Table Of ContentJürgen Friedrichs/Jörg Blasius
Leben in benachteiligten Wohngebieten
Jürgen Friedrichs/Jörg Blasius
Leben in benachteiligten
Wohngebieten
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2000
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz rur diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich
ISBN 978-3-8100-1938-7 ISBN 978-3-663-10610-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-10610-4
© 2000 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrlch. Opladen 2000.
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kroverfilmungen und die Einspelcherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt
Vorwort 7
1. Theoretische Ansätze und Hypothesen 9
1.1 Städtische Armut 9
l.2 Effekte der Armut im Wohngebiet auf die Bewohner? 17
1.3 Hypothesen 19
1.4 Empirische Befunde über Armutsviertel 26
1.5 Lebensstile: Eine "Kultur der Notwendigkeit"? 31
2. Stichproben und Methoden 39
2.1 Untersuchungsgebiete 39
2.2 Der Fragebogen 43
2.3 Ausfallstatistik 44
3. Die vier Wohngebiete 47
3.1 Strukturmerkmale 47
3.2 Beurteilung der Wohngebiete 51
3.3 Fortzugsabsichten 58
4. Netzwerke 63
4.1 Die Netzwerke der deutschen Bewohner 64
4.2 Die Netzwerke der türkischen Bewohner 70
5. Aktionsräume 77
6. Soziale Normen 87
6.1 Einstellungen zu abweichenden Verhaltensweisen 88
6.2 Dimensionen abweichenden Verhaltens 94
6 Inhalt
7. Lebensstile 107
7.l Kulturelles und ökonomisches Kapital 108
7.2 Der Raum der Lebensstile 118
7.3 Türkische Bewohner 133
8. Der Zustand der Wohnung l39
8.l Die Methode der Wohnraumbeobachtung l39
8.2 Einrichtungsgegenstände 142
8.3 Die Pflege der Wohnung 148
9. Fertigkeiten 159
9.1 Fertigkeiten als kulturelles Kapital? 159
9.2 Beurteilung der Fertigkeiten 165
9.3 Zur Umwandlung von kulturellem in ökonomisches
und soziales Kapital
10. Gebietseffekte und Individualeffekte 179
10.l Benachteiligung und Devianz 180
10.2 Der Einfluß des Gebietes 191
10.3 Zusammenfassung: Leben in benachteiligten Wohngebieten 193
Literatur 197
Anhang: Deutscher Fragebogen
Vorwort
Die Studie richtet sich auf die Lebensbedingungen von Bewohnern benach
teiligter Wohngebiete, speziell deren Lebensstile und die Einflüsse des Wohn
gebietes auf die Bewohner. Die zentrale Frage lautet: Gibt es in solchen Wohn
gebieten eine doppelte Benachteiligung: eine aufg rund der ökonomischen Situati
on der Bewohner und zusätzlich eine durch die Bedingungen des Wohngebietes?
Die hier untersuchten vier Wohngebiete in Köln dürften sich kaum von benach
teiligten Wohngebieten in anderen deutschen Städten unterscheiden. Diesen bei
spielhaften Charakter unserer Untersuchung unterstellt, erschien es uns erforder
lich, dem Bericht ein allgemeines Kapitel über städtische Armut voranzustellen.
Benachteiligte Wohngebiete entstehen nicht zufällig. Fraglos gibt es hierfür
mehrere Ursachen; drei davon erscheinen uns besonders wichtig. Zum ersten ist
es die noch immer anhaltende Deindustrialisierung, dem Verlust von Arbeitsplät
zen im Produzierenden Gewerbe. Eine Folge dessen ist zweitens eine steigende
Arbeitslosigkeit (und Langzeitarbeitslosigkeit), die einerseits zu sinkenden
Steuereinnahmen der Stadt führt, andererseits zu einer räumlichen Konzentration
von Arbeitslosen, meist in Wohngebieten, die an den Produktionsstandort angren
zen. Durch die sinkenden Steuereinnahmen verringert sich drittens auch der In
vestitionsspielraum der Stadt, was zu sinkenden Anreizen und geringeren Vorleis
tungen für die Ansiedlung neuer Betriebe führt. Außerdem stehen weniger Mittel
für Modernisierungsmaßnahmen in benachteiligten Wohngebieten zur Verfügung.
