Table Of ContentGrundsiitzlicher und situativer Kontext 87
P. noch wesentlich schlimmeren und bedrohlicheren Konfrontation mit einem
ungewissen, moglicherweise schmerzhaften und qUiilenden Sterben - kann es iiber
haupt keine "beratende Seelsorge" geben. Ja, selbst ein "helfendes Gespriich" im
eigentlichen Sinn ist in dieser Situation weder moglich noch iiberhaupt denkbar. Denn
welches Gespriich hilft gegen Sterben und Tod im Sinne einer Chance von Vermeidung
und Abwendung des Unheils?
1m Kontext "Tod und Todesdrohung" und in dem sich hier als noch akuter
erweisenden Kontext "Sterben und Sterbensangst" bleibt dem Seelsorger, der sich an
dem unter 2.1.1 skizzierten Seelsorgeverstiindnis orientiert, nur eine Moglichkeit: die
helfende Beziehung. Gemeint ist damit jene Gestalt von Interaktion, in der es "gerade
die Beziehung zwischen zwei Partnern im Gespdich" ist, "die eine helfende Funktion
auszuiiben vermag" (Scharfenberg 1972, S. 46). Angesichts von Sterben und Tod heiBt
dies: es geht urn den Widerspruch der Liebe, die den Tod zuzulassen und zu erleiden
vermag, ohne ihm Recht zu geben, indem sie ihm die Hoffnung opfert. Diese helfende
Beziehung angesichts von Sterben und Tod liegt, wie uns scheint, nahe bei der
"Begleitung", wie Sporken sie definiert und beschreibt (1981, S. 1-41; vgl. insbesondere
die bildhafte Definition von Begleitung, S. 12f.). Und sie hat als solche unmittelbar mit
dem Glauben zu tun, "der in der Liebe wirkend tiitig ist" (Gal 5,2) und der der
"Hoffnung auf die zukiinftige Herrlichkeit, die Gott geben wird", Grund und Gestalt
gibt (Rom 5,1.2) - mit dem Glauben also, der sich sowohl in der Liebe wie auch in der
Hoffnung zu Wort und Werk meldet, d. h. in der helfenden Beziehung als solcher und in
deren moglichem Zeichencharakter fiir die den Menschen im Tode bewahrende und aus
dem Tode errettende Zuwendung Gottes in Christus. "Vor allem ... in der helfenden
Beziehung finden sich Elemente, die dem Grundgeschehen des Glaubens entsprechen
konnen" (Scharfenberg 1972, S. 61).
Das bedeutet nun aber auch: solcher Widerspruch der Liebe gegen den Tod und
seine iingstigende Macht kann nur dann glaubwiirdig angemeldet werden, wenn er sich
in der konkreten Begegnung und Interaktion wenigstens anniiherungsweise in der
Gestalt helfender Beziehung verleiblicht. Anders ausgedriickt: der drohenden Priisenz
des Todes ist nur die - yom Partner erfahrbare - Bereitschaft des Seelsorgers
"gewachsen", sich selbst vertrauend und hoffend loszulassen. Sich selbst, das heiBt vor
aHem: seine eigenen Bediirfnisse, A.ngste und Zwangshaltungen. Hoffend, das heiBt:
ohne jede Absicht, aber nicht ohne Erwartung. Genauer: nicht ohne die Erwartung
einer befreienden Zukunft, einer erweiterten Existenz, deren Vorzeichen bereits in der
Interaktion selbst zu erwarten und wahrzunehmen sind - als Geschehnisse und Akte
von Befreiung z. B. aus individuellen und institutionellen Zwangen und daraus
resultierenden Kriippelgestalten von Kommunikation und verkiimmerter bzw. einge
schiichterter Identitat.
Die Bedeutung des Konstitutivums "Todesdrohung" fUr den Seelsorger und sein
Interaktionsverhalten liegt also, wie wir meinen, formal im Aufforderungscharakter
dieses Konstitutivums und inhaltlich (in Analogie zu der Aufforderung, die an den
Todkranken ergeht) in der Aufforderung, sich selbst hoffend loszulassen - in der
soeben andeutend beschriebenen Art und Weise. Wir meinen eine weitere AuBerung
Scharfenbergs recht zu verstehen, wenn wir sie in diesem Sinn interpretieren: "Wenn
man schon von einer Analogie zwischen der Rolle des Seelsorgers und dem, was er zu
vertreten hat, sprechen will, dann mit Sicherheit nicht von der Analogie der Wiirde, mit
der die GroBe des Auftrags anschaulich zu machen ist (Asmussen), sondern allenfalls
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von der Analogie des Kreuzes, mit der der Person des Seelsorgers und damit der
Beziehung eine solche Aufmerksamkeit zugewendet wird, daB sie aus der Beziehung
subtrahiert werden kann. Nicht an dem MaB der personlichen Wiirde des Seelsorgers
kann einem Menschen das aufgehen, was ihn unbedingt angeht, sondern allenfalls an
der Art, wie der Seelsorger versucht, sich selbst iiberfliissig zu machen und dem anderen
seine Freiheit zu lassen" (Scharfenberg 1972, S. 61).
