Table Of ContentKLEIST-JAHRBUCH 2004
KLEIST-JAHRBUCH 
2004 
Im Auftrag des Vorstandes 
der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft 
herausgegeben von 
Günter Blamberger und lngo Breuer 
(verantwortlich für Kleist-Preis, Abhandlungen), 
Sabine Doering und Klaus Müller-Salget 
(verantwortlich für Rezensionen) 
VERLAG J. B. METZLER 
STUTTGART . WEIMAR
Anschrift der Redaktion: 
Dr. Ingo Breuer, Universität zu Köln, Institut für Deutsche Sprache und Literatur, 
Albertus-Magnus-Platz, D-50931 Köln, eMail: [email protected] 
Mitarbeit: Kara Wiendieck, Dr. Dominik paß und Philipp Klippel 
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek 
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; 
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 
ISBN 978-3-476-02048-2 
ISBN 978-3-476-02898-3 (eBook) 
DOI 10.1007/978-3-476-02898-3 
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mung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, 
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in 
elektronischen Systemen. 
© 2004 Springer-Verlag GmbH Deutschland 
Ursprünglich erschienen bei J.B.Metzlersche Verlagsbuchhandlung 
und earl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2004 
www.metzlerverlag.de 
[email protected]
INHALT 
Verleihung des Kleist-Preises 2003 
Günter Blamberger: Erreger. Zur dionysischen Dichtkunst Albert Oster 
maiers. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Albert Ostermaier 
im Berliner Ensemble am 23. November 2003  .....................  3 
Andrea Breth: Kleist-Preis-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 
Albert Ostermaier: Kleist-Preis-Rede  ................................  12 
Abhandlungen 
Bettine Menke: Die Worte und die Wirklichkeit, anläßlich der Frage nach 
>Literatur und Selbsttötung<, am Beispiel Heinrich von Kleists  .......  21 
Remigius Bunia: Vorsätzliche Schuldlosigkeit - begnadete Entscheidungen. 
Rechtsdogmatik und juristische Willens zurechnung in >Der Prinz von 
Homburg< und >Die Marquise von 0 ... < . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 
Adam Soboczynski: Das arcanum der >Marquise von 0 .... <. Kleists preußi-
sche Novelle zwischen Verstellungskunst und Gottesbegehren .......  62 
Ulrich Fülleborn: Nach Kleists gescheiterter Tragödie das  Gelingen der 
Komödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  88 
Gerhart Pickerodt: »Bin ich der Teufel? Ist das ein Pferdefuß?« Beantwor-
tung der Frage, warum Kleists Dorfrichter Adam den linken Fuß zeigt  107 
Sabine Eickenrodt: Kopfstücke. Zur Geschichte und Poetik des literarischen 
Porträts am Beispiel von Robert Walsers >Kleist in Thun< . . . . . . . . . . . .  123 
Rezensionen 
Joachim Pfeiffer: Neue Wege der Forschung (Über: Heinrich von Kleist. 
Neue Wege der Forschung, hg. von Anton Philipp Knittel und Inka 
Kording)  ....................................................  147 
V
Klaus Müller-Salget: Kleist zwischen Aufklärung und Romantik (Über: Jo 
chen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in 
ihrer Epoche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  151 
Bernd Hamacher: Einübung in genaues Lesen (Über: Klaus Müller-Salget, 
Heinrich von Kleist) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 
Sibylle Peters: Edition und Redaktion - Drucksatz und Deadline. Ein erster 
Rückblick auf die Arbeit mit der Neu-Edition der >Berliner Abendblät 
ter< in der Brandenburger Kleist-Ausgabe (Über: Heinrich von Kleist, 
Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Band 11/7 und 8: >Ber-
liner Abendblätter<)  ...........................................  160 
Peter Philipp Riedl: Kleists Textmanöver und die Medialität der Zeit (Über: 
Sibylle Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der 
MachArt der Berliner Abendblätter)  .............................  168 
Johannes G. Pankau: Zum Pathos in der Literatur (Über: Rainer Dachselt, 
Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poe-
tik)  .........................................................  172 
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179 
Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ......................  180 
Informationen zur Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  182 
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VERLEIHUNG 
DES KLEIST-PREISES 2003
GÜNTER BLAMBERGER 
ERREGER. 
