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J.B.METZLER
Stefan Horlacher / Bettina Jansen /
Wieland Schwanebeck (Hg.)
Mannlichkeit
Ein interdisziplinares Handbuch
J. B. Metzler Verlag
IV
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet uber http://dnb.d-nb.de abrutbar.
ISBN 978-3-476-02393-3
ISBN 978-3-476-05196-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05196-7
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Urspriinglich erschienen bei J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2016
www.metzlerverlag.de
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v
Inhalt
Einleitung ......................... 9 Psychologie .......................... 178
Holger Brandes
II Mannlichkeitsforschung ......... 11 10 Rechtswissenschaft .................... 193
Richard Collier
Deutschsprachige Mannlichkeits- 11 Religion und Theologie ................ 204
forschung ............................ 11 Bjorn Krondorfer
Walter Erhart
12 Soziologie ............................ 218
2 Englischsprachige Mannlichkeits-
Michael Meuser
forschung ............................ 26
Todd W. Reeser
IV Kunstlerisch-mediale
3 Mannlichkeitsforschung in Russland
Reprasentationen
und Ostrnitteleuropa ................... 42
und theoretische Ansatze ........ 237
Alexander wall
4 Mannlichkeitsforschung in Frankreich, 1 Film ................................. 237
Italien, Spanien ....................... 52 Uta Fenske
Anne-Marie Sohn
2 Fotografie ............................ 250
5 Mannlichkeitsforschung in Lateinamerika 65 Christoph Ribbat
Julio Cesar Gonzalez Pages
3 Kunst und Kunstgeschichte ............. 256
Bettina Uppenkamp
III Disziplinen und Ansatze ......... 73
4 Literatur ............................. 270
Archaologie .......................... 73
4.1 Deutschsprachige Literatur ......... 270
Linda R. Owen
Toni Tholen
2 Biomedizin: Humanmedizin und Human-
4.2 Englischsprachige Literatur ........ 287
biologie .............................. 82 Rainer Emig
Markus Schubert
4.3 Russische und ostmitteleuropaische
3 Ethnologie ........................... 94
Literatur ......................... 303
Susanne Schroter
Alexander wall
4 Geschichtswissenschaft ................ 104 4.4 FranzQsische, italienische und
Jiirgen Martschukat/Olaf Stieglitz/
spanische Literatur ................ 318
Daniel Albrecht
Gregor Schuhen
5 Linguistik ............................ 127 4.5 Lateinamerikanische Literatur ...... 331
Constanze Spiefi
Dieter Ingenschay
6 Padagogik ............................ 136 5 Musik ............................... 347
Olaf Stuve
Katrin Losleben
7 Philosophie .......................... 154
6 Tanz ................................. 358
Michael Groneberg
Janine Schulze-Fellmann
8 Psychoanalyse ........................ 168
Wolfgang Mertens
VI Inhalt
V Anhang ............................ 371
Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . .. 371
Redaktionelle Arbeit und Obersetzung . .. 371
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 372
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 380
1
I Einleitung
In den vergangenen Jahrzehnten hat Mannlichkeit cal-Correctness-Zeitgeist und dem Diktat »abnor
einen (mehr oder weniger) festen Platz im Feld der male[r] Sexualitat« (ebd., 15).