2.2 Kriterien fUr das seelsorgerliche Gespdich
Sollen die Ergebnisse der vorliegenden Analyse eines seelsorgerlichen Gesprachs
theologisch reflektiert werden, so kommt neben dem grundsatzlichen und situativen
Kontext den Kriterien, die ein seelsorgerliches Gesprach als solches konstituieren bzw.
ausweisen, besondere Bedeutung zu. Dabei sind methodische und theologische
Gesichtspunkte zu unterscheiden; sie diirfen aber in Theorie und Praxis gerade nicht
getrennt werden, da es keine "wertfreie", theologisch irrelevante Methode der
Gesprachsfiihrung gibt. Deshalb miissen sich die methodischen Kriterien des seelsor
gerlichen Gesprachs an dessen theologischen Kriterien orientieren; zumindest diirfen
sie zu diesen nicht im Widerspruch stehen (eine direktive Gesprachsfiihrung ware z. B.
mit dem in 2.1.1 vorgetragenen theologischen Verstandnis nicht vereinbar). Daraus
ergibt sich, daB die theologischen Kriterien vorgegeben sind; sie sind als Metakriterien
der methodischen Kriterien seelsorgerlicher Gesprachsfiihrung zu sehen und anzuwen
den.
Aus dem moglichen Spektrum theologischer und methodischer Kriterien des
seelsorgerlichen Gesprachs soli hier je eines zur Sprache kommen, und zwar jeweils ein
Kriterium, das sich im Hinblick auf die Ergebnisse der Analyse als besonders "kritisch"
erweist (vgl. 2.3 und 2.4): das theologische Kriterium der Freiheit und das methodische
Kriterium der partnerschaftlichen Gegenseitigkeit.
2.2.1 Theologisches Kriterium des seelsorgerlichen Gespriichs: Freiheit
Schon in 2.1.3 tauchte das Stichwort "Befreiung" auf ("befreiende Zukunft"). Das ist
kein Zufall: 1m seelsorgerlichen Gesprach geht es in jedem Fall und unter allen
denkbaren Umstanden urn Erfahrung und Verwirklichung von Freiheit - und sei es nur
in einem einzigen oder winzig erscheinenden Schritt. Statt einer hier nicht moglichen
umfassenden theologischen Begriindung dieser These, die bei der Befreiung Israels aus
der agyptischen Sklaverei beginnen, ausfiihrlich bei der Verkiindigung Jesu und seinen
Exorzismen verschiedenster Art verweilen und zum SchluB den neuen Himmel und die
neue Erde der Offenbarung des Johannes einbeziehen miiBte, sei hier noch einmal
Scharfenberg wiedergegeben:
Der theologische Ansatz, der im tatsachlichen Gesprachscharakter das seelsorgerliche Element zu
finden versucht, [besteht] in dem Stichwort von der Freiheit. Es kann mit herzlicher Zustimmung
der theologische Ansatz Otto Haendlers fiir das seelsorgerliche Gesprach zitiert werden, der sehr
klar darstellt, daB das Ziel seelsorgerlichen Gesprachs die Freiheit eines Christenmenschen sei und
daB rechte Seelsorge in dem Betreuten das deutliche Empfinden wachhalten miisse, daB er von
Kriterien flir das seelsorgerliche Gesprach 89
Freiheit zu Freiheit gefiihrt werde. Die Frage nach der Freiheit eines Christenmenschen wird also
die kritische Sonde sein, mit der wir ... einige Grundauffassungen vom Gespriich iiberpriifen"
(Scharfenberg 1972, S. 25).