ZUR DIONYSISCHEN DICHTKUNST 
ALBERT OSTERMAlERS 
Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Albert Ostermaier 
im Berliner Ensemble am 23. November 2003 
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Andrea Breth, lieber Hermann Beil, 
lieber und heute zu ehrender Albert Ostermaier, 
stellen Sie sich bitte alle miteinander vor, Sie seien jetzt nicht im schönen Foyer des 
Berliner Ensemble, sondern vermittels einer Zeit- und Raummaschine in einem 
Berliner Wohnzimmer um 1900, in dem allen dort befindlichen Gegenständen auch 
noch die Gabe der Sprache verliehen wäre. Die Meißner Porzellanfigur erzählt hier 
gerade dem weißen Eisbärfell ihre kleinen Herzensgeschichten, der Eisbär seine Po 
larabenteuer den Sphinxköpfen aus Stuck an der Decke, die Sphinxköpfe tauschen 
ihre orientalischen Erfahrungen mit denen der chinesischen Vasen aus, der Bieder 
meiersessel schwärmt vom Rokokosekretär und so weiter. Alles redet in diesem 
Zimmer durcheinander, man versuche nur die Stimme der eigenen Seele in dieser 
Kakophonie zu hören und sage, ob der Wahnwitz und Mißklang einer solchen Mu 
sik nicht wie geschaffen ist, uns am Ende der Vernunft zu berauben. So Henry van 
de Velde, einer der führenden Theoretiker und Designer des Jugendstils, von dem 
das Gedankenexperiment stammt. Das historistische Interieur seiner Zeit will er da 
mit verspotten, die Sammelkunst um 1900. Wenn man die Zeit um 1900 mit der um 
2000 vergleicht, so scheint es, als ob der historistische Sammelspuk ein Wiedergän 
ger der Jahrhundertwenden wäre. >Nichts als Gespenster<, so lautet der TItel des 
neuen Erzählbandes von Judith Hermann, Kleist-Preisträgerin des Jahres 2001. Die 
vergangenen Stimmen kehren wie Geister in der Gegenwart der eigenen Stimme 
wieder, darüber erschrickt nur keiner mehr und keinem raubt es die Vernunft, wie 
selbstverständlich wird man im Fremden heimisch statt im Eigenen. Die postmo 
derne Literatur der 80er Jahre ist in ihrem Zitaten-und Genremix häufig bloß neo 
historistische Sammelkunst, und die Popliteratur der 90er Jahre, die im Gegensatz 
zu der der 60er Jahre keine rebellische Dissidentenkultur mehr sein will, hat ihr 
kreatives Vorbild im DJ, der mittels seiner Plattenkiste oder des Sampiers Vergange 
nes in die Gegenwart mischt. Die Hauptstrategien der Kreativität heißen re-make, 
re-mix und loop, in der Musik, in der Literatur, in den Medien. Die Wiederholungs-
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Günter Blamberger 
schleifen dominieren, die 70er Jahre-Show wird ebenso zur Gegenwart wie die 
Wunder von Bern oder Lengede. Das, was heute Gegenwart heißt, wird so breiter 
und breiter. Wir leben frag- und klaglos in einer Zwischenzeit, welche die Vergan 
genheit nicht zurücklassen und auch keinen neuen Horizont bezeichnen kann. 
Albert Ostermaier dagegen ist anachronistisch, verhält sich unzeitgemäß. Zwar 
gehört er der Sammlergeneration der 90er Jahre an, in der neu-alten Dekadenz einer 
>Tristesse royale< oder neohistoristischen >Poetik der Unentschiedenheit< mag er 
sich jedoch nicht einrichten. Die Räume seiner Texte sind anders beschaffen als die 
gewöhnlichen Räume zeitgenössischer Literatur und Politik. Sie sind keine Warte 
säle, in denen nichts mehr erwartet wird. Sie platzen eher vor Sehnsüchten. Wenn 
Ostermaier sammelt, dann Pathosformeln, dann so, daß die Vergangenheit ihren 
Beunruhigungswert nicht verliert, daß im Vergangenen der Funke der Hoffnung 
wieder angefacht wird. »Kalt ist der Tod doch kälter was/mich wärmen könnte«. 
Diese Verse aus Ostermaiers Gedichtband >fremdkörper hautnah< haben Sie gerade 
gehört und damit eine Erinnerung an Fassbinder, der vor dem allgemeinen >Tempe 
ratursturz< notfalls in den Kitsch und in die Banalität des Alltags geflüchtet ist. 
Auch Ostermaier scheut in seiner Lyrik davor nicht zurück, wenn es darum geht, 
Gefühle wiederzubeleben, Herz-Verse zu sagen. >Erreger< heißt ein Drama Oster 
maiers, aus dem Thomas Thieme gleich lesen wird, ein anderes Drama hat einen 
ebenso emblematischen Titel: >Es ist Zeit. Abriss<. Ostermaier liebt die destruktiven 
Charaktere, die aus dem Weg räumen, was Wege in die Zukunft versperren könnte, 
seine Wiedergänger aus der Vergangenheit sind Anarchisten wie Fatzer, die »Men 
schen schlachten bevor sie schlecht sind«, oder Baal alias Brom in >The Making of. 
B.-Movie<, der die kannibalische Penthesilea wortwörtlich im Munde führt, im 
Wissen, daß auch die Liebe ein Schlachtfeld ist. Ostermaier schickt seine Helden 
wie in >Death Valley Junction< durch Dantes Himmel und Hölle und wieder und 
wieder konfrontiert er sie mit dem Tod. Genauer: Er läßt sie in endlosen Wortkas 
kaden wütend oder verzweifelt anreden gegen das Absterben der Gefühle. Die 
Nighttalkerin des Stücks >Radio Noir<, die ihr Publikum dazu aufruft, alles zu zer 
stören, was zerstörungswürdig ist, um so wieder lebendig zu werden, stürzt sich am 
Ende in den Tod. Nicht die Heldin zerbricht dabei an der Wirklichkeit, sondern die 
Wirklichkeit an der Heldin. Sie ist eine Scheherezade, die vergeblich gegen den Tod 
erzählt. Wie der Dramatiker Toller im Stück >Tollertopographie<. Ostermaier hat 
eine Vorliebe für Kippfiguren, für Grenzsituationen, für die Ökonomie des Opfers. 
