Table Of ContentNordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften
Geisteswissenschaften Vorträge· G 354
Herausgegeben von der
Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften
OTTO PÖGGELER
Lyrik als Sprache unserer Zeit?
Paul Celans Gedichtbände
Westdeutscher Verlag
404. Sitzung am 15. Oktober 1997 in Düsseldorf
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Pöggeler, Otto:
Lyrik als Sprache unserer Zeit?: Paul Celans Gedichtbände I
Otto Pöggeler. - Opladen; Wiesbaden: Westdt. Ver!., 1998
(Vorträge I Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften:
Geisteswissenschaften; G 354)
ISBN 978-3-663-01785-1 ISBN 978-3-663-01784-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-01784-4
Alle Rechte vorbehalten
© Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1998
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Gedruckt auf säurefreiem Papier.
Herstellung: Westdeutscher Verlag
ISSN 0944-8810
ISBN 978-3-663-01785-1
Inhalt
Einleitung .................................................. 7
I. Die Anfänge in Czernowitz und Bukarest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 10
11. Zwischenstation Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 17
IH. Neubeginn in Paris ....................................... 20
IV. Der Bruch im Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26
V. Philosophie und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32
VI. Mit Eckhart und Hölderlin in Jerusalem ...................... 37
Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 42
Einleitung
Das Verhältnis der Politik zur Kunst und speziell zur Dichtung ist immer
schwierig gewesen. Das zeigt etwa die Beziehung der römischen Kaiser zu den
Dichtern. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war in seiner
Nüchternheit eher indigniert, als Novalis in des Königs Ehe die Einigkeit im
Staat vorgebildet sehen wollte. Konnten "Poeten" die Herrschenden hin
weisen auf die wirkenden Mächte oder waren sie nicht umgekehrt deren
Weisungen unterworfen? In unserem, dem zwanzigsten Jahrhundert prägte
sich unauslöschlich ein, wie totalitäre Staaten Kunst und Poesie zu gängeln
und zu manipulieren suchten. Die Revolution in Rußland war zuerst begleitet
durch eine neue Dichtung und Kunst; doch deren Freiheit wurde bald brutal
unterdrückt. Mit dem Nationalsozialismus verband sich die Vertreibung der
führenden Dichter und Künstler und schließlich gar ein neuer Bildersturm.
Die einstige DDR hatte einen Arbeitersohn wie Reiner Kunze direkt zum
Dichter ausgebildet; er hat in der Tat in seinen Anfängen seinem Staat in
erschreckenden Versen gehuldigt. Die Lyrik verlangt aber ein spontanes
Sprechen; als dieses sich meldete, blieb dem Staat nur die Möglichkeit, seinen
Dichter aus dem Lande hinauszuwerfen. Das war dann wieder die alte
Geschichte.
Wenn die Demokratien die Teilung der Gewalten ausbauen, können sie auch
Politik und Kunst trennen, also den Künsten ihren eigenen Spielraum lassen.
Wird die Kunst aber nicht allzu harmlos, wenn sie sich nicht in die öffentlichen
Angelegenheiten einmischt? Die Vertreter des Staates müssen von ihrer Seite
aus wenigstens an den Fest- und Gedenktagen an jene gemeinsame geistige
Substanz erinnern, die von der Politik vorausgesetzt wird, aber von ihr nicht
aufgebaut werden kann. Zum 50. Jahrestag der sog. Kristallnacht rezitierte Ida
Ehre, als Schauspielerin jüdischer Herkunft auf schwierigen Wegen durch die
zwölf Jahre der Diktatur gerettet, kurz vor ihrem Tod Celans Todesfuge
im Deutschen Bundestag. Die Worte des Dichters überführten die sonst
untadelige Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger mangelnder
Betroffenheit, so daß er (was beabsichtigt war) gestürzt werden konnte. Bleibt
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nicht doch die Dichtung das Maß auch politischen Sprechens, wenigstens ein
Korrektiv in herausgehobenen Stunden der Besinnung?