Dieser grundsatzliche Aspekt der Freiheit als Kriterium des seelsorgerlichen Gesprachs
erfahrt Bestatigung und Verstarkung, wenn er - wiederum situativ - auf den Kontext
von Sterben und Tod bezogen wird. Hier besagt er namlich, daB gegeniiber Sterben und
Tod und in ihrem Umfeld weder Vermeidung noch Verdrangung, weder Damonisie
rung noch Glorifizierung, weder (positivistische) Aufklarung noch Mystifizierung,
sondern einzig und allein Bejreiung Stichwort, Thema und Ziel am Evangelium
orientierter Seelsorge sein kann. Gemeint ist jene letzte, auBerste Moglichkeit, die - im
Gegensatz zu den eben aufgezahlten Moglichkeiten menschlichen Umgangs mit dem
Tod - nun wirklich keine Moglichkeit des Menschen als eines sterblichen Geschopfes,
sondern die in strenger AusschlieBlichkeit dem Schopfer und Vollender vorbehaltene
und von ihm in Kraft und Wirkung gesetzte VerheiBung ist, was von uns "hierzulande"
- wenn iiberhaupt - allenfalls andeutungsweise als Erfahrung eines Geheimni5ses an
den Grenzen der menschlichen Existenz wahrgenommen werden kann.
Befreiung von Sterben und Tod - keine Moglichkeit des Menschen also, ganz gewiB
nicht. Aber eine VerheiBung, in Kraft und Wirkung gesetzt im Tod Jesu: die
Relativierung des Todes hat begonnen. "Da bleibt nichts denn Tods Gestalt, den
Stachel hat er veri oren" (Luther). Auf Vorzeichen darf gewartet werden - auch und
gerade im seelsorgerlichen Gesprach, des sen Kriterium die Freiheit ist.
Die Verbindlichkeit rechten Glaubens ist ... eine ... befreiende GewiBheit ... Man kann Gottes nicht
gewiB werden, ohne ein befreiter Mensch zu werden. Eine mogliche Antwort auf die Frage nach dem
Tod muB also, wenn sie eine verbindliche Antwort des Glaubens sein soli, eine befreiende Antwort
sein. Gibt es auf die Frage nach dem Tod keine ... befreiende Antwort, dann gibt es eben keine
verbindliche Antwort des Glaubens auf diese Frage (Jiingel 1971, S. 40; Hervorhebungen von
Jiingel).
Wurde solche "befreiende Antwort" - nach den Ergebnissen der Analyse - im
vorliegenden seelsorgerlichen Gesprach vernehmbar?
2.2.2 Methodisches Kriterium des seelsorgerlichen Gespriichs:
partnerschajtliche Gegenseitigkeit
Wird als wesentliches theologisches Kriterium des seelsorgerlichen Gesprachs dessen
Orientierung auf Freiheit und Befreiung hin gesehen, so erscheint als entscheidendes
methodisches Kriterium des seelsorgerlichen Gesprachs partnerschaftliche Gegensei
tigkeit.
Beides hangt unmittelbar miteinander zusammen. Man konnte das letztere - das
methodische Kriterium der partnerschaftlichen Gegenseitigkeit - als "Operationalisie
rung" des theologischen Kriteriums der Freiheit bezeichnen, oder praziser: als seine
Aktualisierung und Konkretisierung in der Gestalt dialogischer Beziehung.
DaB und wie Charakter und Struktur des konkreten seelsorgerlichen Gesprachs sich
notwendigerweise am jeweils theologisch vorgegebenen Verstandnis von Ziel und
Funktion des seelsorgerlichen Gesprachs iiberhaupt orientieren und aus ihm resultie-
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ren, zeigt Scharfenberg iiberzeugend an der Gesprachsstruktur auf, die aus einem
theologischen Verstandnis entspringt, das dem in 2.2.1 Enfalteten entgegengesetzt ist.
Unter der Uberschrift "Der MiBbrauch des Gesprachs in der evangelischen Seelsorge"
faBt Scharfenberg seine diesbezuglichen kritischen Ausflihrungen folgendermaBen
zusammen:
Autoritar muB jede Gespriichsflihrung genannt werden, die das Gesprach nur dazu benutzen will,
urn etwas Vorgegebenes, an der Vergangenheit Orientiertes, Bekanntes und Verfiigbares "auszu
richten". Das Sprachgeschehen wird ... hier ... ebenso eingeengt wie iiberall da, wo man nach einer
vorgegebenen Methode verfahren will, die in einer unwandelbaren Grundstruktur stets das G1eiche,
wenn auch in einer dem Einzelfall strategisch angepaBten Modifikation vollziehen will. Sie ist in der
Tat "liturgisch", denn sie versucht den lebendigen Gesprachsablauf zu ritualisieren, in ein
vorgegebenes Gleis zu lenken. Damit erhait die Seelsorge ... den Charakter einer religi5sen
"Begehung", die in einer Art Wiederholungszwang in die ewig gleiche Kreisbahn urn denselben
Mittelpunkt einschwingen laBt (Scharfenberg 1972, S. 14-19).
