Table Of ContentRolfVerres
Krebs und Angst
Subjektive Theorien von Laien
über Entstehung, Vorsorge, Früherkennung,
Behandlung und die psychosozialen Folgen
von Krebserkrankungen
Unter Mitarbeit von
S. Schilling H. Faller U. Michel R. Daniel A. Vö1cker
Geleitwort von Thure von Uexküll
Mit 12 Abbildungen und 15 Tabellen
Springer-Verlag
Berlin Heidelberg NewYork
London Paris Tokyo
Priv.-Doz. Dr. med. Dipl. Psych. RolfVerres
Abt. Psychotherapie und Medizinische Psychologie
Klinikum der Universität, Psychosomatische Klinik
Thibautstraße 2, D-6900 Heidelberg 1
Das Umschlagbild zeigt ein Gemälde von Vincent van Gogh
(1853-1890): Trauernder Mann.
Mit freundlicher Genehmigung der Kröller-Müller Stiftung,
Otterlo, Holland.
ISBN-13: 978-3-540-16519-4 e-ISBN-13: 978-3-642-71171-8
DOI: lO.lO07/978-3-642-71171-8
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Verres, Rolf: Krebs und Angst: subjektive Theorien von Laien über Ursachen, Verhütung,
Früherkennung, Behandlung u. d. psychosozialen Folgen von Krebserkrankungenl
RolfVerres. Unter Mitarb. von S.Schilling ... Geleitw. von Thure von Uexküll.-
Berlin; Heidelberg; NewYork; London; Paris; Tokyo: Springer, 1986.
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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1986
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Gesamtherstellung: Appl, Wemding
2119/3140-543210
Geleitwort
Der Vordergrund und die Tiefendimension
Zwei Aspekte dieses Buches sind hervorzuheben: der exemplari
sche Charakter und die behutsame Methode der Mitteilung. Exem
plarisch, weil die subtile Untersuchung einer konkreten und speziel
len Frage mit praktischen Konsequenzen für die Gesundheitspolitik
dem aufmerksamen Leser zugleich deutlich macht, wie problema
tisch viele seiner Vorstellungen über seine Wirklichkeit, seine Bezie
hungen zu den Mitmenschen und zu sich selbst sind; behutsam,
weil diese Aufklärung gewissermaßen zwischen den Zeilen ge
schieht. Der Autor überläßt es dem Leser, ob er den Hintergrund
wahrnehmen will, der sich als Konsequenz der Untersuchungen ab
zeichnet, oder ob er sich mit dem Vordergrund der mitgeteilten Er
gebnisse begnügt. Auf eine kurze Formel gebracht: Das Buch kon
frontiert den Leser mit dem Faktum der Einsamkeit des Menschen
und dem Ungenügen der Sprache als Mittel, diese Einsamkeit zu
überwinden, aber es läßt ihm die Möglichkeit, sich dieser Konfron
tation nicht auszusetzen.
Es bleibt dem Leser überlassen, ob er aus der Darstellung der
Schwierigkeiten, mit denen eine Untersuchung über subjektive
Krankheitsvorstellungen zu kämpfen hat, die Konsequenz zieht,
daß Worte allein nicht ausreichen, wenn wir mit unseren Mitmen
schen Informationen über das austauschen wollen, was uns bewegt,
was wir denken und was wir in den Situationen erleben, die unsere
Wirklichkeit konstituieren; daß Kommunikation auch auf außer
sprachliche Mittel zurückgreifen muß und daß Gespräche, die die
sen Namen verdienen, Strategien erfordern, welche sich dem per
sönlichen Kern des Mitgeteilten behutsam nähern und dabei auch
die außersprachlichen Mitteilungen aufmerksam registrieren.
Das Ziel der Untersuchung heißt nüchtern und unverdächtig:
"die Exploration der subjektiv-assoziativen Bedeutungsfelder und
-umfelder des Vorstellungsinhalts ,Krebsbekämpfung' und deren
Relevanz für das präventive Gesundheitshandeln" (S. 85). Aber zwi
schen den Zeilen spürt man immer wieder, daß die Vorstellungsin
halte "Krebs" und "Krebsbekämpfung" - über ihre spezifischen
Konnotationen hinaus - exemplarisch für alle Vorstellungsinhalte
stehen, die uns selbst und die Wirklichkeit betreffen, in der wir le
ben und erleben.
