Table Of ContentSitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 
Mathematisch-naturwissenschaftl iche Klasse 
Die Jahrgiinge bis 1921 einschlie,Plich erschienen im Verlag von Carl Winter, Universitiitsbuch 
handlung in Heidelberg, die Jahrgiinge 1922-1933 im Verlag Walter de Gruyter & Co. in Berlin 
die Jahrgiinge 1934-1944 bei der WeijJschen Universitiitsbuchhandlung in Heidelberg. 1945, 1946 
und 1947 sind keine Sitzungsberichte erschienen. 
Ab Jahrgang 1948 erscheinen die "Sitzungsberichte" im Springer-Verlag. 
Inhalt des Jahrgangs 1958: 
1. W. Rauh. Beitrag zur Kenntnis der peruanischen Kakteenvegetation. (vergriffen). 
2. W. Kuhn. Erzeugung mechanischer aus chemischer Energie durch homogene sowie durch 
quergestreifte synthetische Fiiden. (vergriffen). 
Inhalt des Jahrgangs 1959: 
1. W. Rauh und H. Falk. Stylites E. Amstutz, eine neue Isoetacee aus den Hochanden Perus. 
1. Teil. DM 30.40. 
2. W. Rauh und H. Falk. Stylites E. Amstutz, eine neue Isoetacee aus den Hochanden Perus. 
2. Teil. DM 42.90. 
3. H. A. Weidenmillier. Eine allgemeine Formulierung der Theorie der Oberfliichenreaktionen 
mit Anwendung auf die Winkelverteilung bei Strippingreaktionen. DM 12.00. 
4. M. Ehlich und M. Millier. Ober die Differentialgleichungen der bimolekularen Reaktion 
2. Ordnung. (vergriffen). 
5. Vortriige und Diskussionen beim Kolloquium tiber Bildwandler und Bildspeicherrohren. 
Herausgegeben von H. Siedentopf. DM 21.00. 
6. H. J. Mang. Zur Theorie des (X-Zerfalls. DM 12.00. 
Inhalt des Jahrgangs 1960/61: 
1. R. Berger. Ober verschiedene Differentenbegriffe. (vergriffen). 
2. P. Swings. Problems of Astronomical Spectroscopy. (vergriffen). 
3. H. Kopfermann. tIber optisches Pumpen an Gasen. (vergriffen). 
4. F. Kasch. Projektive Frobenius-Erweiterungen. DM (vergriffen). 
5. J. Petzold. Theorie des MoBbauer-Effektes. DM 17.90. 
6.  o. Renner. William Bateson und Carl Correns. DM 12.00. 
7. W. Rauh. Weitere Untersuchungen an Didiereaceen. 1. Teil. DM 56.90. 
Inhalt des Jahrgangs 1962/64: 
1. E. Rodenwaldt und H. Lehmann. Die antiken Emissare von Cosa-Ansedonia, ein Beitrag 
zur Frage der Entwiisserung der Maremmen in etruskischer Zeit. DM 12.00. 
2.  Symposium tiber Automation und Digitalisierung in der Astronomischen MeBtechnik. Her 
ausgegeben von H. Siedentopf. (vergriffen). 
3. W. Jehne. Die Struktur der symplektischen Gruppe tiber lokalen und dedekindschen Ringen. 
(vergriffen). 
4. W. Doerr. Gangarten der Arteriosklerose. (vergriffen). 
5. J. Kuprianoff. Probleme der Strahlenkonservierung von Lebensmitteln. (vergriffen). 
6.  P. Golak-Antic.  Dreidimensionale Instabilitiitserscheinungen des laminarturbulenten Um 
schlages bei freier Konvektion langs einer vertikalen geheizten Platte. DM 18.70. 
Inhalt des Jahrgangs 1965: 
1. S. E. Kuss. Revision der europiiischen Amphicyoninae (Canidae, Camivon, Mam.) aus-
schlieBlich der voroberstampischen Formen. DM 50.40. 
2. E. Kauker. Globale Verbreitung des Milzbrandes urn 1960. DM 12.00. 
3.  W. Rauh und H. F. SchOlch. Weitere Untersuchungen an Didieraceen. 2. Teil. DM 91.00. 
4. W. Felscher. Adjungierte Funktoren und primitive Klassen. (vergriffen).
Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akadernie  der  Wissenschaften 
Ma therna tisch-na turwissenschaftliche Klasse 
Jahrgang 1977,  1. Abhandlung
H. Schaefer 
Kind - Familie - Gesellschaft 
(Vorgelegt in derSitzung vom 3. Juli 1976) 
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1977
H. Schaefer 
Physiologisches 1nstitut 
1m Neuenheimer Feld 326 
6900 Heidelberg 
ISBN-13: 978-3-540-08205-7  e-ISBN-13: 978-3-642-47851-2 
DOl: 10.1007/978-3-642-47851-2 
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('  by Springer-Verlag Berlin· Heidelherg 1977 
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Kennzeiehnung nieht zu der !\nnahmc, daB solchc Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschut:.r-Gesetzgc 
bung als frei zu betrachten w~iren und dahcr von jedcrmann benutzt werden durftcll. 