1m Gegensatz dazu flihrt der theologische Ansatz, der sich nicht an der "Ausrichtung"
von "Vorgegebenem" orientiert, sondern "im tatsachlichen Gesprachscharakter das
seelsorgerliche Element zu finden versucht" und der "in dem Stich wort von der
Freiheit" besteht, notwendig zu folgender Konsequenz flir die Praxis der Gesprachs
flihrung: ,,1m Gesprach hat keiner der beiden Partner die Fiihrung. Rede und
Gegenrede bewirken ein Fortschreiben des Gesprachs, ohne daB in ihm ein vorher
festgelegtes Programm absolviert werden konnte. In dies em Vorgang besteht die
partnerschaftliche Gegenseitigkeit des Gesprachs" (Scharfenberg 1972, S. 42).
Das so verstandene und praktizierte Gesprach eroffnet auBer dem Aspekt der
partnerschaftlichen Gegenseitigkeit, d. h. der Ermoglichung eines wirklichen Dialogs
als Folge der Absage an falsch verstandene Autoritat und Dominanz des Seelsorgers in
der verbalen Interaktion, einen weiteren Freiheitsraum, auf den Scharfenberg auf
merksam macht: Es vollzieht sich flir den seelsorgerlichen Gespdkhspartner "die
Zustellung eines Stiickes Freiheit nicht nur der Natur und der Herrschaft gegeniiber,
sondern sich selbst gegeniiber. Durch das Gesprach wird eine entscheidende Hilfe
gegeben zur Einiibung dieser Freiheit. Wenn es namlich gelingt, im Gesprach
Empfindungen und Geflihle in Worte zu verwandeln, bedeutet dies zweifellos einen
Zuwachs an Freiheit gegeniiber triebhafter Gebundenheit" (Scharfenberg 1972, S. 42).
Wurde im vorliegenden seelsorgerlichen Gesprach "partnerschaftliche Gegenseitig
keit" praktiziert? Wurde der Patientin "ein Stiick Freiheit sich selbst gegeniiber", ein
"Zuwachs an Freiheit" beispielsweise gegenuber ihrer Angst ermoglicht? Danach wird
gefragt werden miissen.
2.3 Defizite im Gesprachsverlauf: Brechungen symbolischen Geschehens
In der vorhergehenden Besinnung (Kap. 2.2) hat sich das Stich wort "Freiheit" als
entscheidendes Kriterium sowohl flir Sinn und Funktion als auch flir die Beziehungsge
stalt des Gesprachs erwiesen. An ihm ist demnach der konkrete vorliegende Gesprachs
verlauf zu iiberprufen.
Die Gesprachsanalyse erweist, was die ,,steuerung" des Gesprachs betrifft, ein
nondirektives Verhalten des Seelsorgers als �G�r�u�n�d�~�u�s�t�e�r�.� Trotzdem kommt es im
Defizite im Gesprachsverlauf: Brechungen symbolischen Geschehens 91
Gesprachsverlauf mehrmals zu Bruchstellen oder "Stilbruchen", "Insgesamt herrscht
der Eindruck vor, daB der Seelsorger sich durchweg um nondirektive Gesprachsfiih
rung bemUht, aber an verschiedenen Stellen um seiner eigenen Orientierung und
Verarbeitung willen davon abweicht. Die Spannungen zwischen Seelsorger und
Patientin bleiben weitenteils latent. Grund dafiir dUrfte sein, daB die BedUrfnisse des
Pfarrers von seinen Vorsatzen zur Gesprachsfiihrung Uberdeckt werden" (s. 1.3.1).
Bei naherer Betrachtung des hier angesprochenen Sachverhalts lassen sich, wie mir
scheint, 4 solcher "BedUrfnisse" oder Motivationen ausmachen. Ihnen soli eingehender
nachgespUrt werden.
2.3.1 Abwehr (Flucht) als Verhinderung bzw. Vermeidung von Niihe
Dies scheint von allen "BedUrfnissen" des Seelsorgers das am hiiufigsten auftretende zu
sein. Konkret auBert es sich in den yom Analytiker erhobenen "Bremsversuchen", in
denen der Seelsorger sich gegenUber emotionalen "Lawinen" von seiten der Patientin
vorubergehend in Sicherheit bringt, aber auch im Versuch, nichtheile Welt zu
harmonisieren bzw. zu neutralisieren, z. B. als "Versuch ... , die Depression der
Patientin eindeutig ins Damals und Dort zu bannen, um sich vor der Konfrontation mit
eventuellen Depressionen im Hier und Jetzt zu schUtzen" (s. 1.3.1).