VI Geleitwort
Mein persönliches Interesse an dem Thema
Mein Interesse für dieses Thema, vielleicht auch meine Voreinge
nommenheit für seine Hintergrundsproblematik, will ich durch die
Schilderung einer persönlichen Erfahrung begründen, die ich zu
Anfang meiner Laufbahn als Arzt und Hochschullehrer machte.
Während einer poliklinischen Vorlesung stellte ich einen Patienten
vor, bei dem eine - wie sich herausstellte, harmlose - Milzvergröße
rung internistisch abgeklärt werden sollte.
Während der Demonstration des Tastbefundes vor dem Audito
rium und zwei praktizierenden Studenten kollabierte der Patient
plötzlich. Dies Ereignis führte zu einer starken Beunruhigung aller
Anwesenden. In dem nachfolgenden Gespräch stellte sich heraus,
daß ich den Zwischenfall selbst durch eine unverzeihliche Gedan
kenlosigkeit herbeigeführt hatte. Statt von einer Milzvergrößerung
zu sprechen, hatte ich das - für Ärzte gleichbedeutende - Wort
"Milztumor" verwendet, ohne zu bedenken, daß das Wort "Tumor"
auch für "Krebs" verwendet wird. Der Patient hatte das Wort in die
sem Sinne verstanden und aufg rund einer Vorerfahrung mit einem
verstorbenen Krebskranken als Todesurteil aufgefaßt.
Das ist ein drastisches Beispiel für die Tatsache, daß Patienten und
Ärzte in verschiedenen Wirklichkeiten leben. Die damit aufgeworfe
nen Probleme bagatellisieren wir gewöhnlich, indem wir sie auf die
Unterschiede zwischen "Laiensprache" und "Medizinersprache" zu
rückführen und dadurch zu lösen glauben, daß wir die Ärzte auffor
dern, ihren Patienten die für sie relevanten Informationen in deren
Sprache und in einer für sie verständlichen Form mitzuteilen. Aber die
Frage, wie diese Sprache beschaffen sein muß und wie eine für die Pa
tienten verständliche Form aussehen könnte, wird meist nicht gestellt.
Worte - aber auch nonverbale Zeichen - haben außer einer allen
Menschen der gleichen Sprachfamilie verständlichen Bedeutung
zusätzliche individuelle und situationsabhängige Bedeutungen (mit
rationalen und affektiven Komponenten). Ärzte müssen diese indi
viduellen Bedeutungen erfassen, wenn sie ihre Patienten verstehen
und deren Reaktionen diagnostisch richtig einordnen wollen.
In dem Augenblick, in dem ein Begriff "Unheimlichkeitssphä
ren" (S. 53) für den Patienten berührt, genügt es nicht, medizinische
Ausdrücke in die Laiensprache zu übersetzen, wenn wir dem Patien
ten verständliche Informationen geben wollen. In dem oben erwähn
ten Fall hatten meine Versuche, durch Übersetzung des Terminus
"Milztumor" in "Milzvergrößerung" das Mißverständnis aufzuklä
ren, keinen Erfolg. Es bedurfte mehrerer Gespräche, um den Patien
ten davon zu überzeugen, daß meine Bemühungen nicht den Zweck
verfolgten, ihm - wie er argwöhnte, nur zu seiner Beruhigung - eine
Diagnose zu verheimlichen. Dazu war die Herstellung oder Wieder
herstellung einer Vertrauensbasis nötig, die bei dem unüberlegten
Gebrauch des Terminus "Milztumor" zerbrochen war.