Die Studie entstand im Rahmen eines Lehr-Forschungsprojektes an der
Universität zu Köln. Sie wurde jedoch durch eine umfangreiche Zahl von Inter
views erweitert, die von externen Interviewern durchgeführt wurden. Wir danken
der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die diese Studie gefördert hat (Fr
517/15-1,2). Wir danken ferner Ismail Yavuzcan, M.A., der den Fragebogen ins
Türkische übersetzt hat, Dipl.-Geogr. Frank Warmelink und Danijel Visevic, die
Abbildungen anfertigten, Friederika Priemer, die das Manuskript Korrektur
gelesen hat, schließlich allen Studentinnen und Studenten, die an dem Projekt
mitgearbeitet haben.
1. Theoretische Ansätze und Hypothesen
1.1 Städtische Armut
Bis Ende der 70er Jahre war die Bundesrepublik ein Land mit stetigem Wirt
schaftswachstum, das wiederum für Vollbeschäftigung sorgte. Die Arbeitslosen
quoten waren sehr niedrig, Armut war ein relativ seltenes und weitgehend indivi
duelles Problem. Erst sehr spät, als die Arbeitslosenquoten stiegen, wurde be
merkt, daß es auch wieder Armut in diesem Land gab. Als Datum für diese Ver
änderung wird oft die Veröffentlichung "Die neue soziale Frage" von Geißler
(1976) angegeben. Eine systematische wissenschaftliche Diskussion setzte aber
erst Ende der 80er Jahre mit den Publikationen von Balsen u.a. (1984), Döring,
Hanesch und Huster (1990), Hanesch u.a. (1994), Klein (1987), Schütte und Süß
(1988) ein.
Mitte der 80er Jahre trafen auch mehrere Ereignisse zusammen: eine steigen
de Arbeitslosigkeit und eine steigende Armut, letztere gemessen über die Zahl der
Sozialhilfeempfanger. Tabelle 1.1 dokumentiert diese Entwicklung für die Bun
desrepublik und ausgewählte Großstädte.
Der Ausdruck "städtische Armut" wurde mit Bedacht gewählt, weil er zwei
Entwicklungen, die gleichzeitig eintraten, bezeichnen soll: zum einen die sinken
den Steuereinnahmen, zum anderen eine zunehmende Zahl von Wohngebieten
mit einem hohen Anteil armer, d.h. auf Sozialhilfe angewiesener Bewohner.
Besonders betroffen waren die Großstädte, unter diesen vor allem jene, die eine
alt-industrielle Basis bzw. Beschäftigtenstruktur aufwiesen. Die sinkenden Steu
ereinnahmen sind hauptsächlich auf eine De-Industrialisierung zurückzuführen:
Unternehmen der Montanindustrie, Werften und - zuvor - der Textilindustrie
entließen Arbeitskräfte, schlossen ganze Fabriken oder verlagerten Arbeitsplätze
in Länder mit niedrigeren Löhnen. Gleichzeitig wurden die Kommunen mit
steigenden Ausgaben für Sozialhilfe belastet, insbesondere jene mit "alten"
Industrien. Die Folge beider Prozesse war eine geringere Finanzkraft der Kom-
10 Kapitell
munen. Ein Indikator hierfiir ist die Quote der Einnahmen, die die Kommune
selbst erwirtschaftet, diese sank seit Ende der 80er Jahre. Weitere Indikatoren
sind die zunehmende Ausgabenlast für Sozialhilfe und den Schuldendienst
(Zinszahlungen und Tilgung der Schulden). Wie mit den Daten in Tabelle 1.2
belegt werden kann, gilt diese Entwicklung für fast alle Kommunen, wenngleich
für jene mit alten Industrien in besonderem Maße, so z.B. Duisburg, aber auch
Bochum, Bremen und Saarbrücken.