Geschlechterforschung erlangt und ist liingst nicht (cid:80)(cid:105)(cid:114)(cid:105)(cid:110)~(cid:99)(cid:105)(cid:115) polemische und inakzeptable Attacken
mehr die unmarkierte, unsichtbare Kategorie, als die sind politisch weit rechts zu verorten, stehen aber
sie Michael Kimmel noch 2004 in seinem Buch The durchaus symptomatisch fur das seit einigen Jahren
Gendered Society charakterisiert. In der Geschlech wieder boomende Segment des Geschlechtermani
terforschung, die lange Zeit aus historisch wie auch fests, das mit Titeln wie Miinnerbeben (Hoffmann
politisch nachvollziehbaren Grunden v. a. Weib 2007), Was vom Manne uhrig blieb (Hollstein 2008)
lichkeit, das Weibliche sowie feministische Pers oder Das entehrte Geschlecht (Bont 2012) regelmiillig
pektiven in den Vordergrund geriickt hat, wird auf den Bestsellerlisten auftaucht und in dem vom
nicht liinger so getan, »as if gender applied only to Zeitalter der Misandrie, gar von der Abwertung des
women« (ebd., 6). In Europa existiert mittlerweile mannlichen Genitals zum »Witz des Universums«
eine lebendige Fachkultur, die sich der grundlichen die Rede ist (Bont 2012,11). Als medialer Gesprachs
Erforschung von Miinnlichkeit u. a. aus soziologi anlass wird der >Krisenmann< alljiihrlich heraufbe
scher, psychologischer, historischer, medizinischer schworen, sob aid aktuelle Statistiken dafur Anlass
und literaturwissenschaftlicher Perspektive widmet, bieten: »hardlya day goes by without [an] aspect of
dabei immer mehr Anschluss an die v. a. von der men's position or experience or life figuring in the
amerikanischen bzw. englischsprachigen Forschung mass media« (Hearn/Pringle 2006, 1). Der 2010 er
gepriigten Pionierarbeiten der Masculinity Studies schienene Erste Deutsche Miinnergesundheitsbericht
findet und eine bemerkenswerte Entwicklung vor sieht den Mann beispielsweise in Bezug auf Lebens
weisen kann. erwartung, chronische Erkrankungen und Ptlegebe
Ein anderes BUd zeigt die mediale Auseinander diirftigkeit deutlich im Nachteil (vgl. Bardehle 2010),
setzung mit Mannlichkeit, denn diese erweist sich als und auch aktuelle und durchaus seriose Statistiken
hin-und hergerissen zwischen dem postulierten Im wie die der World Health Organization (WHO) deu
perativ, mit der Zeit zu gehen (was in der populisti ten in die gleiche Richtung.
schen Debatte haufig gleichgesetzt wird mit: Effemi Wcihrend sich die populistische Mannlichkeitsde
nierung in Kauf nehmen, Eintluss abtreten, Werte batte durch die ihr inhiirente Polemik, soweit es ilire
einbiiGen), und der nostalgischen Sehnsucht nach ei >wissenschaftlichen< Grundlagen betrifft, zu weiten
nem angeblich intakteren Zeitalter, als Manner> noch Teilen selbst dekonstruiert, sind die Statistiken (nicht
Manner< sein durften. In diese Litanei stimmen etli nur der WHO) aus ganz anderen Grunden mit Vor
che Mitspieler ein: Mannerzeitschriften kultivieren sicht zu geniefien. Problematisch erscheinen hier die
ihren Fitnessfetisch und ilire Misogynie, ohne dabei, zugrundeliegenden vermeintlich eindeutigen Defi
wie der Kabarettist Hagen Rether bemerkt, analog zu nitionen von Mannlichkeit und Weiblichkeit, die
a
Frauenzeitschriften la Petra oder Brigitte im Titel haufig noch immer voreilig auf augenscheinlich bio
auf Identifikation und Empathie mit dem impliziten logische oder gar genetisch determinierte Fakten re
Leser zu setzen (»Kein Miinnermagazin wurde Gun duziert werden. So ist es - um nur zwei Beispiele zu
ter heiGen!« Rether 2014). Der TV-Sender SAT. 1 be geben - falsch, die in Industriegesellschaften um et
wirbt seinen u. a. mit dem Deutschen Fernsehpreis wa funf Jahre geringere Lebenserwartung der Man
ausgezeichneten Krimi -Erfolg Der letzte Bulle (2010- ner allein auf die Biologie zuriickzufuhren, betragt
14) um einen nach 20 Jahren aus dem Koma erwach die Differenz in klosterlicher Umgebung doch nur
ten hard-boiled Cop und gestandenen Macho, der ein Jahr (Dinges 2010, 5); und auch die statistische
sich in einer Welt der Weicheier nicht mehr zurecht >T atsache<, dass die psychische Gesundheit bei Frau
findet, mit Plakaten irgendwo zwischen Marlbo en laut Zahlen der WHO anfcilliger als die der Man
ro-Mann und Bruce-Willis-Abklatsch, und auch der ner ist, verbirgt, dass Manner bei gleichen Sympto
kontroverse Schriftsteller Akif (cid:80)(cid:105)(cid:114)(cid:105)(cid:110)~(cid:99)(cid:105) trauert in men weit seltener als depressiv diagnostiziert werden
seinem Skandalbuch Deutschland von 5innen (2014) als Frauen (Bardehle 2013,18 f.).