Wirklichkeit als anthropologisches Problem VII
Wirklichkeit als anthropologisches Problem
Das Problem der Kommunikation
Die Suche nach einer "für den Patienten verständlichen Sprache" ist
für den Arzt immer eine zeitraubende, schwierige und emotional be
lastende Aufgabe, wenn es sich um die Mitteilung der Diagnose ei
ner lebens bedrohenden Krankheit handelt. Die Lösung dieser Auf
gabe kann durch eine psychologische Ausbildung, durch die
Unterstützung einer Gruppe gleichgesinnter Mitarbeiter und durch
die Teilnahme an einer Balint-Gruppe erleichtert werden. Das sind
für die ärztliche Aus- und Weiterbildung und für die Organisation
unseres Gesundheitssystems wichtige Erfahrungen. Sie machen
aber - gleichzeitig - wie die Spitze eines Eisbergs - ein fundamenta
les anthropologisches und erkenntnistheoretisches Problem sicht
bar: die zutiefst beunruhigende und kollektiv verdrängte Tatsache,
daß nicht nur Patienten und Ärzte, sondern jeder von uns in einer
nur ihm selbst unmittelbar zugänglichen, individuellen Wirklichkeit
lebt.
Die Untersuchung, über die der Autor berichtet, führt uns diese
Tatsache eindringlich vor Augen. Sie macht wie in einem Vergröße
rungsglas die Schwierigkeiten sichtbar, Einblick in die Wirklichkeit
eines anderen zu gewinnen.
Vorstellungen über Krankheit und Tod spiegeln einerseits ... jeweils einzigartige
Erfahrungen der einzelnen Person wider, andererseits sind sie Produkte kollekti
ver, auch historisch verankerter Erfahrungen und Wertvorstellungen [der Gesell
schaft und Kultur, in welcher der einzelne aufgewachsen ist]. Beide Erfahrungs
horizonte sind durch die Sprache aufeinander bezogen .... Die Sprache fungiert
... nicht nur als ein abbildendes Medium für Mitteilungen aus dem Innenleben
der Person, sondern kann im Augenblick, in dem sie beim Denken oder beim
Sprechen benutzt wird, bereits durch ihre bloße Verfügbarkeit ... zur Konstituie
rung von Bedeutungen beitragen, da sie (Sprach)figuren bereitstellt. Sie ist oft
nur annäherungsweise dazu geeignet, das, was in einem Menschen vorgeht, etwa
während er über seine Beziehung zu einem Krebskranken nachdenkt, "abzulich
ten" und unverstellt einem anderen Menschen zu übermitteln. Sie gibt uns meist
nur unbefriedigende Hinweise darüber, inwieweit ein Mensch eine jeweilige, in
einen Sprachausdruck gebrachte Bedeutung überhaupt auf sich selbst bezieht.
Im Extremfall bezeichnen wir, wenn wir an der Authentizität der Aussage eines
Menschen zweifeln, diese recht anschaulich als "Worthülse" ... (S.51).
Die Untersucher standen daher immer wieder vor dem Problem,
wie Antworten befragter Personen hinsichtlich "ihres subjektiv zu
nennenden Bedeutungsanteils zu dechiffrieren" waren. Dabei war
zu bedenken, daß die Mitteilung eines Erlebens oder die Schilde
rung einer Vorstellung einen komplizierten Vorgang der Selbstbeob
achtung voraussetzt, der nur in den seltensten Fällen bewußt und
kontrolliert abläuft. "Versucht eine befragte Person, für ihren Befra
ger eigene Gedanken zu verbalisieren, die ihr im jeweils angespro
chenen Handlungszusammenhang durch den Kopf gingen, so sind
VIII Geleitwort
diese Verbalisationen zunächst nur Äußernngen über ihre Kognitio
nen" (S.86).
Zu der Einschränkung, daß solche Mitteilungen also zunächst
nur Gedanken über Gedanken wiedergeben, kommt die weitere
Schwierigkeit, daß jede Äußerung aus vielen Gründen einer ein
schränkenden und u. U. verfremdenden Kontrolle unterliegt. Einer
dieser Gründe ist das Bemühen des Sprechers, bereits seine Assozia
tionen auf das von ihm angenommene Interesse seines Gegenübers
abzustimmen, zu ordnen und zu filtern. Dabei richtet er sich meist
nach Kriterien, die seine Äußerungen in einen "normalen Kontext"
stellen sollen, und die daher oft nur gesellschaftliche "Denkvorga
ben" widerspiegeln.