2.3.2 Angst (Selbstschutzbedurfnis) als Verhinderung von Solidaritiit mit dem
Partner in seiner Konfrontation mit bedrohlicher sozialer Realitiit
Auch unter diesem Aspekt tritt "bedUrfnisorientiertes" Verhalten des Seelsorgers
relativ haufig im Verlauf des Gesprachs auf. "Aile Interventionen des Seelsorgers
drUcken das BemUhen aus, verstandnisvoll zu sein ... Gleichzeitig sind sie aber von
einem tatsachlichen vollen Verstandnis der Patientin noch entfernt". "Da, wo aus den
Formulierungen des Seelsorgers das positive Bild einer Geborgenheit vermittelnden
Familie herausklingt, zeichnet die Patientin mit ihren eigenen Formulierungen das
neutrale Bild einer Alleinsein ermoglichenden Familie". Der Seelsorger "kann nicht
akzeptieren, daB die Patientin ihre Hoffnung allein in der bloB en Gesundung und nicht
im vertrauten Familienkreis und in den Mitmenschen sucht" (s. 1.3.3). Der Grund
dafUr dUrfte sein, daB er ihre reale, bedrohliche soziale Situation nicht akzeptieren
kann oder will. Damit aber vermeidet bzw. verhindert er wirkliche Solidaritat mit der
Patientin in ihrer bedrUckenden familiaren Situation.
2.3.3 Orientierungsbedurfnis als Verhinderung von Empathie
Das BemUhen und der gute Wille des Seelsorgers, die Patientin zu verstehen und sich in
sie einzufiihlen, ist - wie die Gesprachsanalyse zeigt - immer wieder von der Suche nach
eigener Orientierung begleitet. Mag der Seelsorger selbst solche Orientierung als
notwendige Hilfe zum Verstehen der Patientin verstanden haben, so zeigt die
Gesprachsanalyse, daB sein diesbezUgliches BedUrfnis mehrmals wirkliche Empathie
verhindert, sein "funktionales" Verstandnis von Orientierung also eine Rationalisie-
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rung des eigenen zwanghaften Bediirfnisses, "chaotische" Emotionalitat zu kanalisie
ren, darstellt:
Phase VI beginnt mit ausgesprochenen divergierenden Absichten. Die Patientin flihrt das
Depressionsthema wieder ein und hofft auf eine Bestiitigung, damit sie es vertiefen kann. Der
Seelsorger unterlli3t die erhoffte Bestlitigung und okkupiert statt dessen die Patientin mit einer
Erglinzungsfrage zu seiner eigenen Orlentierung. Was die Patientin anstrebt, hlilt der Seelsorger auf.
Er versucht, die "Lawine" schon vor dem neuerlichen Anrollen zu bremsen. In einer Weise, die in
diesem Gesprlich einmalig ist, bleibt der Seelsorger bei seiner Frage nach der zeitlichen Einordnung
der geschilderten Episode. Er schlie3t eine Serle von 5 weiteren Au3erungen an, die aile auf eine
Prlizisierung der zeitlichen Verhliltnisse abzielen --- eine Passage ... , die deutlich vom nondirekti
ven Charakter des restlichen Gesprlichs abweicht (s. 1.3.1).
So fiihrt das Orientierungsbediirfnis des Seelsorgers zu Briichen der nondirektiven
Gesprachsfiihrung und zu Defiziten an Empathie im Gesprachsverlauf, wo diese fiir die
"helfende Beziehung" von besonderer Bedeutung gewesen ware.
2.3.4 "Rollenzwang" als Verhinderung befreienden Geschehens im Gespriich
Handelt es sich bei den vorhergehend beschriebenen Defiziten oder "Brechungen" des
symbolischen Geschehens im Gesprachsverlaufum subjektive bzw. personlich beding
te Zwangsaspekte, die als wirksame Faktoren die verbale Interaktion einengen, so geht
es im folgenden urn ein in der Gesprachsanalyse nachgewiesenes Phanomen von
"Rollenzwang", namlich urn ein "Anliegen theologischer Provenienz im Kontext der
Schwellenphase 3", deren "Ausdehnung ... fast ausschlieBlich yom Seelsorger" bewirkt
wird und die zum "endlosen Finale" gerat.
