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DIE-Reihe, Kriminalromane
Delikte, Indizien, Ermittlungen
Wainer, A.+ G.
Medizin gegen die Angst
Kriminalroman
Sagt Hauptmann Posdnjakow die Wahrheit, als er versichert, man habe ihm
Dienstausweis und Pistole geraubt, nachdem man ihn betäubt hattet
Inspektor Tichonow wird dieser Fall übertragen, denn inzwischen führt eine
Bande mit den gestohlenen Dokumenten Haussuchungen durch und
beschlagnahmt Geld und Wertsachen. Tichonow stößt bei seinen Ermittlungen
auf ein Medikament, das laut Aussage von Wissenschaftlern noch gar nicht
existiert – das Metaproptisol, ein hochwirksames Präparat, das in der
Psychiatrie Verwendung finden soll.
Zwei Probleme muß Tichonow lösen: Wer befindet sich im Besitz dieses
Metaproptisols, und wer steckt hinter diesen mysteriösen Haussuchungen?
Arkadi und Georgi
Wainer
Medizin gegen
die Angst
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Ëåêàðñòâî ïðîòèâ ñòðàõà
Aus dem Russischen von Aljonna Möckel
Von den Autoren überarbeitete Fassung
Moskau, Hauptverwaltung im Ministerium für Innere Angelegenheiten,
Personalabteilung. Protokoll über die Vernehmung des
Abschnittsbevollmächtigten Hauptmann der Miliz A. F. Posdnjakow
Frage: Wann sind Sie zu sich gekommen?
Antwort: Sonntag morgen.
Frage: Wo genau?
Antwort: In der medizinischen Ausnüchterungsanstalt Nummer drei.
Frage: Haben Sie den Mitarbeitern der Ausnüchterungsanstalt sofort gesagt, wer
Sie sind?
Antwort: Nein, Name und Arbeitsstelle gab ich erst an, als sich herausstellte, daß
meine Pistole und mein Dienstausweis verschwunden waren.
Frage: Warum nicht schon eher?
Antwort: Ich weiß nicht. Mein Denkvermögen war getrübt, ich hatte starke
Kopfschmerzen.
Frage: Haben Sie Waffe und Dienstausweis nicht vielleicht auf der Strecke
zwischen Stadion und Park verloren, wo Sie in trunkenem Zustand von der
Besatzung eines Streifenwagens aufgegriffen wurden?
Antwort: Nein, nein, nein! Ich war nicht im geringsten betrunken!
Frage: Schauen wir uns das ärztliche Gutachten an. Hier steht es: „Stadium
hochgradiger Trunkenheit mit Verlust der räumlichen und zeitlichen
Orientierung …“ Sind Sie der Meinung, der Arzt könnte sich geirrt haben?
Antwort: Ich weiß es nicht. Aber betrunken war ich keinesfalls!
Frage: Gut, berichten Sie noch einmal, weshalb Sie ins Stadion gingen.
Antwort: Am Freitag war das Pokalendspiel, die Begegnung zwischen „Spartak“
und „Torpedo“. Das Spiel begann um achtzehn Uhr. Ich bin ein großer
Fußballanhänger und lasse kein interessantes Spiel aus. Da ich jedoch die Woche
über viel Arbeit am Hals hatte, war ich nicht dazu gekommen, mir beizeiten eine
Eintrittskarte zu kaufen. Ich hoffte, noch eine an der Abendkasse zu bekommen.
Aber ich mußte feststellen, daß dafür nicht die geringste Chance bestand – die
Karten waren restlos ausverkauft. Interessenten dagegen gab’s jede Menge.
Plötzlich trat ein Mann an mich heran und sagte: „Hören Sie, ich hab’ eine
Eintrittskarte übrig, aber ich kann es einfach nicht wagen, sie hier vor aller
Augen aus der Tasche zu holen – diese Fanatiker reißen mich in Stücke.
Kommen Sie mit, ich geb’ sie Ihnen am Eingang, und da können Sie sie auch
bezahlen.“ Nun, ich bedankte mich natürlich. Als er sie mir dann aushändigte –
für sich hatte er noch eine zweite –, erzählte er, sein Kumpel könne nicht
kommen, und ich gab ihm einen Rubel. Es war furchtbar heiß, über dreißig
Grad. Etwa fünf Minuten vor der Halbzeitpause bat er mich, ihm seinen Platz
frei zu halten, er wolle vom Kiosk einen Schluck Bier besorgen. Bald darauf
kam er zurück und brachte mir eine Flasche Bier und ein Wurstbrot mit. Ich
bedankte mich für seine Aufmerksamkeit, und er antwortete mit einem
lateinischen Sprichwort – ich weiß nicht mehr, wie es hieß –, sinngemäß lautete
es jedenfalls: Wer einmal gibt, der gibt auch ein zweites Mal. Ich trank die
Flasche leer, und wir unterhielten uns ein wenig über Fußball. Dabei merkte ich,
daß das Bier meinen Durst nicht gelöscht, sondern erst richtig entfacht hatte. Die
Hitze wurde unerträglich, in meinem Kopf begann sich alles zu drehen, mir
wurde schwarz vor Augen. Ich wollte meinem Begleiter sagen, daß ich nahe am
Umkippen sei, hörte aber meine eigene Stimme nicht mehr. Die Dinge um mich
her begannen zu tanzen, und das ist alles, woran ich mich erinnere …
Frage: War die Bierflasche verschlossen oder schon geöffnet?
Antwort: Das weiß ich nicht mehr.
Frage: Wieso nicht? Sie müssen sich doch erinnern, ob Sie die Flasche geöffnet
haben oder nicht?
