutet an seiner pathogenetischen Hauptintention nicht
viel mehr als die unvermeidliche Rückwärtsbewegung eines anlaufnehmenden
Springers. Und sofort drängen sich der typologischen Untersuchung zwei neue
Fragen auf, einmal: wie wandelt sich die, zunächst nur bedrohliche, nun um in die
drohende prädepressive Situation 1 Und dann: wie folgt auf diese depressive
Situation die eigentliche Psychose 1 Wieder stehen dem geschulten Humanisten
zwei neugeprägte Begriffe zur Verfügung, mit denen er den Situationswandel und
dessen spezifische Typizität in der gesetzlichen Aufeinanderfolge seiner Phasen zu
fassen weiß; sie lauten "Endotropie und Endokinesis". Mit den so bezeichneten
sich gegenseitig fordernden Seinsweisen melancholischen Daseins am Beginn der
Psychose findet die endogen ausgerichtete pathogenetische Grundintention ihre
Erfüllung.
Und dennoch bleibt ein Rest; eine Lücke tut sich auf in der Kontinuität des
pathogenetischen Erlassens; im durchgängigen Geschehen auf die Psychose hin
ein Hiatus! Niemand ist sich klarer darüber als der Forscher selbst, der im Er
fassen der Kontinuität situativer Wandlungen die eigentliche Aufgabe seiner
X Geleitwort
pathogenetischen Absicht erkannt hat. Unter dem Titel "Verzweiflung" ist die
gleichsam erste Situation erfaßt, die auf den Hiatus folgt, der Anfang der eigentlich
depressiven Phase. Die faszinierende Analyse der verzweifelnden Befangenheit im
Hin und Her des Zweifels zeigt dem Leser, daß sich nunmehr eine Abwandlung
vollzogen hat, und die "Verzweiflung" nicht mehr zwingend aus der Struktur der
letzten Phase des Selbstverhältnisses hervorgeht. Mit Berufung auf die auch nicht
auseinander ableitbaren Altersphasen läßt TELLENBACH sichtbar werden: den
nichtzuverstehenden, nicht biographisch und nicht genetisch abzuleitenden, und
darum in seinem Geheimnisstand anzuerkennenden "Augenblick", in dem die
Psychose als endotrop bewirkte Endokinese faktisch in Gang kommt und sich
durchsetzt. Das ist der ewig in letzter Unverständlichkeit beharrende "Augen
blick", auch wenn er als Abwandlung des Endon, der organismischen Natur des
Menschen, gewußt ist; das ist die geheimnisvolle Stelle, wo die Phase der Selbst
widersprochenheit umschlägt in die radikale, die psychotische Entmächtigung
des Selbst.
Daß mit einer solchen Bemühung um ein Totalverständnis der Melancholie die
Möglichkeit einer neuen Systematik der Melancholien angebahnt ist, erweist deut
lich das Schlußkapitel des Werkes.
Zweck dieser Ausführungen ist indessen nicht eine Inhaltsangabe. Wer sich an
eine solche heranwagt, sähe sein Vorhaben nur dann adäquat erfüllt, wollte er den
Text des Werkes Satz für Satz wiederholen. In dieser Hinsicht hat das Werk
TELLENBACHs über seine wissenschaftliche Bedeutung hinaus den Rang eines nicht
anders als durch sich selbst wiederzugebenden Kunstwerkes. Von diesem Rang
ein Zeugnis ablegen zu dürfen, ist dem Schreiber dieser Zeilen Ehre und Ge
nugtuung.
V. E. Freiherr v. GEBSATTEL
Inhaltsverzeichnis
Seite
I. Geschichtliche Perspektiven der Problemlage. Ein Rückblick als Vorblick
1. Historialogische Bemerkungen zum Melancholieproblem . . . . 1
2. Typus melancholicus und Melancholie im Corpus Hippocraticum . . 4
3. PLATONS Mania·Lehre und die zirkuläre Antinomik . . . . . . . . 6
4. Melancholie und Genialität - eine epochale Konzeption des ARISTOTELES 8
5. Melancholie als Bedingung der Genialität bei W. SzrLASI 11
6. Der Kontext von imaginativer Genialität und Melancholie bei HEINRICH
VON GENT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
7. Die Characteristica des griechischen Aspektes der Melancholie 14
II. Endogenität als Ursprung
A. Das Endon und das Endogene 16
1. Die Ursachenfelder der klinischen Psychiatrie 16
2. Ganzheitlicher Aspekt des Endon . . . . 17
3. Spektrum des Endogenen . . . . . . . . 19
a) Abwandlung des Geschehensrhythmus . 20
b) Abwandlung der Form des Bewegtseins . 21
c) Das Globale der Abwandlung 23
d) Bindung an Reifungsstufen . . . . . . 24
e) Reversibilität . . . . . . . . . . . . 26
B. Die Relation somatischer Vorgänge und gravierender Erlebnisse zu nachfolgen-
den Melancholien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1. Das Problem der "ausgelösten" Melancholien bei K. SoHNEIDER . . . . . 32
2. Die Krisis der Bewertung des Endogenen bei H. J. WEITBRECHT . . . . . 35
3. Psychiatrische Ätiologie als unbestimmbare Relation von kryptogenem
Reiz und variabler Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4. Von der Umgehung des Endogenen zum Umgang mit dem Endogenen 41
III. Der Typus melancholicus
A. Vorlaufende Typologien in ihrem Bezug zum Problem der Pathogenese 44
1. Die cycloiden Temperamente E. KRETSCHMERS . . . . . . . . . . 44
2. Die prämorbiden Typen und die Typologie der Depressionen bei F. MAUZ 46
3. Der sensitive Beziehungswahn (E. KRETSCHMER) - ein Modell für eine
Typologie in pathogenetischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . 47
B. Zur Wesensstruktur des Typus melancholicu~> und ihrer konditionalen Bedeu-
tung für die Entwicklung der prädepressiven Situation . . . . . . . . . . 48
1. Die Ordentlichkeit -ein konstitutiver Wesensgrundzug des melancholischen
Typus . . . . . . . . . . 51
2. Die Ordnung der Arbeitswelt 55