Table Of ContentMachtwechsel der Bilder. Bild und Bildverstehen im Wandel
Herausgegeben von Enno Rudolph und Thomas Steinfeld
Kultur – Philosophie – Geschichte
Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern
Herausgegeben von Enno Rudolph und Thomas Steinfeld
Band 10
Machtwechsel der Bilder
Bild und Bildverstehen im Wandel
© 2012 Orell Füssli Verlag AG, Zürich
www.ofv.ch
Alle Rechte vorbehalten
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setzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.
Umschlagabbildung: La fenêtre bleue, Henri Matisse. © 2011, Succession H. Matisse /
ProLitteris, Zürich.
Umschlaggestaltung: Nadja Zela, Zürich
Lektorat, Layout und Bildbearbeitung: Tobias Brücker, Luzern
Korrektorat: Tobias Brücker und Alessandro Lazzari, Luzern
Druck: fgb • freiburger graphische betriebe, Freiburg
ISBN 978-3-280-06024-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort ................................................................................................7
Alles ist Bild.
Statt einer Einleitung
Enno Rudolph ............................................................................................9
Verlorene Meisterwerke. Über einen Mythos
Bernd Roeck .............................................................................................15
Bildverkehr.
Über Bilder von Bildern und den Verlust des Originals.
Oder: Wie man weiß, wo man ist
Thomas Steinfeld ......................................................................................45
Komplexe Bilder: Kommunizierte Wahrnehmung
Dirk Baecker ............................................................................................61
Die Evidenz des Bildes.
Einige Anmerkungen zu den semiologischen und
epistemologischen Voraussetzungen der Bildsemantik
Ludwig Jäger ............................................................................................95
Die Physis des Bildes
Ludger Schwarte .....................................................................................127
Bilderschwund.
Forschen mit optischen Datenquellen
Christoph Hoffmann ...............................................................................143
5
Die Identität des Andern.
Henri Bergson und die Pariser Weltausstellung 1889
Beat Wyss ...............................................................................................161
Mediale Konfigurierung eines Ereignisses.
Der Terroranschlag auf das World Trade Center in
New York am 11. September 2001
Dietrich Erben .......................................................................................179
Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino
Martin Seel ............................................................................................213
«Se non è vero, è ben trovato». Geschichtsklitterung in
italienischen Doku-Soaps
Aram Mattioli ........................................................................................229
Der «Hintersinn» der Bilder.
Embleme barocker Klosterbibliotheken: Rätsel und Argument
Hans-Otto Mühleisen ..............................................................................245
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Geleitwort
Dieses Buch dokumentiert einen Tagungszyklus, den die Stiftung Lucerna
und das Kulturwissenschaftliche Institut der Universität Luzern gemeinsam
durchgeführt haben. Die Stiftung hat das Projekt finanziert, begleitet und
mitverantwortet. Solche Kooperation ist eher unüblich. Aber sie entspricht
den Bestimmungen der Stiftung Lucerna und der Arbeitsweise des Stiftungs-
rates: Die Stiftung «pflegt den interdisziplinären Diskurs – insbesondere im
Bereich der Wissenschaften und Künste – und dessen Vermittlung an eine
interessierte Öffentlichkeit». Damit gibt sie sich einen Auftrag, der eigentlich
allgemein für die Wissenschaften gilt, nämlich gegebenenfalls die Grenzen
der einzelnen Disziplinen zu überschreiten, sei es in der Forschung, in der
Lehre oder in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit.
In diesem Sinn wirkt die Stiftung Lucerna durch jährliche Tagungen
oder Workshops in Luzern. Dabei beschließen die Stiftungsräte nicht nur
die Themen, sondern unterstützen und begleiten auch den Arbeitsprozess des
jeweiligen Projektleiters. Man könnte die Stiftung Lucerna ein kleines, aber
wissenschaftlich anspruchsvolles Bildungsinstitut nennen, wie es schon dem
Luzerner Bankier Emil Sidler-Brunner vorschwebte, der 1927 die Stiftung
gründete, als eine Luzerner Universität noch in ferner Zukunft lag.
Heute «hat» Luzern eine Universität. Und die Stiftung hat es sich nicht
nehmen lassen, mit ihr Beziehungen anzuknüpfen. Fürs Erste mit dem Kul-
turwissenschaftlichen Institut, dem sie in mancher Hinsicht nahe steht. Seit
2002 gehört dessen Leiter, Enno Rudolph, auch dem Stiftungsrat an. Aus
dieser günstigen Konstellation hat sich das dreijährige Tagungsprojekt erge-
ben. Im Auftrag des Stiftungsrates hat er es geleitet und zugleich in den Stu-
dienbetrieb seines Instituts einbezogen. Es führt mitten in den heute ebenso
notwendigen wie lohnenden Diskurs zum Thema «Bild».
Ein besonderer Dank gilt Herrn Tobias Brücker und Dr. Alessandro
Lazzari für die ebenso kompetente wie geduldige Herstellung des druckfä-
higen Manuskripts, ohne die der Band nicht hätte zustande kommen können.
Für den Stiftungsrat:
Rudolf Meyer
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Alles ist Bild.