Das eigentlich Gemeinte ist daher nur auf Umwegen zu errei
chen, zu denen der Versuch einer "fortlaufenden Annäherung" im
Gespräch gehört. Doch auch dieser Versuch führt nur dann zum Er
folg, wenn der Befrager von der "Kernannahme" ausgeht, "daß sub
jektive Existenz durchgängig intentional ist ... [und die Bedeutung
eines Vorstellungsinhalts sich] ,in der intentionalen Auseinanderset
zung von Person und Umwelt konstituiert'" (S.86). Anders formu
liert heißt das: die Bedeutung der Antworten eines Gegenübers muß
auf eine konkrete Situation im Rahmen der Einheit der Person-Um
welt-Beziehung bezogen werden. Daher muß die Rekonstruktion
durch den Gesprächspartner "kontextbezogen" erfolgen.
Daraus werden für die Methode der Untersuchung drei Forde
rungen abgeleitet: 1) Der Befragte muß so anschaulich wie möglich
in die Situation gebracht werden, die mit der Frage nach der Bedeu
tung seiner Vorstellungen angesprochen ist. 2) Die Interpretation
der Antworten muß "kontextsensitiv", d.h. auf dem Hintergrund
der angesprochenen Situation erfolgen. 3) Die Erhebung muß als
ein Prozeß der Annäherung an das Gemeinte durchgeführt und als
ein derartiger Prozeß verstanden werden.
Aber selbst diese Vorsichtsmaßnahmen garantieren noch nicht,
daß wir tatsächlich die subjektive Bedeutung der Worte, Sätze oder
Metaphern und Allegorien erfahren, in denen unser Gegenüber sei
ne Gedanken und Vorstellungsinhalte schildert. Für dieses Problem
ist es von entscheidender Wichtigkeit, daß vegetative Reaktionen
und unbewußte psychische Verzögerungsprozesse eine Betroffen
heit des Gesprächspartners verraten können, wenn "die offenen
Meinungsäußerungen ... von Wahrnehmungsabwehr und intellek
tuellen Kontrollen beeinflußt sind" (S.53). Solche unbewußt ablau
fende und durch bewußte Anstrengung nicht zu kontrollierende so
matische und psychische Reaktionen werden vom Gesprächspart
ner ebenso unbewußt und unkontrollierbar als Stimmungssignale
erfaßt, die er mit einem "Mitschwingen" der eigenen Stimmung be
antwortet, gegen das er sich zwar durch erlerntes Distanzieren ab
schotten, das er bei entsprechender Sensibilität und Aufmerksam
keit aber auch bewußt registrieren und interpretieren kann.
Wirklichkeit als anthropologisches Problem IX
Die körperliche Reaktion des poliklinischen Patienten, der bei
dem Wort "Milztumor" kollabierte, wurde von den anwesenden
Ärzten und Studenten als Stimmungssignal beantwortet, das sie die
Angst des Patienten "am eigenen Leib" miterleben ließ. Diese noch
wenig untersuchten Vorgänge vorsprachlicher Verständigung und
Kommunikation spielen bei dem, was wir "Empathie" nennen, eine
wichtige Rolle.
Die Untersucher konnten daher bei der schwierigen Aufgabe, den
subjektiven Bedeutungsanteil in den Antworten der befragten Per
sonen zu dechiffrieren, an solche Erfahrungen anknüpfen.
Wir gehen ... davon aus, daß die Entwicklung einer ... subjektiven Theorie über
Krankheiten stark von der persönlichen Betroffenheit im Sinne eines Berührt
seins abhängt. Je nach der "Ich-Nähe" der wahrgenommenen Krankheit oder
Krankheitsrisiken beziehen sich die krankheitsrelevanten Kognitionen nicht nur
auf das Thema als solches im Sinne eines vom Subjekt zu beschreibenden Ob
jekts, sondern es wird auch ein Teil des Selbstmodells der Person im Sinne eines
adaptiven Prozesses aktualisiert (S.52). - Die unmittelbare Betroffenheit läßt
sich oft nur indirekt aus den autonom-vegetativen Erregungen und psychischen
Reaktionsverzögerungen erschließen ... (S.53).
Diese Feststellungen formulieren in so eindrucksvoller Weise die
Probleme, die hinter dem scheinbar so unverfänglichen Wort
"Kommunikation" stehen, daß ich daran eine Überlegung anschlie
ßen will, für die der Autor des Buches nicht verantwortlich ist, die
mir aber den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Hin
tergrund der Untersuchung besonders deutlich sichtbar zu machen
scheint.