Konkret geht es urn das "Angebot" eines Gebets und urn einen "Bibelspruch". Wenn
die Gesprachsanalyse feststellt: "So ganz genau kann man ... nicht entscheiden, ob der
Pfarrer nun das Gebet anbietet oder nur fiber das verpaBte Angebot berichtet" und hier
von einem "indirekten eigenen Wunsch" spricht, so wird eben daran so etwas wie ein
internalisierter "Rollendruck" bzw. "Rollenanspruch" erkennbar - "ein deutliches
Zeichen dafiir, daB hier der Pfarrer ein eigenes Anliegen, eine beruflich bedingte
Aufgabe, wahrnehmen sollte. Diesen Versuch machen zu konnen, konnte ... einer der
Griinde gewesen sein, weshalb er seinen Abschied so lange aufschob". Ahnliches stellt
die Gesprachsanalyse im Hinblick auf den "Bibelspruch" fest: mit ihm konnte die
"Funktion ... verbunden sein, ... der Patientin ,etwas mit auf den Weg zu geben'. Auch
hier ware also wieder auf ein berufsbedingtes Anliegen des Seelsorgers zu schlieBen.
Auch dieses Anliegen konnte den Seelsorger zu einer weiteren Ausdehnung der
Verabschiedung bewogen haben".
"ZusammengefaBt kann man also vermuten, daB Gebetsangebot und Bibelspruch
spezielle Leistungen sind, die der Seelsorger aus seiner Berufsauffassung heraus
erbringen wollte und urn deretwillen er eine Verlangerung des Gesprachs auch gegen
die Tendenzen der Patientin betrieb ... An Zuhoren und Begleiten ist eine pastorale
Offerte gekoppelt" (s. 1.3.6).
SchluBbilanz 93
2.3.5 ZusammenJassender Riickbezug
Die unter 2.3 erhobenen Defizite im Gesprachsverlaufmiissen nun auf die FeststelIung
in 2.1.3 ruckbezogen werden:
Der drohenden Prasenz des Todes ist nur die - vom Partner erfahrbare - Bereitschaft des
Seelsorgers "gewachsen", sich selbst vertrauend und hoffend loszulassen. Sich selbst, das hefit vor
aHem: seine eigenen Bediirfnisse, Angste und Zwangshaltungen. Hoffend, das heiSt: ohne jede
Absicht, aber nicht ohne Erwartung. Genauer: nicht ohne die Erwartung einer befreienden
Zukunft, einer erweiterten Existenz, deren Vorzeichen bereits in der Interaktion selbst zu erwarten
und wahrzunehmen sind - als Geschehnisse und Akte von Befreiung, z. B. aus individueHen und
institutioneHen Zwangen und daraus resultierenden Kriippelgestalten von Kommunikation und
verkiimmerter bzw. eingeschiichterter Identitat.
Dieser Riickbezug macht deutlich: die in der vorliegenden Gesprachsanalyse aufgewie
senen Defizite in Struktur und Verlauf des Gesprachs erweisen sich alIesamt als
Gestalten des Sich-nicht-Loslassens, genauer: des Sich-nicht-loslassen-Konnens des
Seelsorgers. Sie erweisen sich damit als Defizite der unter 2.1.3 postulierten Verleibli
chung des Widerspruchs der Liebe gegen den Tod und seine angstigende Macht in der
Gestalt der helfenden Beziehungi n der konkreten Begegnung und Interaktion. Und sie
erweisen sich damit - dies ist als das Entscheidende hervorzuheben - als Brechungen
des "Symbols Beziehung" im seelsorgerlichen Gesprach.
Das bedeutet: samtliche aufgrund der vorliegenden Gesprachsanalyse erhobenen
Zwangsgestalten seelsorgerlicher Interaktion - ob personlich oder "rolIenbedingt" -
bewirken eine teilweise Deformierung der Freiheit, die das Evangelium von Jesus
Christus bezeugt und bewirkt und die seinem yom Tode bedrohten Mitmenschen zu
vermitteln der Seelsorger berufen und verpflichtet ist. Sie erweisen sich als Zwangs
strukturen in der Kommunikation, die eben diese Freiheit verdunkeln und verstelIen.
Die damit anvisierte Dialektik von Botschaft und Beziehung solI in einer
SchluBbilanz reflektiert werden.
2.4 SchluBbilanz
Der "Befund" der Gesprachsanalyse legt es nahe, die grundsatzliche Dialektik von
Botschaft und Beziehung in der seelsorgerlichen Interaktion unter 3 Aspekten zu
reflektieren.
