Table Of ContentA Leibhaftig -
Doppelripp und
Spitzentraum
Husum
Leibhaftig -
Doppelripp und
Spitzentraum
Zur Kulturgeschichte
der Unterwäsche
Husum
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Motiven aus dem Buch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Herausgegeben von Torkild Hinrichsen für das Altonaer Museum im Auftrag
des FAM (Freunde des Altonaer Museums e.V.)
Mit Beiträgen von
Andrea Borck, Torkild Hinrichsen, Burkhard Jodat, Sylvia Jodat,
Dominique Loeding, Susanne Müller-Elsner, Birgit Staack, Nicole Tiedemann-
Bischop
Materialanalysen, konservatorische Betreuung und Montierung:
Dominique Loeding
Bildnachweis
Sofern nicht anders angegeben Originalaufnahmen von Michaela Hegenbarth nach
Objekten der Sammlung des Altonaer Museums im Rahmen der Elektronischen
Neuinventarisierung nach Digi Cult. Forschungsprojekt Unterwäsche der Textil
sammlung des Altonaer Museums. Projektleitung Dominique Loeding und
Andrea Borck. Andere Bildquellen siehe Anmerkungen in den Aufsätzen und
Bildunterschriften.
Digitale Bildbearbeitung und Gestaltung:
Michaela Hegenbarth und Dominique Loeding
2011
© 2011 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum
Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft
Postfach 1480, D-25804 Husum - www.verlagsgruppe.de
ISBN 978-3-89876-571-8
Torkild Hinrichsen
Drüber und drunter und ganz untendrunter:
Leibwäsche
und Nebenwirkungen
Ein Vorwort
Unterzeug ist etwas ganz Persönliches. Unter dem eigentlichen
„Zeug“, der Oberkleidung, befindet es sich unmittelbar am Kör
per. „Hautnah“ schmiegt es sich als „Leibwäsche“ an, wie eine in
time zweite Haut. Vor der Entblößung eine künstliche, diskrete
Oberfläche unserer Selbst, wie angewachsen. „Leibhaftig“ haben
Dominique Loeding, Andrea Borck und Birgit Staack ihr For
schungsprojekt am Altonaer Museum genannt. Und in der Tat -
das ist es.
In doppeltem Sinne. Denn nicht nur ist diese innerste Kleidung
dem Leib eigen, sondern die Verteufelei des bloßen Körpers und
seiner unmittelbaren Textilien über Generationen scheint vom Bö
sen an sich, vom Leibhaftigen, selbst inszeniert.
Die diskrete Seite des Themas, die bis jüngst damit verbundenen
„Peinlichkeiten“ haben lange verhindert, dass bedeutende Textil
sammlungen, wie die des Altonaer Museums, sich mit dem Thema
beschäftigten, sammelten, forschten oder gar ausstellten und publi
zierten. Die prächtigen Oberflächen der Schichten darüber waren
unmittelbar anschaulicher und problemlos präsentabel. So hat sich
dieser diskrete Teil der Sammlung erst in den letzten Jahren gemehrt,
oft aus Nachlässen gespeist, aber bisher nicht in Wert gesetzt oder
systematisch ausgebaut, wie auf Initiative und mit dem Fleiß der Pro
jektleiterinnen. Die vorige Dienstgeneration an Restauratorin
nen umschiffte meist das Thema, obwohl sich gerade in den letzten
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40 Jahren das Verhältnis zur Körper
lichkeit, einhergehend mit der sexuel
len Befreiung, grundlegend wandel
te und jüngere Generationen die Sa
che unverkrampfter sahen, während
gleichzeitig der Bestand und das Wis
sen um Trageweisen mit den Eltern und
Großeltern, die den alten Tabus noch
anhingen, weitgehend verloren ging. Es
Panel aus ist gelungen, Zeitzeugen zu ganz per
Tim & Struppi. sönlichen Erfahrungsberichten „aus
„König Ottokars
dem Untergrund“ zu bewegen.
Zepter“.
Farbversion 1947 Vor 30 Jahren habe ich unter heftigem
© Herge/Moulinsart
Bedenken der damaligen Kollegin die
2009
Textilsammelstelle des Roten Kreuzes
aufgesucht, wo in einer Baracke auf dem Fußboden wahre Berge an
Wäsche der vergangenen Generationen sich häuften und nach Ge
wicht auch zu erwerben waren, Leinen und Wolle, im letzten Au
genblick vor der Fasermühle. Ich glaubte, etwas nachholen zu
müssen, denn ein Jahrzehnt zuvor hatte ich auf dem Dachboden
meiner Großmutter beim Auswerten des Nachlasses die Kommo
de, die, wie ich unbefugt wühlend in Knabentagen gesehen, das ge
samte Unterzeug meiner Urgroßmutter enthielt, nur noch leer ge
funden. Mir das zu vererben und einen intimen Blick in so Persön
liches zu erlauben, verboten Anstand und Scham ihrer Generation.
Kein Wunder, wenn schon der Name „Unterhose“ durch die „Un
aussprechlichen“ umschrieben werden musste und nicht nur im
viktorianischen England das Wort „Bein“ ein Unwort war und so
gar solche des auf öffentlichen Bühnen thronenden Konzertflügels
mit schwarzen Samtstulpen diskret verhüllt wurden.