dem »zur Memme transformierten deutschen Doch auch ohne statistische Grundlage ist die Dia
Mann« nach (13). Er wiihnt das vermeintlich >starke< gnose vom >Problemfall Mann bzw. Mannlichkeit<
Geschlecht unter der Knute von Feminismus, Politi- medial allgegenwartig, sei es aufgrund gewalttatiger
2 I Einleitung
Zwischenr.me im groBstadtischen Raum, sei es dass schem, ethnischem und soziokulturellem Kontext
mannliche Jugendliche als Bildungsversager Schlag verschiedenen ,Mannlichkeiten<. Diese Pramisse ei
zeilen machen. Archaische bzw. iiberholte Manner nes pluralen Verstandnisses von Mannlichkeit(en)
bilder stehen zwar auf dem Priifstand, erweisen sich lasst essentialistische Konzepte zunehmend hinter
aber zugleich als (fast) uniiberwindlich. Ob der Mann fragbar werden. Auch Arbeiten aus dem Bereich des
wirklich am Abgrund steht, Hisst sich nicht beantwor dekonstruktiven Feminismus, der Queer Studies und
ten, wenn der Abgrund »genau der Platz [ist], an den der Transgender-und Intersex-Forschung haben die
der Mann gehOrt« (Kalle 2014, o. S.), die vermeintli traditionell gesellschaftsbegriindende Gender-Bina
che Krise also den Normalfall bezeichnet. Dieser wa ritat nachhaltig ins Wanken gebracht, sodass sich
re dann aber keine Krise mehr, sondern ein Zustand. die Frage stellt, ob man, wie dies in einigen Auspra
Zwar scheint das Konzept der Krise auf viele Ty gungen der Mannlichkeitsforschung durchaus ge
pen von Mannlichkeit anwendbar zu sein, doch schieht, die binare Opposition von mannlich und
stellt sich nicht zuletzt aufgrund seiner Dominanz als weiblich als Ausgangspunkt nicht dekonstruieren
vermeintliches Erklarungsmodell die Frage, ob es und Geschlecht als einen performativen Akt auffas
nicht sowohl auf der Objekt- als auch der Beobach sen sollte, »der in der Dbemahme und im wiederhol
tungsebene angesiedelt ist und welche Konsequen ten Vollzug geschlechtlich kodierter Erscheinungen
zen dies zeitigt. Problematisch ist weiterhin, dass das und Verhaltensweisen das jeweilige ,Geschlecht<, die
geradezu inflationare Postulieren einer Krise impli Geschlechtsidentitat und auch die geschlechtlichen
zit die Idee einer nicht -krisenhaften, namlich starken Karper der Akteure immer schon (mit-)hervor
Mannlichkeit als ,normal< befordert und somit nicht bringt« (Erhart/Herrmann 1997, 15).
selten traditionell hegemoniale Strukturen weiter Obwohl diese auf die Arbeiten von Judith Butler
verfestigt. Hinzu kommt ein Widerspruch: einerseits (1990 u. 1993) zuriickgehende Position in der Ge
die mediale Obsession, Symptome fur die vielbe schlechterforschung keineswegs neu ist, setzt sie sich
schworene Krise der Mannlichkeit zu identifizieren in der Mannlichkeitsforschung bedeutend langsa
und das vermeintlich geschwachte ,Alphatier< auf mer durch, was u. a. an der eingangs beschriebenen
diese Weise im Gesprach zu halten, andererseits die Popularitat sozial wie moralisch konservativer, in der
mangelnde Bereitschaft zu einer griindlich kontextu Regel essentialistischer und massentauglicher Pers
alisierenden, geschweige denn interdisziplinar ge pektiven liegen mag. Gerade angesichts dieser Tatsa
fiihrten Diskussion. Gerade Letztere ware dringend che argumentiert Todd Reeser in seinem Beitrag zu
vonnoten, denn bereits der hier rudimentar skizzier Recht, dass Manner sich nicht »aufgrund genetischer
te Problemanschnitt zeigt, dass sich Mannlichkeit als Disposition oder einer Veranlagung im Blut mann
hachst vielschichtiges und widerspriichliches For lich« verhalten, »sondern groBtenteils wei! ihre gen
schungsfeld gestaltet. dered acts Handlungen zitieren oder evozieren, die
Wie die Beitrage des vorliegenden Handbuchs bereits andere vollfuhrt haben - Handlungen, die im
verdeutlichen, liefern sowohl die Natur-, Sozial-und Augenblick Autoritat, Bedeutung und Stabilitat ver
Geisteswissenschaften wie auch die Kiinste wertvolle sprechen«. Mannlichkeit und Weiblichkeit wiirden
Informationen fur die Mannlichkeitsforschung, die demnach endgiiltig von biologischer Determination
sich in der Dberkreuzung dieser Bereiche konstitu losgelost und als »Positionen innerhalb eines histo
iert. Dabei mangeIt es der internationalen wie auch risch und sozial wandelbaren Kontinuums« aufge
der im deutschsprachigen Raum gefiihrten For fasst (Erhart/Herrmann 1997, 15), wodurch tradierte
schungsdiskussion bisher weitgehend an multipers Normen und Restriktionen nicht mehr aufrechter
pektivischen, trans- und interdisziplinaren Verste halten werden konnten und sich dem Individuum
hensmoglichkeiten mannlicher Identitatsbildung. vollig neue Freiraume fern der sonst bei Devianz iib
Die aus den US-amerikanischen und vornehm lichen Diskriminierung boten (vgl. Horlacher 2010).