2.4.1 Rollenzwang oder Au/trag?
Der in der Gesprachsanalyse zutage gefOrderte Konflikt zwischen "helfender Bezie
hung" und "pastoraler Offerte" konnte vorschnelI zu der Frage verleiten: Hatte es flir
letztere im Hinblick auf Zeitpunkt sowie Art und Weise des "Angebots" eine
sinnvolIere Moglichkeit gegeben? Statt dessen ist grundsatzlich zu fragen: Verpflichtet
der Auft rag des Seelsorgers ihn iiberhaupt zu so1chem "Angebot"?
Legitimation und Auft rag des Seelsorgers, Menschen im Angesicht des Todes
beizustehen, konnen (sehr verkiirzt) theologisch auf 3 Ebenen begriindet werden:
94 Gebrochenes Symbol
1) Anthropologisch. Sterben ist gemeinsames menschliches Geschick. Nichts auBer
unserer Geburt verbindet uns so fraglos mit allen anderen Menschen; Sterbenmus
sen ist gemeinsame menschliche Not und Angst. In unserem Geschopfsein grundet
sich die Solidaritiit mit allen, die endlich und sterblich sind wie wir (Jes 40,6;
Ps 90,12).
2) Christologisch. Indem Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert, identifiziert er sich
mit dem Menschen, der unter dem Geschick des Todes steht (Jungel, S. 138ff.).
Damit ist der vom Tod bedrohte Mensch als solcher Adressat der partizipierenden
Liebe Gottes, im besonderen aber der diese Konfrontation akut und existentiell
erfahrende und erleidende Mensch. Das heiBt: wir kommen im Namen Gottes zu
den Sterbenden, wenn wir im Namen Jesu zu ihnen kommen. Aus dem In-Christus
geliebt-Sein entspringt das Zeugnis der Liebe an aIle, die Adressaten derselben Liebe
sind (2 Kor 5,14f.).
3) Pneumatologisch. Der Geist, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Rom 8,22)
bringt die neue Schopfung hervor und ist selbst ihr Anfang (Rom 8,23). Damit ist
dem von Gott geschaffenen und geliebten Menschen neues Leben aus dem Tod und
gegen den Tod verheiBen. Er hat - in aller Gebrochenheit - schon Anteil an der
neuen Schopfung; auf jeden Fall ist er dazu berufen. Aus der an uns und in uns
wirkenden neuen Schopfung folgt der Ruf zur Hoffnung flir aIle, die mit uns der
Auferstehung teilhaftig werden sollen.
In 3facher Gestalt sind wir also dem vom Tode bedrohten und umfangenen Menschen
zu begegnen ermachtigt: als Mitmensch in geschopflicher Solidaritat, als Botschafter
der dem sterbenden Menschen sich zuwendenden Liebe Gottes und als Zeugen der
Hoffnung auf Gottes neue SchOpfung.
Die 3. Sinnebene schlieBt die 2. und l., die 2. die l. ein. Aber auch dort, wo wir dem
betroffenen Menschen "nur" als Mitmenschen begegnen, handeln wir vollgultig im
Auft rag Gottes, namlich das Geschaffene bewahrend und damit auf die Eroffnung der
beiden anderen Horizonte hin, so gewiB die Schopfung Gottes auf Erlosung und
Vollendung hin angelegt ist.
Gebet und andere "liturgische" Angebote konnen in den Dienst dieser Zielsetzung
gestellt werden - aber sie muss en es nicht. Wo sie sich in die konkrete helfende
Beziehung als "Zeichen" der Selbstmitteilung Gottes nicht einfligen, sondern dieses
"brechen", durfen sie es nicht.
2.4.2 Beziehung im Angesicht der Todesdrohung als Aktualisierung
des Widerspruchs gegen den Tod
Wenn Tod theologisch als Beziehungslosigkeit definiert werden kann (Jungel 1971),
dann ist jede Aufnahme einer Beziehung mit dem vom Tod akut bedrohten oder
sterbenden Menschen als solche eine Aktualisierung des leidend-hoffenden Wider
spruchs gegen den Tod. DaB die seelsorgerliche Beziehung sich begriindet weiB in der in
Christus sich selbst hingebenden Liebe Gottes und der daraus erwachsenden Hoff
nung, setzt diese Feststellung nicht auBer Geltung, sondern vielmehr erst wirklich in
Kraft - auch wenn dies nicht expressiv verbis "zur Geltung gebracht" wird. Die zu
einem todkranken oder sterbenden Menschen aufgenommene und mit ihm durchgehal-
Anmerkung 95
tene Beziehung kann in sich selbst zum "Mutbild gegen den Tod" (Bloch) werden.