Statt einer Einleitung
Enno Rudolph
Im Zeitalter der perfekten Visualisierungstechniken ist es zur totalen Erfas-
sung der Lebensverläufe durch das Bild gekommen. Was im Bild erfasst ist,
gilt als wirklich, tatsächlich oder gar wahr. Die Welt ist ihre Visualisierung.
«Die Welt ist es, die mittels des Bildes ihr eigenes Selbstporträt macht».1 Dem
Bild wird vertraut im Wissen um seine Nachträglichkeit, seine Abhängigkeit
und seine Abbildhaftigkeit – gerade letzteres gilt als Authentizitätsbeweis.
Ihm wird vertraut wegen seiner über allen Zweifel erhabenen Repräsenta-
tionsperfektion – garantiert durch den optimalen Standard der Visualisie-
rungstechniken. Das Bild ist zwar mehr denn je abhängig vom Original, das
es bloß vermittelt, aber es ist mehr denn je in der Lage, die Abwesenheit des
Originals zu kompensieren, obwohl es dieses nur vermittelt. «Wir schalten
jetzt direkt zu….»: die folgenden Bilder «sind» die Welt – in der Wohnstube.
Ontologie und Repräsentation fallen zusammen – ein alter Philosophenkon-
flikt wurde ebenso elegant wie zeitgemäß gelöst, das Trauma von der Uner-
reichbarkeit der fernen Welt ist überwunden. Die Ambivalenz, dass für jedes
Bild schon semantisch seine Defizienz mitgesagt und mitgegeben ist, dass
es, wie getreu die Wiedergabe auch immer sein mag, immer «nur» ein Bild
bleibt, wird nicht erlebt. Im Gegenteil: das Bild vertritt nicht nur auf authen-
tische Weise das Original – es verdrängt es wie sein Über-Ich.
Was Helmuth Plessner einmal generell von jeder Übersetzung behaupte-
te – jede Übersetzung sei ein «Verrat am Original»2 – gilt natürlich gleicher-
maßen von der bildlichen «Übersetzung» des Originals in sein Abbild: das
Original wird um seine Unvertretbarkeit geprellt. Es wird kopiert, es wird
1 Baudrillard (2010), 88.
2 Vgl. Plessner (2003), 316.
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multipliziert, es wird in den Schatten gestellt, sobald die Reproduktionen das
erste «Blitzlicht der Welt» erblickt haben, ähnlich wie eine Originalmedizin
ersetzt wird durch sein Generikum, das billiger ist, obwohl ihm stets irgend-
eine wesentliche Eigenschaft fehlt. Niemand merkt es: das ist das Geheimnis
des Markterfolgs der nachgeahmten Welt, so wie das des Schattenspiels in
Platons Höhle: solange niemand weiß, dass die Figuren Schatten sind, ist die
Welt «in Ordnung». Und – ebenfalls wie bei Platon – niemand will es wissen.
Darauf setzt die Bilderproduktion: niemand fragt nach dem Original, weil
niemand es vermisst. Von dieser Manipulierbarkeit, von jenem Verrat zehrt
jede Bildpolitik. Nota bene: es kommt hinzu, dass Platons im besagten Gleich-
nis erzielte Wirkung einer Sehnsucht nach dem Original, dem ursprünglichen
Licht als Symbol des Guten, im Kontext unverständlich scheint: Platons Welt
ist nach seinem eigenen Bekunden nämlich ein Bild, erstellt nach einem Ori-
ginal, das überhaupt erst als Bild die Wirkung erhält, die sein Zweck ist: bei
Platon ist also das Original abhängig von seinem Abbild; ohne dieses bleibt
es defizitär. Nur – dieser philosophische Mythos weiß es sogar: wenn die Welt
ein authentischer Lebensraum sein soll, dann darf sie nicht second hand sein.
In Platons Bildwelt fallen Original und Bild zusammen.
Der Befund von der modernen Welt, die ihre eigene Visualisierung ist,
bleibt vor diesem Hintergrund zwiespältig: als Ergebnis der Gegenwartsdia-
gnose ergibt sich, dass Visualisierung, verstanden als die mit ihrem Bild iden-
tisch gewordene Welt, zu einer Methode der Vergleichzeitigung geworden
ist. Visualisierung schafft Partizipation aller an allen und allem – Akteure
an jedem Teil der Welt können sich ihrer Zuschauer an jedem anderen Teil
gewiss sein: frei nach Kant kann ein Unrecht, das an irgendeinem Teil der
Welt begangen wird, nunmehr an jedem anderen Teil der Welt gesehen wer-
den – Kant musste noch auf die Solidarität des Gefühls setzen, während im
Zeitalter der totalen Visualisierung auf die Augenzeugenschaft gesetzt werden
kann: die Welt ist ein panoptisches Subjekt und Objekt in einem.
Und noch etwas: nie wurde – philosophisch gesprochen – die Gegenwart
so wenig zwischen Vergangenheit und Zukunft zerrieben, wie «gegenwärtig».
Das dem Auge vermittelte Geschehen bedarf nicht nachträglicher Beglaubi-
gung ungebrochener Gültigkeit; als Nachricht über das Jetzige im Jetzt kennt
es kein Verfallsdatum. Geschichte wird vor ihrer Vergänglichkeit bewahrt,
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