Table Of ContentLIEBESKUNST
Elke Clauss
Liebeskunst
Untersuchungen zum Liebesbrief
im 18. Jahrhundert
VERLAG 1. B. METZLER
STUTTGART· WEIMAR
Die DeutscheBibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Clauss, Elke:
Liebeskunst:UntersuchungenzumLiebesbriefim18.
JahrhundertI ElkeClauss.- Stuttgart;Weimar :Metzler,1993
(MetzlerStudienausgabe)
ISBN978-3-476-00886-2
ISBN978-3-476-00886-2
ISBN978-3-476-03453-3(eBook)
DOl 10.1007/978-3-476-03453-3
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© 1993Springer-VerlagGmbHDeutschland
UrsprunglicherschienenbeiJ.B.MetzlerscheVerlagsbuchhandlung undCarlErnstPoeschel
Verlag GmbHin Stuttgart 1993
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Inhalt
Seite
Einleitung 9
I. DerBriefwechselzwischenMetaMoller und FriedrichGottliebKlopstock 17
1. Dasideale Paar 17
2. .. meinsanftesungestiimesHerz 24
3. Die hchere Wirklichkeitder Liebe 45
4. Die Poesieder Namen 63
5. DerpoetacreatordesWirklichen 76
II. DerBriefwechselzwischenEvaKonigund GottholdEphraimLessing 83
1. Ein BildundseinSchatten 83
2. Der DialogiiberdenDialogunddiePausen 88
3. Korper-Arrangemenrs 108
4. DieUnwahrscheinlichkeit desGliicks 125
III. JohannWolfgangGoethe an CharlottevonStein 139
1. einliterarisches Meteor 139
2. DieKlagedesZeichners 146
3. Selbstvergewisserungen 162
4. Die Liebe undder Leib 171
5. Leiden undLeidenschaft 185
6. DasEnde:Werthers zweiterTod 195
IV. Heinrich vonKleistanWilhelmine vonZenge 201
1. .....obdieVertrage der Liebendengelten konnten, weilsieinder
Leidenschaft geschehen ?" 201
2. DieAufklarungdesWeibes 211
3. Der Geheimbundder Liebe 236
Exkurs:Die PriifungKathchensunddiePhantasie desGrafen 244
4. "IstesaufReisen,daBmanGeliebtesuchetundfindet? 251
v.
DieKunst zuIieben 271
Literaturverzeichnis 277
1. Ausgaben 277
2. Darstellungen 278
3. Nachschlagewerke 291
DieBrieferichtigzubeurteilenistunmiiglich;
siewechseln[ortwiihrendihren Wert.
Kafka, Das SchloB
Wenneswahrware, dafJmanMiidchenmitderSchrift
bindenkann?
Kafka an Brod
AuchdiewahrstenBriefesind...nurLeichen...
deswegen kiimmtesmirabervor(wennichlese, wasich
voreinigerZeitgeschriebenhabe),alssiiheichmichim
SargliegenundmeinebeidenIchsstarrensichganz
verwundertan.
Giinderodean C.Brentano
IchkannmichschweraufdemPapierausdrucken; ich
bineinSchriftsteller.
Brechtan M.Zoff
Einleitnng
Arsamatoria nannte Ovid sein Lehrgedicht der Liebeskunst, eine Systematisierung der
unterschiedlichstenerotischen StimmungenundzugleicheineUnterweisunginderartige
Situationen. Verstand sich hier 'Kunst' durchaus noch im Sinne von allgemein prakti
scher und besonders rhetorischer Fertigkeit, so ist mit dem Erscheinen von Baumgar
tensAesthetica (1750)Kunstfiirdas 18.Jahrhundertverbindlichneu definiert. Ungeach
tet der fortan,sei es auch voriibergehend, reklamierten Autonomie asthetischer Kunst,
erschien 1794anonyminBerlin einBuchDieKunstzulieben. EinLehrgedichtindreiBii
chern,dasnicht nuriiber denTitel, sondern auchimVorwort den ausdriicklichen Bezug
zuOvidherstellte-unduntergleichemTitel demVerfasser postwendend einen Verweis
indenXenieneinhandelte.