lich soziologischen Men's Studies der 1980er Jahre Hierbei ist allerdings anzumerken, dass sich >radika
hervorgegangene Mannlichkeitsforschung hat ihre le< (de)konstruktivistische Positionen selbst wieder
frillie Phase der Singularisierung hinter sich gelassen einem Essentialismus- und Binarismusvorwurf aus
und befindet sich Hingst in einer Phase der Pluralisie setzen (vgl. Fuss 1997; DregerI Herndon 2009; Jansen
rung und Partikularisierung. Gegenstand der Unter rim ErscheinenJ). Gleichzeitig gewinnt der Korper
suchungen ist nicht mehr eine als homogen imagi dessen Bedeutung, Konzeption und Rolle weiterhin
nierte, universale Kategorie ,Mannlichkeit<, sondem zu diskutieren bleibt (Grosz 1994; s. Kap. IIL2) - als
die Spezifik der je nach historischem, geographi- bedeutender Faktor geschlechtlicher Identitat in ei-
I Einleitung 3
nigen Bereiehen der Intersex-Forschung wie auch - velopment has reached some sort of intellectual ma
paradoxerweise - in der gemeinhin als konstrukti turity« (2011,24).
vistisch geltenden Transgender-Forschung (Whittle Der von Brod mit diesem Resumee verbundenen
2006, xiii) an Bedeutung, was nieht selten zu einer Aufforderung, das in der Miinnlichkeitsforschung in
Affirmation traditioneller Diehotomien fiihrt (Pros den vergangenen drei Dekaden angesammelte, mitt
ser 1998, 6). lerweile in einer Vielzahl von Buchpublikationen wie
Auf internationaler Ebene hat sich die Miinnlieh auch etablierten Zeitschriften wie Men and Masculi
keitsforschung in den letzten Jahren stark ausdiffe nities produzierte Wissen miisse einer retrospektiven
renziert und berucksichtigt zunehmend Kriterien Siehtung unterzogen werden, solI dieses Handbuch
wie Ethnie, soziale 5chieht, Religion, 5exualitat, Na nachkommen und sie zugleieh in einem wesentli
tionalitat, Region oder Altersgruppe. Insbesondere chen Punkt erweitern. Denn die zumindest teilweise
die englischsprachige Mannlichkeitsforschung be erfolgte grundliche Durchdringung des Gegenstands
tont die Heterogenitat von Mannlichkeit, ihre Diffe in einer Vielzahl von Disziplinen gilt in erster Linie
renz und Vielfalt. 50 fordert Jeff Hearn in einem rur die US-amerikanische Forschungslandschaft, wo
Aufsatz von 2011 nachdrucklich, Miinnlichkeiten in den vergangenen zehn Jahren auch erste Uber
stets als »intersections of gender and other social di blickswerke und Handbucher erschienen sind. Diese
visions« zu konzeptualisieren (91). Ein soleh plurales waren wichtig rur die weitere Entwicklung der
Verstandnis von >Miinnliehkeiten< fiihrt einerseits Mannliehkeitsforschung und verdienen Anerken
zur Dekonstruktion einer in der friiheren Forschung nung. Aus der Sieht einer europaischen Miinnlich
implizit dominant weiB gedachten hegemonialen keitsforschung mussen sie in ihrer Schwerpunktset
Mannlichkeit der Mittelschieht, andererseits mundet zung jedoch teilweise arbitrar und stark amerikazen
es in die Herausbildung einer neuen, mit Compara triert wirken, Letzteres v. a. dann, wenn sie sich - wie
tive Masculinity Studies umschriebenen Forschungs beispielsweise die von Michael Flood u. a. herausge
richtung (vgl. Horlacher 2013), die auch in der gebene International Encyclopedia of Men and Mas
deutschsprachigen Mannlichkeitsforschung an Be culinities (2007) - nominell zur Internationalitat be
deutung gewinnt. kennen. Wahrend Bret E. Carrolls American Mascu
Bestrebungen, uber den Tellerrand der eigenen linities (2003a) einen fast giinzlich an der Popularkul