Antwort: So genau kann ich mich einfach nicht entsinnen. Frage: Ist Ihnen
dieser Mann früher schon mal begegnet?
Antwort: Nein, nie.
Frage: Können Sie ihn beschreiben?
Antwort: Nur schlecht. Er ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt.
Frage: Könnten Sie ein Identi-Kit von ihm anfertigen?
Antwort: Vielleicht, obwohl ich mir da nicht sicher bin. Mir ist noch immer
schwindlig.
Frage: Glauben Sie, diesen Mann im Falle einer erneuten Begegnung mit
Sicherheit wiederzuerkennen?
Antwort: Ich denke schon.
Frage: Haben Sie eine Erklärung für das Vorgefallene?
Antwort: Nein, nicht die geringste.
Frage: Sie sind sich darüber im klaren, daß man Sie – vorausgesetzt, Ihr Bericht
entspricht der Wahrheit – vergiften wollte?
Antwort: Ich weiß nicht, ob man mich vergiften wollte, doch was ich gesagt
habe, ist die volle Wahrheit. Das schwöre ich beim Leben meiner Tochter …
1
Ich legte das Protokoll auf den Tisch zurück, und Scharapow sagte mit
erhobenem Zeigefinger: „Genau.
Er sollte vergiftet werden! Doch weshalb?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Da würde ich eher fragen – wozu?“
„Was ist da für ein Unterschied?“
„Den gibt’s meiner Ansicht nach schon“, ich konnte mir einen spöttischen
Unterton nicht verkneifen. „Das Wörtchen ‚weshalb‘ enthält ein Moment der
Abgeschlossenheit, deutet vielleicht auf einen Racheakt hin. Das ‚wozu‘
hingegen zielt auf den Beginn irgendwelcher bevorstehender Ereignisse.“
„Ach, laß doch die Wortklauberei, du Klugscheißer. Versuch dich lieber in
dem Salat zurechtzufinden. An dem Fall werden wir ganz schön zu knabbern
haben.“
„Völlig deiner Meinung. Nur was mich betrifft – ich bin noch krank
geschrieben.“
„Was denn, sind durch die Krankschreibung vielleicht deine kleinen grauen
Zellen lahmgelegt worden? Du sollst im Augenblick nicht arbeiten, sondern
überlegen.“
„Wenn Sie gestatten, Genosse Scharapow, möchte ich über diese Geschichte
nicht weiter nachdenken …“
Scharapow schob die Brille auf die Stirn, musterte mich eindringlich und sagte
gedehnt: „Wie darf ich das verstehen?“
Ich begann unruhig auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen, nahm dann
aber all meinen Mut zusammen und erwiderte: „Na wie schon? Immerhin
verlangen Sie von mir, daß ich gegen einen meiner Kollegen ermitteln soll.“
„Na und? Bist du mit Posdnjakow näher bekannt?“
„Nein, das nicht … Ich hab’ seinen Namen heut zum erstenmal gehört. Aber
das ändert nichts an der Tatsache, daß wir nolens volens Kollegen sind. Und ich
müßte gegen ihn einzig aus dem Grund ermitteln, weil die Vorgesetzten wissen
wollen, ob Posdnjakow die Wahrheit sagt.“
Der Chef lehnte sich in seinem Sessel zurück, setzte sich bequemer zurecht,
schob die Brille wieder zurück auf die Nase und sah mich aus blinzelnden
Augen aufmerksam an.
„Sprich dich nur aus, du kannst das sehr schön …“
„Was soll ich weiter sagen? Sie wissen sehr gut, daß ich noch nie einen
Auftrag abgelehnt habe. Doch wenn’s bisher immer darum ging, Verbrechern
auf die Schliche zu kommen, würde meine Arbeit hier darauf hinauslaufen,
einem Kollegen auf den Zahn zu fühlen. Ich müßte feststellen, ob er nicht
vielleicht selbst ein Spitzbube ist. Bei diesem Gedanken wird mir hundeelend.“
Ausdruckslos, ohne jede Regung in der Stimme, fragte Scharapow: „Und
warum wird dir dabei hundeelend?“
„Ist das so schwer zu erraten? Nicht nur die Mönche lieben einen guten
Tropfen! Sehr wahrscheinlich wird sich doch herausstellen, daß Posdnjakow auf
Grund der Hitze einfach dem Bier zu kräftig zugesprochen, schlappgemacht und
dann seine Pistole verloren hat. Und nichts da von Vergiftung! Posdnjakow
kommt vor Gericht, Tichonow aber erntet Dank und die Aussicht auf
Beförderung.“
Scharapow schüttelte den Kopf und sagte leicht tadelnd: „Du bist wirklich ein
wertvoller Mensch, Tichonow. Erstens begreifst du in deiner Güte, daß jedem so
was im Leben widerfahren kann. Zweitens bist du anständig: willst nicht
eigenhändig einen deiner Kumpel vor Gericht bringen. Drittens bist du natürlich
auch selbstlos: hast kürzlich erst einen Orden bekommen, nun sollen andere
Gelegenheit erhalten, sich hervorzutun. Daß Posdnjakow bis zum Hals im
Schlamassel steckt, ist schließlich nicht deine Schuld, du hast ja seinen Namen
heut zum erstenmal gehört. Und wenn auch unklar bleibt, ob er durch eigenes
Verschulden in diesen Schlamassel geraten oder von einem anderen
hineingestoßen worden ist, der ihm nach dem Leben getrachtet hat, so sind das
bereits Detailfragen. Weshalb sich ihretwegen den Kopf zerbrechen, den guten
Ruf aufs Spiel setzen, daß man ein rechtschaffener Kerl und prima Kollege ist?