Das verführt dazu, ihn als einen politischen Dichter zu interpretieren und nach den 
Gründen zu fragen, warum seine Helden sterben müssen. Radikaler wäre es zu fra 
gen, warum sie es denn in eigener Regie können. Ihr Freitod scheint ein letzter Aus 
druck dafür zu sein, daß sie sich dem aller Natur eingeschriebenen Zwang zur 
Selbsterhaltung ihr Leben lang schon entzogen haben, daß sie Freiheit prinzipiell 
als einen Akt begreifen, der die eigene Selbsterhaltung notwendig verletzen muß, 
weil ohne die Aufgabe jeglicher Sicherheit im Leben nichts Neues möglich ist und 
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Erreger. Zur dionysischen Dichtkunst Albert Ostermaiers 
nicht in der Kunst. Ihr Freitod resultiert weniger aus einem Defizit als aus einem 
Übermaß an Leben. 
Dergestalt ist Ostermaier Kleist verwandt, der zwar davon schwärmt, wie per 
fekt Maschinisten Marionetten dirigieren können, aber in seinen Dramen und Er 
zählungen nicht von Figuren der Steuerung, sondern vom Gegenteil fasziniert ist: 
von den Augenblicken des Kontrollverlusts, von riskanten Bewegungen und deren 
Formen, von der Not, die erfinderisch macht. Wie Kleist ist Ostermaier niemals lau 
temperiert, wie Kleist kann Ostermaier nirgends gleichgültig sein, er leidet nicht an 
der gegenwärtigsten aller Todsünden, der Trägheit des Herzens und des Kopfes, die 
alle Unterschiede einebnet, die Differenzen nicht mehr mit Affekten markiert, die 
leidenschaftliche Liebe genauso aufgibt wie den Haß. Er kann - um einen weiteren 
seiner Stück-Titel zu zitieren - »zuckersüß und leichenbitter« sein, aber niemals 
blasiert und cool, niemals stumpf und teilnahmslos. 
Zurück zum Vergleich der Jahrhundertwenden 1900 und 2000. Zu erinnern ist an 
Kafkas Credo, daß ein Buch eine Axt sein müsse für das gefrorene Meer in uns. Zu 
hoffen wäre bei den derzeitigen Verhaltenslehren der Kälte, daß auf den neuen Hi 
storismus ein neuer Jugendstil, ein neuer Expressionismus, eine neue Sachlichkeit 
folgen, die das alte Wechselspiel von apollinischen Ordnungsfiktionen und dionysi 
schen Intensitätssteigerungen aktualisieren, da es heute beides braucht: die kon 
struktive Klarheit angesichts der Fülle medialer Reize und des Sensationen- und 
Beliebigkeitschaos, den Vitalismus angesichts des Übermaßes an medialer Lange 
weile, individualitätsvernichtender Funktionalität und herrschender Indifferenz. 
Sach- und Gemütslinien heißt das in der Ästhetik des Jugendstils. Ostermaiers 
Texte scheinen diesen Richtungssinn zu haben, hinter den exzessiven Satzfolgen 
ohne Punkt und Komma versteckt sich jeweils ein klares Formkalkül. Ostermaier 
hat, im Gegensatz zu seinen Generationsgenossen, so viel Benn in sich, daß er Ar 
tist sein will. 
Genauer als Germanisten können und müssen das Regisseure erkennen und be 
schreiben, die Ostermaiers vielfach geschichtete Zeilenblöcke in Szene setzen, die 
Worte in Bewegung, Mimik und Gestik transformieren müssen. Andrea Breth hat 
Ostermaiers Stück >Letzter Aufruf< 2002 in Wien inszeniert und ihn als Vertrauens 
person der Jury des Kleist-Preises in alleiniger Verantwortung zum Preisträger des 
Jahres 2003 bestimmt. Dafür schuldet ihr die Kleist-Gesellschaft großen Dank, aber 
nicht allein dafür. Daß die Jury Sie ausgewählt hat, Frau Breth, lag daran, daß wir 
nach Jahren wieder auf einen Dramatiker als Kleist-Preisträger hofften, es sollte je 
doch vor allem ein Dank für Ihre >Käthchen<-und >Schroffenstein<-Inszenierungen 
sein und ein Dank dafür, daß Sie in Ihren Regiearbeiten ganz kleistisch an Strategien 
zur Risikovermeidung kaum interessiert sind. 
Mit dem historischen Kleist hätte man vielleicht nicht befreundet sein wollen. 
Bei Albert Ostermaier ist das anders. Er hat viele Freunde, das zeigt sich auch in 
dieser Matinee. Ich darf allen Schauspielern und Musikern vom Wiener Burgtheater 
und vom Berliner Ensemble danken, die heute hier auftreten. Sie tun es ohne Ho-
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