Disziplin hinauszuschauen und soziale Differenzka tur orientierten Parforceritt durch Ikonen und
tegorien wie Geschlecht zudem nicht in Isolation zu Symbole amerikanischer Mannermythen yom Marl
denken, pragen zunehmend das Selbstverstiindnis boro-Mann bis Davy Crockett vollfiihrt und in erster
der Miinnlichkeitsforschung als immer starker inter Linie »a sense of the scope of the field« vermitteln
disziplinar und intersektional vorgehende Disziplin. will (Carroll 2003b, 2), bemuhen sich Dberblicks
Gerade in der Erforschung des Zusammenwirkens werke wie Men and Masculinities (Kimmel/Aronson
verschiedener sozialer Differenzkategorien und in 2004a), die bereits genannte International Encyclope
der Nutzbarmachung des in unterschiedlichen Wis dia (Flood u. a. 2007) oder Men and Masculinities
senschaftsdisziplinen und Kunstformen bereitge around the World (Ruspini u. a. 2011) starker urn the
stellten Wissens zu Mannlichkeiten wird eine wichti oretische Grundlagen. Die Eintriige zu den gewiihl
ge zukunftige Aufgabe der Mannlichkeitsforschung ten Lemmata beschranken sich allerdings haufig auf
liegen. kurze Steckbriefe, welehe die in Fachern wie Anthro
pologie und Philosophie geruhrten methodologi
schen Diskussionen und die dort verfolgten Ansatze
Bisherige Handbucher und Enzyklopiidien
nur stichwortartig anschneiden konnen, ohne eine
Harry Brod, einer der Griinderviiter der Miinnlich groBere Anbindung an virulente Forschungsfragen
keitsforschung in den USA, argumentiert, dass ange zuleisten.
sichts der vieWiltigen Methoden und Ansatze, die Wiewohl die Herausgeber dieser Enzyklopadien
sich seit den ersten theoretischen Arbeiten uber haufig eine fiber den Kontext der Vereinigten Staaten
Mannlichkeit in den spaten 1980er Jahren ausdiffe hinausgehende Perspektive versprechen, dominiert
renziert haben, die Zeit rur eine Retrospektive inner doch ein Kanon v. a. US-amerikanischer Mannerbil
halb der Miinnlichkeitsforschung gekommen ist: der, der zudem stark selektiv erscheint. So enthalt, urn
»[S]ome critical mass has been achieved, allowing for nur ein Beispiel zu geben, der Band von Michael Kim
the kind of overview self-reflection that is possible mel und Amy Aronson Eintriige zu >p eace<, >t obacco<
only when at least the initial trajectory of a field's de- und >Woody Allen<, allerdings keine zu naheliegen-
4 I Einleitung
deren Stichwortern wie) Ritus<, )m ale gaze< oder )J ohn gerechnet werden (s. u.). Zudem sind die bis dato
F. Kennedy• . Da im Rahmen eines solchen Formats, vorliegenden Dbersichtswerke den Nachweis schul
wie die Herausgeber argumentieren, »breadth over dig geblieben, dass auch ein Handbuch zur Mann
depth« gehen muss (2004b, xiv), ist diese Enzyklopa lichkeitsforschung denkbar ist, das sich nicht aus
die denn auch eher im Verbund mit dem 2005 er schlieBlich (bzw. zum iiberwiegenden Tell) am
schienenen, von Michael Kimmel gemeinsam mit Jeff US-amerikanischen Kontext ausrichtet und dariiber
Hearn und R. W. Connell herausgegebenen Hand hinaus Brods MaBgabe gerecht wird, eine Vielzahl an
book of Studies on Men & Masculinities zu sehen, das Perspektiven zu beriicksichtigen: »actual men, as
in insgesamt runf groBeren thematischen Sektionen they live and experience their lives, and masculinities
die Verflechtungen zwischen Mannlichkeit und an as social structures, embedded in institutions,
deren Diskursfeldern nachzeichnet. Mit dieser Un practices and ideologies, and [ ... J the interplay be
terteilung schlieBen die Herausgeber an die Pionier tween these two dimensions« (2011,29).