Unbeschadet und "jenseits" dessen ist die seelsorgerliche Beziehung dadurch qualifi
ziert, daB sie sich selbst bewuftt als mogliches Zeichenjener Liebe Gottes und der aus ihr
erwachsenden "Hoffnung wider alle Hoffnung" versteht und eben dieses "Bezeichnete"
im Rahmen und unter den Bedingungen dieser Beziehung auch verbal zur Sprache zu
bringen sucht - als Botschaft von dem Gott, "welcher Jesus, unseren Herrn, auferweckt
hat von den Toten" (Rom 4,18; 4,24).
2.4.3 Befreiung im Gespriich als Vorzeichen befreiender Zukunft:
die Gestalt der Hoffnung
DaB die Patientin sich zunehmend zu Offnen wagt - und dies zuletzt mit einer
"Geschichte gegen den Tod", zeigt die Gestalt der Hoffnung, die selbst noch das
"gebrochene Symbol" zu erwecken vermag - ein indirektes Zeugnis dafiir, daB sich die
Patientin der Moglichkeit leidend-hoffenden Widerspruchs gegen den Tod und seine
Drohung trotz der im Interaktionsverhalten des Seelsorgers begrundeten erheblichen
Erschwerungen bewuBt wurde. Vielleicht konnte sie in dieser Begegnung - am eigenen
und am Verhalten des Seelsorgers - von beidem ein wenig erfahren: wie stark die Angst
ist, sich selbst loszulassen, und wie real die Befreiung, wenn eben dies gewagt wird - im
Vertrauen auf die verliifiliche Zuwendung Gottes, der sich uns in Christus als der
mitgehende Gott offenbart hat. Ob sie dies "Wenige" ohne eine solche Begegnung
erfahren hatte?
2.5 Anmerkung
Dem theologischen Betrachter ist in der Beschaftigung mit der vorliegenden Ge
sprachsanalyse die "Praxisrelevanz" zweier Feststellungen von Paulus neu aufgegan
gen: "Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2 Kor
3,17). Und: "Wir haben aber solchen Schatz in irdenen GefiiBen, auf daB die
iiberschwengliche Kraft sei Gottes und nicht von uns" (2 Kor 4,7). Die beiden
Apostelworte scheinen ihm die Richtung zu weisen, in der die aufgewiesenen Defizite
unter Vermeidung unrealistischer Erwartungen sachgemaB und sinnvoll angegangen
werden konnen.
Literatur
Cline bell HJ (1971) Modelle beratender Seelsorge. Kaiser-Grunewald, Munchen
Gaus E, Kohle K (1982) Angste des Patienten - Angste des Arztes. Anmerkungen zur Konfliktaustra
gung in einer schwierigen Visite bei einem Todkranken. In: Kohle K, Raspe HH (Hrsg) Das
Gesprach wahrend der arztlichen Visite. Empirische Untersuchungen. Urban & Schwarzenberg,
Munchen, S 269-286
Jungel E (1971) Tod. Kreuz-Verlag, Stuttgart (Themen der Theologie, Bd 8)
Luthi K (1968) Die neue Welt der Schriftsteller. Theologische Argumente fUr die Literatur der
Gegenwart. Kreuz-Verlag, Stuttgart
96 Gebrochenes Symbol
Reiner A (1973) Der Krebskranke und sein Begleiter. Dtsch Arztebl3: 157-160
Scharfenberg J (1972) Seelsorge als Gesprach. Vandenhoek & Ruprecht, Gottingen
Scheytt C (1984) Seelsorge an Sterbenden im Krankenhaus. In: Spiegel-Rosing I, Petzold H (Hrsg) Die
Begleitung Sterbender. Junfermann, Paderbom, S �~�3�0�
Sporken P (1981) Hast Du denn bejaht, daB ich sterben muB? Eine Handreichung fiir den Umgang mit
Sterbenden. Patmos-Verlag, Dusseldorf
Description:In einer Zeit, in der die Frage des Umgangs mit todkranken Menschen zunehmend an Bedeutung gewinnt, bringt dieses Buch entscheidende Hinweise und neue Ansätze für den Bereich der Klinikseelsorge. Das Gespräch zwischen Klinikseelsorger und Patienten wird hier erstmals unter gesprächsanalytischen