Paul Celan selbst überlebte die Kriegsjahre in einem rumänischen Arbeits
lager, während seine Eltern in der okkupierten Ukraine ermordet wurden. Er
sagte mir einmal von der Todesfuge, er habe dieses Gedicht geschrieben, als die
ersten genaueren Nachrichten von den Zwangs- und Vernichtungslagern ge
kommen seien. Die Stimmen der Geschundenen und in den Tod Getriebenen
werden im Gedicht hörbar. Die Zeile vom Tod als dem Meister aus
Deutschland wurde zum Schlagwort. Bald aber wurde gefragt, ob dieses
Gedicht nicht ein grauenvolles Geschehen ästhetisiere. Adorno dagegen
änderte sein Dictum, nach Auschwitz könne es kein Gedicht mehr geben,
dahin, daß das Gedicht von Auschwitz her kommen müsse. Was soll uns Lyrik
denn überhaupt noch bedeuten, wenn sie nicht von den grundstürzenden
Erfahrungen betroffen ist? Celan selbst hat den weiteren Abdruck seines
berühmtesten Gedichts untersagt, als es lesebuchreif gedroschen und zum
Gegenstand des Schulunterrichts geworden war. Das Gedicht sollte nicht zum
Alibi werden, das von der konkreten Übernahme der Vergangenheit entlastet.
Doch nach Celans Tod ist das Gedicht vielfach komponiert, auch durch ein
deutsch-jüdisches Tanztheater aufgeführt worden. Zwar schreibt man
"Holokaust" im Deutschen immer noch mit einem "c", als ob das Wort
amerikanisch bleiben müsse und nicht ganz einzudeutschen sei. Im Bereich
der Denkmale sind die Deutschen jedoch Experten, die schon auf Export
möglichkeiten hoffen dürfen; doch das Holokaust-Denkmal bleibt wie Celans
Todesfuge ein Problem: eine ästhetisch und "museal" gelungene Lösung
neutralisiert zu sehr. Celan selbst hat die Todesfuge niemals widerrufen oder
zurückgezogen; seine Frage war vielmehr: Wie kann man mit der ungemilder
ten Erinnerung an das Geschehene leben? In diesem Sinn hat er fünfund
zwanzig Jahre lang nach der Todesfuge von 1944/45 seine Gedichte ge
schrieben.
Um eine Besinnung zu wecken, hat Celan seine Gedichte immer wieder in
deutschen Städten gelesen. Für den Eisenbahnfahrer war dabei Köln das Tor
zum Norden und Westen Deutschlands. Doch das Gedicht Köln, Am Hof ver
weist auf noch ungesehene Dome, unbelauschte Ströme, auf "Uhren tief in
uns", deren Zeitangabe erst noch zu entziffern ist. Celan sagte einmal, von
Köln, Am Hof (statt vom Cafe Reichardt, dem üblichen Treffpunkt) habe er
gesprochen, weil ihm Wien, Am Hof im Sinn gelegen habe. Wien war für die
Bewohner des einstigen österreichischen Kronlandes Bukowina, der Heimat
Celans, das Traumziel; die Ortsangabe Am Hof erinnert immer noch daran,
daß die Babenberger dort dem Minnesang einen Ort gaben und z. B. Walther
von der Vogelweide auftreten ließen. Viele jüdische Emigranten passierten
Lyrik als Sprache unserer Zeit? 9
dann noch Wien, um in Köln oder Düsseldorf eine neue Beheimatung zu
finden. So hatte es seinen tieferen Sinn, daß das Land N ordrhein-Westfalen
1964 seinen großen Kunstpreis an Paul Celan verlieh. (Daß dieser Preis immer
wieder an bedeutende Maler und Dichter ging, ist bekanntlich vor allem ein
Verdienst von Herrn Paul Mikat, dem langjährigen Kultusminister unseres
Landes, der heute designierter Präsident unserer Akademie ist.) Als Celan
seinen Preis in Düsseldorf entgegennahm, konnten seine Bekannten aber nur
erschrecken. Er war gezeichnet durch schwere Krankheit, gequält von
Verfolgungsvorstellungen: Absurde Plagiatsvorwürfe waren zeitweise weiter
getragen worden.! Doch schon Rousseau hatte gewußt, daß Literaten und
Künstler uns die Schrecken enthemmter Konkurrenz zeigen. Heute kann man
ohne Anspruch auf medizinische Genauigkeit etwa sagen, daß eine anlage
bedingte Schizophrenie sich mit Depressionen in immer neuen Schüben
meldete. Als Celan 1967 wieder einmal aus der Klinik entlassen wurde, kehrte
er nicht mehr in die Wohnung seiner Familie zurück, denn in der Zeit des
Anfalls war er eine Bedrohung. Nach einer psychotherapeutischen Be
handlung (durch den bekannten Züricher Psychiater Feldenkrais) glaubte
Celan sich geheilt. Er reiste 1969/70 z. B. nach Jerusalem, nach Bonn und nach
Freiburg. Er hatte viele neue Pläne (z. B. wollte er Wuppertal und Bochum
sehen, weil man dort sehr früh schon, nämlich 1958 und 1967, die graphischen
Arbeiten seiner Frau ausgestellt hatte).2 Doch der Patient Celan hatte seine
Schwierigkeiten: An Medikamente konnte er sich nicht binden, da sie ja auch
sein Dichten abtöteten. So holte die Krankheit ihn ein: Am 1. Mai 1970 zog
man ihn tot aus der Seine.