Tabelle 1.1: Sozio-ökonomische Indikatoren fiir ausgewählte Städte, 1980, 1990, 1995
Indikator Jahr Köln München Hambur~ Duisbur~
Einwohner 80 1.017.621 1.298.941 1.645.095 558.089
90 998.590 1.229.026 1.652.363 535.447
95 965.697 1.324.208 1.707.901 535.250
% Ausländer 80 13,5 16,4 9,0 12,2
90 16,3 22,3 12,1 14,9
95 19,4 21.6 14,9 17,1
Arbeitslosen- 85 13,6 6,2 12,1 15,5
quote 90 11,1 3,9 9,7 11,8
95 13,3 6,4 10,8 15,7
% Sozialhilfe- 80 3,0 2,0 3,4 3,6
Empfänger 90 6,4 2,4 9,1 6,3
95 8,1 2,0 7,7 7,4'
Ausgaben fiir 80 120' 48 95 119
Sozialhilfe 90 510 * 372 266
~DMlEinw.) 95 502 168 373 3522
* Keine Daten verfügbar; , Daten beziehen sich auf 1981; 2 Daten beziehen sich auf 1993.
Quellen: Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden, diverse Jhg.; Statist. Berichte der einzel-
nen Städte; eigene Berechnungen; Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt fiir Arbeit, Daten
beziehen sich jeweils auf den 30.9 ..
Damit verringerte sich aber auch der Investitionsspielraum, die "freie Spitze"
der Kommunen. Wie Junkernheinrich und Pohlan (1997) gezeigt haben, wurde
zudem die Kluft zwischen armen und reichen Städten größer. Sie hatte sich
allerdings schon in den Analysen zum Süd-Nord-Gefälle (u.a. Friedrichs, Häußer
mann und Siebei, 1986) abgezeichnet. Die "städtische Armut" hat aber noch eine
zweite Form: eine zunehmende Zahl von Wohngebieten mit einem hohen bzw.
Theoretische Ansätze und Hypothesen 11
steigenden Anteil anner Bevölkerung. Die Annut wird hierbei durchgängig über
die Zahl der Sozialhilfeempfanger gemessen, meist in engerem Sinne als Perso
nen oder Haushalte, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen. Für andere
Kriterien, mit denen Armut bestimmt werden kann, Z.B. für den Anteil jener,
deren Äquivalenzeinkommen unter 50% des durchschnittlichen Einkommens
liegt, fehlen die erforderlichen empirischen Untersuchungen. (Eine Ausnahme ist
die weiter unten berichtete Studie von Düppe in zwei Kölner Wohngebieten.)
Tabelle 1.2: Ökonomische und fiskalische Indikatoren fiir ausgewählte Städte, 1980, 1990,
1994
Indikator Jahr Köln München Hamburg Duisburg
Schulden pro Einw. 80 2.574 850 5.582 2.312
(in DM) 90 4.358 2.192 11.677 3.193
94 5.194 2.100 23.226 3.691
Bruttowertschöpfung 80 73.545 77.687 82.842 64.591
(DM per Beschäftigten) 90 105.263 130.226 124.632 105.832
92 118.371 149.334 141.350 107.962
Steuerkraft' 80 952 960 1.054 697
(DMIEinwohner) 90 1.267 1.532 1.340 835
93 1.362 1.622 1.505 876
Steuereinnahmen 80 1.217.885 1.888.911 2.214.274 519.559
(in 1.000 DM) 90 1.798.589 2.774.193 3.072.515 606.910
94 1.932.448 3.041.343 3.748.418 627.608
Steuerautonomie 80 55,0 55,9 * 43,5
(in %)2 90 50,3 50,7 * 33,9
94 41,6 48,3 * 28,2
* Keine Daten verfiigbar.
, Steuerkraft-Meßzahl
2 Steuereinnahmen als Anteil aller Einnahmen.
Quellen: Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden, diverse Jhg.; Statist. Berichte der
einzelnen Städte; eigene Berechnungen.
In allen Großstädten stieg die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger. In Köln nahm
die Zahl (Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt) von 13.135 im Jahre 1980 auf
29.638 im Jahre 1990 auf 39.791 im Juli 1997 (Stadt Köln, 1998, Teil I: 60).
Dabei haben Alleinerziehende und Ausländer ein besonders hohes Risiko, auf