Wenn mit Kommunikation mehr gemeint ist als ein Austausch
von "Worthülsen", muß bei den Gesprächspartnern etwas eintreten,
das man als "Angerührtsein" von dem bezeichnen kann, das in dem
anderen vorgeht. Dieses Angerührtsein aber hat als Fundament ei
nen körperlichen Vorgang. Das mag bei vielen Themen unbemerkt
bleiben. Aber wenn bei einer Begegnung das anfängliche Gefühl der
Fremdheit weichen soll, muß sich "e motione", aus einem körperli
chen Bewegtwerden, jenes schwer definierbare, jederzeit störbare
Gefühl einer "hypothetischen Gemeinsamkeit", wie man es viel
leicht nennen kann, einstellen. Daher spielen bei Kommunikation,
im Sinne eines Erfassens des von dem Gegenüber Gemeinten, Emo
tionen als Erfahrungen eines "Erfaßtwerdens" eine entscheidende
Rolle. So betont der Autor: "Emotionen haben ... eine wesentliche
Bedeutung für die Kommunikation zwischen Befrager und Befrag
tem" (S.45).
In diesem Zusammenhang wird die Forderung nach "Kontext
sensitivität" für die Interpretation der Äußerungen eines anderen
Menschen aufschlußreich. Wir müssen uns fragen: Was ist eigent
lich diese Sensitivität, und was hat es mit diesem "Kontext" auf
sich? Die Antwort lautet: Kontext ist nicht nur - und vor allem nicht
ursprünglich - etwas Rationales. Kontext als Grundstruktur einer
X Geleitwort
"Vis-a-vis-Situation" (Berger u. Luc1anann 1969), die ein Ge
sprächspartner mit dem anderen "teilt", entsteht ursprünglich aus
einem gefühlten Zusammenstimmen körperlichen Bewegtseins als
Basis für rationale Vorstellungen und rationales Verstehen. Mit an
deren Worten: Kontext als Grundstruktur jeder Situation, in der ge
genseitiges Verstehen - oder Kommunikation - möglich wird, ist ein
wechselseitiger psychosomatischer Prozeß, und "Kontextsensitivi
tät" ist die Fähigkeit, sich davon mitbewegen zu lassen. Es gibt keine
Kommunikation ohne dieses Fundament.
Was bedeutet aber dieses offenbar für das Zusammenleben der
Menschen so wichtige "Angerührtwerdenkönnen", das der Autor
auch als "Ich-Nähe" oder als "adaptiven Prozeß im Sinne einer Ak
tualisierung eines Selbstmodells" beschreibt, unter einem erkennt
nistheoretischen Aspekt? Die Antwort lautet: Das Mitschwingen
der eigenen Stimmung mit der Stimmung des Gegenübers (als Basis
für den "Kontext" einer gemeinsamen Situation) erzeugt eine zeit
weilige, partielle Identität mit dem anderen. Erst diese Identität mit
dem anderen gibt eine Erklärung für die Möglichkeit des erkennt
nistheoretisch sonst unlösbaren Rätsels des Erkennens von etwas,
das sich außerhalb von uns befindet.
Wir müssen diese Identität mit einem anderen im Rahmen eines
gemeinsamen "Beteiligtseins", und das heißt doch "Teil-einer-über
individuellen-Einheit-Seins" als ein partielles und zeitlich begrenz
tes Einschmelzen der trennenden Grenzen unserer Wirklichkeiten -
und als eine vorübergehende Wiederherstellung jenes "dyadischen
Erlebens" interpretieren, das als früheste Form einer Kommunika
tion mit der Umgebung beschrieben wird. Diese Deutung der frühe
sten Form menschlicher "Erkenntnis" legen nicht nur psychoanaly
tische, sondern auch verhaltensbiologische Untersuchungen an
Neugeborenen und Kleinkindern nahe (vgl. Winnicott, Lichtenberg,
Eibl-Eibesfeld, Sander, Emde, Tomkins u.a.).