Am 15. Dezember 1967 hat Paul Celan anläßlich einer Reise nach West
deutschland und nach Berlin in einer Art testamentarischer Verfügung ge
beten, der befreundete Germanist Beda Allemann möge seine Gedichte und
seine Übersetzungen gesammelt herausbringen. Diese Aufgabe stellte sich
nach seinem Tod mit besonderer Dringlichkeit. Es hatte etwas Einmaliges,
wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft alsbald eine Unterstützung für
die Edition des Gesamtwerkes eines gerade Verstorbenen gab. Doch der erste
I Vgl. Edith Silbermann: Begegnung mit Paul Celan. 2. Aufl. Aachen 1995. S. 68 f. - Zum Gedicht
Köln, Am Hof vgl. Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Beda Allemann
und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Frankfurt a. M. 1983. Band I, S. 177.
Römische und arabische Ziffern im Text verweisen im folgenden auf die Bände und Seiten
dieser Ausgabe.
2 Vgl. den Ausstellungskatalog GiseIe Celan-Lestrange (9.V. - 4.VI.1967). Städtische Kunst
galerie Bochum. - In Wuppertal hatte Celan im Oktober !957 mit Ingeborg Bachmann,
Heinrich Böll, Pet er Huchel und anderen diskutiert; vgl. Hans Mayer: Der Repräsentant und
der Märtyrer. Frankfurt a. M. 1971. S. 171.
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Ansatz führte nicht zum Ziel. Durch die freundliche Hilfe des Herrn
Ministerpräsidenten Johannes Rau, des Kurators unserer Akademie, konnten
die Bedingungen für einen neuen Anfang erfüllt werden. Die Celan
Forschungsstelle in Bonn wurde gesichert; die Akademie begleitete die Arbeit
mit einer Celan-Kommission. Walter Hinck hat in seinem Akademie-Vortrag
Das Gedicht als Spiegel der Dichter gezeigt, daß Celan in der Tat eine einmalige
Rolle in der deutschsprachigen Nachkriegslyrik zugefallen ist.3 Inzwischen
gibt es viele editorische Bemühungen um Celans Werk. Der Bonner Ansatz hat
selbstverständlich seine Besonderheiten. Er folgt jener editorischen Ver
fahrensweise, die von Hans Zeller für die Conrad Ferdinand Meyer-Ausgabe
ausgebildet worden ist; er will textgenetisch das Dichten als einen Prozeß mit
den Stadien vieler Entwürfe sichtbar machen.4 Man mag fragen, ob die Absicht
auf Textgenese nicht eher einem Autor wie Paul Valery entspricht, weniger der
Absicht Celans. Doch bleibt von diesen spezifischen Planungen die Aufgabe,
an einer Stelle Celans überlieferte Texte vollständig wiederzugeben, also ohne
eine eigene Selektion, die ja immer umstritten bleiben wird. Zeigt die Folge der
Gedichtbände, daß Lyrik die Sprache unserer Zeit nach ihren Tiefen hin ver
mittelt? Vorweg schon darf man festhalten, daß in diesen Gedichtbänden eine
ganz bestimmte Stimme spricht, sogar eine Stimme, die jede Schulbildung und
Nachfolge ausschloß. Welche Rolle diese Stimme in einer Verständigung über
uns und unsere Zeit haben kann, soll von ausgewählten Gedichten her erörtert
werden.