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Vorwort 
Der nachfolgende Text, die erweiterte Fassung eines Vortrags, setzt sich 
zum Ziel, die derzeit so brennende Problematik der fruhkindlichen Depri 
vation in kurzer Form so darzustellen, daB die Grundlinien des Problems 
deutlich werden, ohne doch durch zu viel  Detail zu verwirren. Zugleich 
soil, insbesondere in den Erlauterungen, die Widerspruchlichkeit der Be 
funde dargestellt werden, die vorwiegend den Schwierigkeiten aller hier 
verwandten  Forschungsmethoden  zu  verdanken ist.  Die  umfangreiche 
phanomenologische  Literatur  uber  fruhkindliche  Deprivationen  kann 
nicht wiedergegeben werden. Sie ist einigen vorzuglichen Monographien 
leicht zu entnehmen (1). 
Januar 1977  H. Schaefer
Inhalt 
l. Geschichtliche Vorbemerkungen  9 
2.  Die neue Einsicht  11 
3.  Methodische Probleme  14 
4.  Sozialisation  17 
5.  Die vier Kataloge der Abwegigkeiten  21 
5.1. Einteilungsprinzipien  .  .  .  .  .  .  21 
a) Prinzip der multifaktoriellen Genese  22 
b) Variabilitat von Umwelteinflu13 und Erbanlagen  23 
c)  Ruckkopplungsgene  23 
5.2. Katalog der Deprivationen  24 
a) Ernahrungsmethoden  .  .  .  25 
b) Mangel an Sinnesreize  25 
c)  Deprivation geistiger Anreize  25 
d) Soziale Deprivation  .  .  .  .  25 
e)  Mangelnde Konstanz der Umwelt  26 
f)  Entzug einer Bezugsperson  .  27 
g) Verschiedenheit der Mutter  27 
h) Der Vater  .  .  .  .  .  .  .  .  27 
5.3. Die Aktivationen  ....  28 
5.4. Zeitpunkt und Dauer der schad lichen Einwirkung  29 
5.5. Katalog der Foigen  30 
6.  Schwere Kriminalitat  .  31 
7.  Die scheinbar harmlose Devianz  34 
8. Tagesmutter  37 
9.  Devianz und Umwelt  39 
10.  Moglichkeiten der Abhilfe  42 
11. Erlauterungen  45 
12. Literatur  .  .  55
Gesellschaft in Gefahr 
1. Geschichtliche Vo rbemerkungen 
"Alles ist gut, so wie es aus den minden des Schopfers hervorgeht. 
Alles entartet unter den Hiinden des Menschen." Diese vielleicht beruhm 
testen  Siitze uber  die  Genealogie des  Menschlichen,  die  beiden  ersten 
Siitze von ROUSSEAUS  "Emil" soil ten uns,  wenn wir sie  ernst  nehmen, 
sagen,  daB  eine  Gesellschaft,  die  uns gefiihrlich  - oder gefiihrdet  -
dunkt, eine unter den Hiinden der Menschen entartete Gesellschaft ist. 
Dies aber liiBt uns, mit ROUSSEAU, den Traum von einer idealen Gesell 
schaft triiumen, die dann entstunde, wenn Menschen es lernen, das unter 
ihren Hiinden Entstehende vor Verschlechterung zu bewahren. 
Urn die Dramatik der wissenschaftlichen Entwicklung, we1che diesen 
Traum wieder zu triiumen begonnen hat,  ganz zu verstehen, bedarf es 
einer kurzen Vorbetrachtung wissenschaftsgeschichtlicher Art.  Die Ein 
sicht  in  die  Mechanismen,  we1che  menschliches  Verhalten  steuern,  ist 
noch jung. Sie ist  - horribile dictu  - aus der zoologischen Verhaltens 
lehre  hervorgegangen (2).  Das  mag  schockieren,  denn  wenn  man  vor 
Psychotherapeuten, doch auch vor Psychologen, das Tier als Paradigma 
des  Menschen betrachtet und die  tierische Teilnatur des  Menschen  -
die  doch  der junge  SCHILLER  z.B.  so  klar  erkannte  - als  Erkliirung 
fur menschliches Verhalten nimmt,  so  darf man eines Verweises sicher 
sein. Selbst URSULA LEHR,  eine der kliigsten Frauen unserer derzeitigen 
gelehrten Welt, spricht, wenn sie die Theorie der Mutterentbehrung schil 
dert,  voll  offenbarer  Abneigung  von  Zoologen,  die  sich  des  Themas 
bemiichtigt  hiitten.  Mir  scheint  aber,  daB  die  SchluBfolgerungen  yom 
Tier auf den Menschen uns in ungewohnlich vielfiiltiger Weise bereichert 
haben. Das, was dabei insbesondere herauskam, war eine Kenntnis des 
sen, was schon MALTHUS, der groBe Okologe, als die tiefsitzenden Ursa 
chen allen Ubels betrachtete, die "Gesetze der Natur und die menschli 
chen Leidenschaften". la, mehr noch: es  wird  offenbar,  daB  die  unser 
Gluck so stark verheerenden menschlichen Leidenschaften auf naturge 
setzliche Weise entstehen und wir die Gesetze ihrer Entstehung langsam 
zu entziffern beginnen. 