Die Fähigkeit zur Herstellung einer kürzere oder längere Zeit an
dauernden, partiellen Identität mit einem Gegenüber läßt sich dann
als die Basis begreifen, auf der wir authentische Vorstellungen von
anderen Menschen, von uns selbst und auch von unbelebten Gegen
ständen entwickeln. Sie würde das Verbindungsglied zwischen den
Entwicklungslinien einer kognitiven und einer affektiven Intelligenz
liefern, deren Komponenten bisher im wesentlichen nur getrennt
untersucht worden sind. Ciompi (1982) hat die daraus entstandenen
Probleme eindringlich dargestellt. Untersuchungen wie die vorlie
gende könnten auch hinsichtlich dieser Problematik weiterführen.
Wirklichkeit als anthropologisches Problem XI
"Anatomie" und "Physiologie" unserer individuellen Wirklichkeit
Auf der Suche nach einer kurzen und zugleich anschaulichen Be
zeichnung für diesen geheimnisvollen, aber für unser Zusammenle
ben mit anderen - und mit uns selbst - so bedeutsamen Vorgang bin
ich auf den Begriff der "moralischen Einbildungskraft" gestoßen,
den Carlo Ginzburg (1983) geprägt hat. Er versteht darunter die
"grundlegendste Sache", die nicht nur mit der Entwicklung unserer
Phantasie, sondern auch mit der Entwicklung von uns selbst als Per
sönlichkeit und unserer Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen,
zusammenhängt.
Auf die Frage, welchen Rat er jungen Menschen gibt, die Ge
schichte studieren wollen, gibt er die Antwort:
Romane, sehr viele Romane lesen. Weil die moralische Einbildungskraft die
grundlegendste Sache ist; und über die Romane besteht die Möglichkeit, sein Le
ben zu vervielfältigen, entweder der Fürst Andrej in Krieg und Frieden oder der
Mörder der alten Wucherin in Schuld und Sühne zu sein. Tatsächlich aber findet
die moralische Einbildungskraft immer weniger Nahrung ... Viele Historiker
neigen ihrerseits dazu, sich den anderen als "alter ego" vorzustellen - d. h. als äu
ßerst langweilige Person.
Diese letztere Einstellung, die bei Historikern lediglich die Folge
hat, daß sie ihre Leser langweilen, kann bei Ärzten gemeingefähr
lich werden. Denn die Wirklichkeiten, in denen Menschen leben,
gleichen Organen, die den Stoffwechsel des Lebens erhalten - und
diese Organe sind bei jedem Menschen verschieden. Leider ging die
Einsicht in die vitale Bedeutung und die Verschiedenartigkeit
menschlicher Wirklichkeiten einer Medizin verloren, die im
19.Jahrhundert beschlossen hatte, Naturwissenschaft zu werden.
Die Erfahrungen, welche Medizinstudenten und die sie unterrich
tenden Ärzte heute in der Anatomie und Physiologie des Menschen
machen, bieten der moralischen Einbildungskraft zu wenig Nah
rung. Erst Viktor v. Weizsäcker wunderte sich wieder darüber, wie es
möglich ist, daß "Menschen trotz ihrer gleichartigen Anatomie so
ungeheuer verschieden sind". Aber sein Appell, den Menschen als
Subjekt in die Medizin einzuführen, hatte bisher kaum Erfolg.
Auch die Hoffnung, durch die Einführung der Psychologie in das
Curriculum der Medizin das Defizit an Nahrung für die moralische
Einbildungskraft der künftigen Ärzte auszugleichen, wurde bisher
oft enttäuscht. Für das Bestreben vieler Psychologen, mit den Na
turwissenschaften an Wissenschaftlichkeit zu wetteifern, war die
Verschiedenartigkeit menschlicher Wirklichkeiten nur ein Ärgernis.
Mit der Reduktion dieser Verschiedenartigkeit auf die Items eines
Fragebogens und die Vorschaltung der Statistik vor die Entwicklung
von Theorien wird die Nahrung für moralische Einbildungskraft
häufig wieder eliminiert. Damit wird zugleich auch die Frage um
gangen, ob diese Vorstellung von Wissenschaftlichkeit dem Gegen
stand der Psychologie angemessen ist. Der Autor zitiert dazu einen