1. Die Anfänge in Czernowitz und Bukarest
Im Jahre 1951 veröffentlichte die Wien er Zeitschrift Wort und Wahrheit ein
kleines Gedicht eines noch unbekannten Autors. Dieser war 1920 in
Czernowitz geboren worden. Doch nun gebrauchte er nicht mehr seinen
guten jüdisch-deutschen Namen Antschel; vielmehr bildete er aus der rumäni
schen Form durch ein Anagramm den Namen Paul Celan. Mit dem Namen
Antschel, so bemerkte er einmal mir gegenüber, wäre er als Lyriker so wenig
anerkannt worden wie mit dem Namen Glatzkopf. Das titellose Gedicht lautet
(v gl. III, 132):
3 Vgl. Walter Hinck: Das Gedicht als Spiegel der Dichter. Zur Geschichte des deutschen poeto
logischen Gedichts. Opladen 1985.
4 Vgl. dazu das Bonner Symposion vom November 1995: Lesarten. Beiträge zum Werk Paul
Celans. Hrsg. von Axel Gellhaus, Andreas Lohr. Köln, Weimar, Wien 1996. - Zum folgenden
vgl. meinen Beitrag: Textgenese - Ein verbotener Weg? Cclans "Gletscher". In: Die Genese
literarischer Texte. Hrsg. von Axel Gellhaus. Würzburg 1994. S. 175 H.
Lyrik als Sprache unserer Zeit? 11
Wie sich die Zeit verzweigt,
das weiß die Welt nicht mehr.
Wo sie den Sommer geigt,
vereist ein Meer.
Woraus die Herzen sind,
weiß die Vergessenheit.
In Truhe, Schrein und Spind
wächst wahr die Zeit.
Sie wirkt ein schönes Wort
von großer Kümmernis.
An dem und jenem Ort
ists dir gewiß.
Nach der ersten Strophe will die Welt nicht mehr wissen, was die Zeit ihr
bringt; das Leben feiert sein Blühen und Reifen im Sommer wie einen
hemmungslos gegeigten Tanz; doch neben diesem Lebensdurst vereist ein
Meer. Celans Eltern kamen im Schnee und Eis der Ukraine um, und so mag das
vereiste Lebensrneer auf das hingemordete Judentum des Ostens weisen.5 Die
nächste Strophe gebraucht köstliche alte Worte: Die Vergessenheit bekommt
eine aktive Rolle; sie weiß um die Herzen und läßt in Truhe, Schrein und Spind
die Zeit zur Offenheit und Wahrheit heranwachsen. Die Zeit wirkt auf diese
Weise nach der dritten Strophe ein schönes Wort von großer Kümmernis. Die
Schönheit ist dem Kummer um das Zerstörte und Verlorene anvertraut und
bildet das Wort des Gedichts. Die drei Strophen sind in traditioneller Weise
gereimt. Die drei Jamben der Verse werden jeweils im vierten Vers auf zwei
verkürzt und geben den Strophen so einen lakonischen Schluß. Dieser Schluß
führt vom vereisten Meer über das Wahrwerden der Zeit im Verborgenen zu
jener Gewißheit, die dem Dichter seine Sprache gibt. Kann er, nach allem was
geschehen ist, noch Schönheit suchen, und das gar in solchen traditionellen
Formen?
Im Jahre 1946 sollte eine Anthologie De profundis zeigen, wie Lyrik in
Deutschland in der Zeit der Diktatur und des Krieges gegen das offiziell
Verordnete gesprochen hatte. Diese Stimmen sollten so bleiben, wie die
Sonette, Choräle und Sprüche der barocken Lyriker den schnell verwelkten
Feldherrnruhm und die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges überdauert
5 Vgl. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a. M. 1979.