In früheren Zeiten hatte das Unterzeug zwei Funktionen. Warm
halten des Körpers und Schonung der Oberbekleidung. Die zahl
reichen Unterröcke der ländlichen Frauen, wie etwa unter den
Trachtenröcken in den Vierlanden bei Hamburg, waren im Winter
notwendig. Die heute kaum vorstellbaren Schwierigkeiten, die
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obere Bekleidung sauber zu halten, verlangten eine leichter wasch
bare Zwischenschicht aus Leinen oder Wolle.
Reinlichkeit des Körpers und Sauberkeit der Wäsche bedingten
sich gegenseitig. Hatte man im Mittelalter noch selbstverständlich
eine Badekultur gepflegt in Badstuben oder öffentlichen Badehäu
sern, ja in den Zünften ausführliche Regeln zur regelmäßigen Kör
perpflege festgeschrieben, als quasi religiösen Akt vor gottes
dienstlichen Handlungen, wandelte sich das mit der grassierenden
Syphilis seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert grundlegend. Die
kommunikative Gemeinschaftswanne der städtischen Gesellschaft
ist nun plötzlich verwerflicher Sündenpfuhl. Das Badehaus ein Ort
käuflicher Lust. Wasser an den Körper fortan selten. Oft gar als
medizinisch schädlich verschrien. Das Bad in der Säuglingswanne
im Zustande der Unschuld war das letzte im Leben. Das folgende,
die Waschung der Leiche, diente der Vorbereitung auf das Paradies.
Die intime Diskretion erstreckte sich auch auf die Säuberung, das
Waschen der Unterwäsche. Im bürgerlichen Bereich der Waschfrau
anvertraut, kümmerte diese sich vor allem um Laken, Hemden und
Gemeinsames Bad
mit Bewirtung und
Musik. Holzschnitt
aus Laurenius Phries,
Traktat der Wild
bäder, Straßburg 1509
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Der indiskrete Blick.
Bildpostkarte
Chromolitho, 1904
versendet an Herrn
Charles Märtel.
Altonaer Museum
1979-525,2
Tischdecken, während die inneren Schichten sich weder im Wasch
haus noch im Spülbach oder auf der Bleichwiese exponieren durf
ten, sondern, im Topf der Kochwäsche gesotten, im diskreten Be
reich des Hintergartens flatterten. Der Hof des Mietshauses meiner
Großeltern war an dem monatlichen Waschtag nahezu unpassier
bar, obwohl die eng behängten Leinen mit Wäschepfählen himmel
wärts gezwungen waren.
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Diese öffentliche Ausstellung der Leinenwäsche
war Ziel kritischer, hämischer Augen und plap
pernder Mäuler, wie für eine Provinzstadt ty
pisch. Allzu Geflicktes durfte nicht hinaus zu die
ser öffentlichen Ausstellung. Und die innersten
Bedeckungen schon gar nicht. Man wäre zum
Stadtgespräch geworden.
Heute sind wir weiter. Wäscheleinen sind weitge
hend ausgestorben. Das Unterzeug des Kochwä
scheganges bleibt im Waschautomaten und
Trockner unter sich. Wir wollen hoffen, dass dies
Forschungs- und Buchprojekt mit seiner Objekt
schau der Originale eine große Öffentlichkeit an
zieht. Die darf gern schmunzeln, wenn sie hier ge
lesen hat, was dahintersteckt, oder warum das
Darunter daruntersteckt. Sie darf es auch gern
weitererzählen.
DER KNOTEN BEDEUTET:
"BITTE NICHT STÖREN!“
Unterwäsche auf
der Leine. April 2011
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Foto: Torkild
Hinrichsen
DER CHEF HAT
DAS GIGNAL"8IN
BESCHÄFTIGT
AUFGELOGEN.'
WIE DIE FLAGGENSIG
Manfred Schmidt:
NALE DER MARINE,
Nick Knatterton.
DIENT DIE AVFGEWÄNG-
Panel aus der
TE WÄSCHE NEAPELS Geschichte „Der
7URQEHEIMNACHRICH- Stiftzahn des
tenübermittiung ! Caprifischers“,
9. Episode, 1950-59
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Sylvia Jodat
Kinderunterwäsche
Entwicklungslinien im deutschsprachigen
Raum (18. bis 21. Jahrhundert)
Stellenwert und Bedeutungswandel von Kindheit lassen sich gut an
den Modewechseln in der Kinderoberbekleidung und -Unterwä
sche im Laufe der Jahrhunderte ablesen. Ein Blick in die Geschich
te der Kinderunterwäsche offenbart die sich ändernden Einstellun
gen zu Geschlechterrollen, zu Erziehungsfragen, gibt Auskunft
über den gesellschaftlichen Status und liefert Erkenntnisse zu wirt
schaftlich-materiellen Lebensumständen.1 Gleichzeitig ist den
Entwicklungslinien in der Erwachsenenwelt nachzuspüren, da
sich Mädchen- und Jungenunterwäsche lange Zeit ausschließlich
an der Erwachsenenmode orientierte.
Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, verschwanden
überkommene Anschauungen zugunsten eines modernen Ver
ständnisses von Kindheit.2 Im Zuge von Reformbewegungen führ
ten diese zu einer kindgerechteren Unterbekleidung und neuen
Tragegewohnheiten.3
18. Jahrhundert - Das formbare Kind:
wickeln + schnüren = reformieren4
Einen eigenen Bereich bildet die Leibwäsche für Neugeborene und
Säuglinge: Kleinstkinder zu „fatschen“5 war zu Beginn des 18.
Jahrhunderts in Europa eine traditionelle und allgemein übliche
Praxis.6 Ein typisches Wickelkind-Motiv in der Kunst zeigt das in
der Krippe liegende, stramm bandagierte Jesuskind.7
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