arbeiten des Fachs an und teilen deren Anliegen, ei 1m deutschsprachigen Raum existiert bislang kei
nen Querschnitt zu liefern durch »the ways in which ne Publikation, die ein solches Unterfangen in An
men's practices shape masculinities, as well as asses griff nimmt, noch scheint ein Konsens beziiglich der
sing the impact of that construction on ourselves and darin zu verhandelnden virulenten Fragestellungen
others« (Connell u. a. 2005, 8). und Forschungsansatze bzw. Disziplinen zu beste
Dessen ungeachtet beschranken sich viele der hen. Will man die Konstruktion von Mannlichkeit
existierenden Oberblickswerke auf die (New) Men's in ihrer Komplexitat, Fragllitat und Wandelbarkeit
Studies bzw. (Critical) Masculinity Studies sowie eng wie auch in ihrem Zusammenspiel aus nature und
verwandte Fachdisziplinen wie z. B. die Soziologie - nurture, d. h. aus wie auch immer zu gewichtenden
so schOpft die International Encyclopedia of Men and biologischen Faktoren einerseits wld soziokulturel
Masculinities die meisten ihrer tiber 350 Lemmata len, politischen sowie historischen andererseits be
aus den Sozialwissenschaften -, ohne aber zu fragen, greifen, bedarf es jedoch einer Reflexion und Theo
welches Wissen zu Mannlichkeit in anderen Diszipli riebildung, die iiber die englischsprachigen Masculi
nen wie beispielsweise der Anthropologie/Ethnolo nity Studies hinausgeht und sich nicht auf die Mann
gie, der Padagogik, der Psychologie, der Bio-Medizin lichkeitsforschung im engeren Sinne beschrankt,
oder der (auBeramerikanischen) Geschichtswissen sondern auch die von ihr hllufig als >H ilfswissenschaf
schaft existiert. ten< genutzten, manchmal aber auch ganz ausgeblen
Insgesamt haben die gerade genannten und auch deten Fachdisziplinen beriicksichtigt und beispiels
andere Arbeiten rur die ersten 20 bis 30 Jahre US weise konkret fragt, welches Wissen uber Mannlich
amerikanischer Mannlichkeitsforschung eine beein keit die Archaologie, Rechtswissenschaft, Linguistik,
druckende und griindliche Bilanzierung geleistet, Religionswissenschaft und Theologie oder etwa die
auBeramerikanische Kontexte und nicht in engli Bio-Medizin hervorgebracht haben.
scher Sprache publizierte Forschungsergebnisse je
doch kaum zur Kenntnis genommen. Wie jedoch Jeff
Anliegen und Struktur des Handbuchs
Hearn und Keith Pringle, zwei Mitbegriinder des eu
ropaweit operierenden Netzwerks CROME (Critical Das vorliegende Handbuch mochte die wichtigsten
Research on Men in Europe), herausarbeiten, miis natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Pers
sen die rur Europa spezifischen Auspragungen des pektiven wie auch die Kiinste in einem hierarchie
politis chen Spektrums, die jeweiligen historischen freien Ansatz zusammenfiihren, miteinander ver
Entwicklungen und Traditionslinien europaischer netzen und das von den jeweiligen Fachdisziplinen
Kulturraume wie auch die dort geftihrten Genderdis und Ktinsten hervorgebrachte spezifische Wissen
kussionen bei der Frage nach Mannlichkeit und tiber Mannlichkeiten herausarbeiten und weiterden
mannlicher ldentitat zwangslaufig mitgedacht wer ken. Dabei wird einerseits ein Schwerpunkt auf die
den (2006, 11 f.). deutschsprachige und europaische Forschungsland
Damit steht ein fundiertes Nachschlagewerk nach schaft gelegt und andererseits ein Dialog zwischen
wie vor aus, das die wichtigsten theoretischen Pers den primar US-amerikanischen Masculinity Studies
pektiven in Form langerer Artikel versammelt, ohne sowie der in Europa betriebenen Mannlichkeitsfor
dabei Bertihrungsangste vor Disziplinen zu offenba schung hergestellt, d. h. das unbestritten in weiten
ren, die sich zwar mit Mannlichkeit beschaftigen, ge Bereichen fiihrende Wissen der Masculinity Studies
meinhin aber nicht der Mannlichkeitsforschung zu- soll aufgenommen, kritisch hinterfragt sowie durch