"Auchzum LiebenbedarfstduderKunst?Ungliicklicher
Manso,
DaBdieNaturauch nichts,gar nichts fur dich noch
getan!"!
Autor dieser 'ars amatoria'warder SchriftstellerJohannKaspar Friedrich Manso.Nicht
urn Kunst als asthetischer Form, sondern urn Kunst im Sinne einer optimal genutzten
Praxis der Moglichkeiten ging es Manso in seinem Leitfaden der Eroberungs- und Si
cherungsstrategien, in deren Rahmen dann auch asthetische Kunst ihre Funktion
erhielt, sofern sie sich als operationalisierbar erweisen konnte. Gleich doppelt bewies
der Verfasser sein unzeitgemalles Epigonentum, denn waszu OvidsZeiten Kunst, was
Liebe war, hatte das 18. Jahrhundert schon lange neu formuliert. Zum ProzeB der
Loslosung von der Rhetorik gehorte nicht nur die Erfindung der Asthetik im 18.
Jahrhundert,sondern ebenso die der Liebe. Dies wird im folgenden kurz zu umreiBen
sein.
Mit der Entzauberung der Welt, hervorgerufen durch zunehmende Naturbeherr
schungund Zentrierung des Weltbildes auf den Menschen hin,2schufdas 18.Jahrhun-
1 Goethe,Xenien(1986):16.
2 Vgl.Kuhn(1975):166.
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dert eine neue Differenzierung gesellschaftlicher Strukturen. Statt der alten sozialen
Gefiige,iiber dieder Menschsichbisherzudefinieren wuBte,trat ernun einineine he
terogene Welt,inder ersichaufsichselbstbezogenerfuhr und mitseiner Individualitat
zugleichseine Einsamkeit entdeckte. Eine Konsequenz dieser religiosund sozial man
gelnden Verortung war die Ausgrenzung des Privaten aus dem offentlichen Bereich.'
Anders alsesetwa demHeros desAlterums inder Welt erging,lieBsichdas Eigene in
der wachsenden Anonymitat der biirgerlichen Offentlichkeit nicht mehr erfahren. Ein
bekanntes Zitat des Wilhelm Meister faBtdiesen Zustand Werner gegeniiber so: "Ein
Biirger kann sich Verdienst erwerben und zur hochsten Not seinen Geist ausbilden;
seine Personlichkeit geht aber verloren, er magsichstellen,wieer will." Personlichkeit
imSinne einer ausgezeichneten Individualitat hatte sichnun im Privaten zubewahren.
Als Spielraum individueller Entscheidungen und Resonanzraum eigener Wirklichkeit
entwickeltesichdieneue Privatsphare zumKristallisationspunkt emotionalerEnergien.
Wo der Heros noch aus der Totalitat von Menschsein durch seine Tat der Welt eine
Form zu geben verstand-, konnte der Biirger nurmehr aufwarten mit moralischer Ge
sinnung, Gefiihl und Reflexion, die mit dem intim-personlichen Feld den ihr entspre
chenden Rahmen erhielt. Durch diese Verlagerung der Offentlichkeitsstrukturwar die
Moglichkeitgegeben, Aktion und Tat auf dem Gefiihlssektor zu erleben. Und dies urn
somehr, alsFreundschaft und Liebe inihrer Eigenschaft der "amhochsten individuali
sierten Formen der personlichen Beziehungen"6 genau jenes Gegeniiber bereitstellten,
das die personale Individualitat als ausgezeichnete und unverwechselbare im Kommu
nikationsaktbestatigte.
Wozu braucht die Liebe den kommunikativen Austausch? Was in der Liebesfor
mel'Ich liebeDich' paradigmatischzurGeltungkommt,istdasAngewiesenseindesIchs
aufeinGegeniiber. Erst dasDu kann,soNeumann, dieFrage nach demIchund der ei
genen Identitat beantworten, als Frage,die an die Liebe gestellt wird.?Mithin Bestati
gungdessen,wasalsFeststellungdesAndersseinsund alsForderungnach Unvergleich
lichkeit dem biirgerlichen Individualitatskonzept implizierte, hob das 18. Jahrhundert
die traditionell alsgegensatzlichverstandene Zweiteilung von Liebe und Ehe auf,"Mit
der Einfiihrungder Liebe als emotionaler Basisfiirdie Ehe wurde Liebe jetzt zur fina
len Konzeption (lebenslang) und verlangte aufgrund dieser Zukunftsorientiertheitjene
3 DazugrundsatzlichHabermas(1969).
4 Goethe,WilhelmMeistersLehrjahre,HABd.7(1988):290.
5 VgJ.Schlaffer(1981):15-50.
6 Tenbruck(1964):445.
7 Vgl.Neumann(1986):11und15.
8 DazugrundsatzlichLuhmann(1984):bes.Kap.10und11.
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Einmaligkeit der Person und der Liebe, die als neue Zentralwerte das spezifisch mo
derneund spezifischbiirgerlicheLiebesempfindendefinierten.
Warum braucht die Liebe den Brief? Das Schreiben iiber Gefiihle ist etwas an
deres als das Reden iiber Gefiihle.Die prinzipielle Mehrdeutigkeit, die schriftlicherwie
gesprochener Sprache grundsatzlich eignet, erfahrt in der Unmittelbarkeit des Ge
sprachs bestimmteDeutungshilfen.SeiesdieAtmospharederGesprachssituation,seies
Betonungund Rhythmus der Rede oderdie den Sinn der Rede begleitende Gebarden
sprache, immer steuert der Korper seinenTeil zur Rede bei,?Ganz anders das Schrei
ben. Aufgrund des zumindest verschobenen Dialogs bleibt immer nur ein Nach- oder
Vorgefiihl, eine Erinnerung beziehungsweise eine Zukunftsprojektion, die niemals Ge
genwart besitzt.l'' In dieser Differenz ist das Schreiben angesiedelt. Mit der Beherr
schung der Schrift erhaltdas DenkenseIber eine neue Oualitatund die schriftliche Mit
teilung im Unterschied zur miindlichen eine andere Pragnanz." Damit eroffnen die
Merkmaledes schriftlichen Verkehrsgerade dem Liebesbriefbesondere Moglichkeiten,
denn aus der literalenUneindeutigkeitkann ein semantischerMehrwertentspringenals
"proportionale Mehrheit rnoglicher Deutungen".'? Soleh eigentiimlicher Vertiefung der
intimen Korrespondenz entsprichtandererseits das hermetische Schweigendes Nichtge
schriebenen: "Darum ist der Brief, trotz oder, richtiger, wegen seiner Deutlichkeit, viel
mehralsdie Rede der Ort der 'Deutungen'und deshalb der Mibverstandnisser.P
In der Mischung von Bestimmtheit und Vieldeutigkeit aber liegt der Reiz und die
Moglichkeit der Imagination.Denn gerade das Geheimnis des Anderen zu ergriinden,
darin lagdie dezidierte Aufgabedes Liebesbriefes.Wassichin der Unmittelbarkeitdes
Gesprachs und der Korper unter Umstanden zur Eindeutigkeit verfliichtigt, das kann
die Schrift des Briefes iiberihre Reprasentationsfunktion hinaus an Imaginarerngewin
nen.Insofern beherrschtder Briefein weites Feld des Changierens,indemer die Imagi
nation als potentielles Moment seines Schreibens voraussetzt. Damit aber konnte sich
diese Form des Schreibens als konstitutivfur das erweisen, wasLiebe dann ist.Denn es
sind zweigleichzeitige Prozesse, die im 18.Jahrhundert zu beobachten sind: Der Wan
delderLiebesauffassungund die GenesedesLiebesbriefes.
Wenn Nickisch bei seiner Wesensbestimmung von Briefl4 auf die konventionali
sierten Formen der Textbegrenzung hinweist, wenn er das Medium als "Vehikel einer
9 Vgl.Bosse(1983):43-53.
10 Vgl.Mattenklott(1983):132-162undVellusig(1991):78-92.
11 Vgl.Vellusig(1991):70-74.
12 Simmel(1908):381.
13 Simmel(1908):382.
14 Vgl.imfolgendenNickisch(1991):9-12.