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10  H. Schaefer 
Naturgesetze zu erforschen ist  die  Wissenschaft aufgerufen.  Sie  hat 
diesen Auftrag seit lahren auszufUhren sich  bemiiht.  Sie  muS  aber,  an 
die Adresse derer, die teils Wissenschaft zu finanzieren haben, teils aus 
den Einsichten der Wissenschaften lernen soli ten, eines mit aller Entschie 
denheit feststellen.  Der Wert einer Gesellschaft (sofern er sich in  ihrer 
Chance zu iiberleben ausdriickt)  kann  in  erster  Linie  daran  gemessen 
werden, was eine solche Gesellschaft fUr  ihre Kinder tut, die ihr eigent 
liches und einzig bestandiges Kapital sind. Die Giitekriterien der Gesell 
schaft bestimmen sich dabei nicht nach den finanziellen Aufwendungen 
(fUr Schulen oder Universitaten z.B.), sondern nach der Erfiillung jener 
Bediirfnisse des Kindes, deren Vernachlassigung das Kind unfiihig macht, 
in einer Gesellschaft eine diese Gesellschaft erhaltende Rolle zu spiel en. 
Will man freilich die Gesellschaft zerstaren, so gabe es kein passenderes 
Mittel als das, die Bediirfnisbefriedigung der Kinder zu verhindern. Wer 
die Gesellschaft verdndern will, miiBte dagegen gerade einen hohen Grad 
sozialer  Bildbarkeit  bei  Kindern  wiinschen,  eine  Tatsache,  die  unsere 
derzeit tatigen Gesellschaftsveranderer offen bar nicht einsehen. 
Was uns im Foigenden besonders beschaftigen soll, das sind die be 
drohlichen Erscheinungen, die wir an der jetzt heranwachsenden Genera 
tion beobachten. Die Zahl seelischer Starungen wachst rasch von einfa 
chen Abartigkeiten des Verhaltens iiber Neurosen zu offenbarer Geistes 
krankheit, es nimmt die Leistungsfahigkeit dieser Generation ab, indem 
sich in steigender Haufigkeit mangelndes Interesse an Schule und Beruf 
einstellen.  Die  Zahl der jungen Menschen,  welche  Schwierigkeiten  der 
Einordnung in  die  Gesellschaft haben,  ist hoch,  die  Bindungsfiihigkeit 
an andere Menschen und gesellschaftliche Gruppen sinkt bei einer wach 
senden Zahl 1 ugendlicher, so sehr, daB endlich das V er hal ten der 1 ugend 
lichen bis hin zur Kriminalitat in steigender Haufigkeit entartet (GAREIS 
u.a.,  1974).  In den USA hat sich die allgemeine  Kriminalitat in  einem 
lahrzehnt verdoppelt (GOLDSMITH u. ALLEN,  S. 96), natiirlich nicht nur, 
aber doch wesentlich mitbedingt als Foige falscher Erziehungsmethoden, 
und  die  lugendkriminalitat nimmt  noch  starker  zu.  Am  hachsten  ist 
sie unter den 15 - 20jahrigen (BERELSEN u.  STEINER,  p. 627). leder kennt 
die erschiitternden Beispiele grausamster Verbrechen, welche lugendliche 
begehen,  und  von  denen immer  wieder  berichtet  wird  (LEMPP,  1976). 
Woher kommen diese Erscheinungen? Wir glauben, die moderne Verhal 
tensforschung  gibt  uns  die  Lasung  mancher  Ratsel  an  die  Hand.  Sie 
genieBt steigenden Kredit in der  Welt  der  Laien  und  Wissenschaftler. 
Dieser EinfluB der Verhaltenstheorie ware freilich  undenkbar ohne 
die Vorarbeit,  welche  die  Psychoanalyse  SIGMUND  FREUDS  und  die  in 
ihrem Gefolge  sich entwickelnde Psychosomatik geleistet haben.  Beide 
Richtungen der modernen psychologisch  vorgehenden  Krankheitslehre 
sagen iibereinstimmend, daB schwerste Einwirkungen auf den menschli-
10  -
Kind - Familie - Gesellschaft  II 
chen Korper von seelischen Prozessen ausgehen konnen,  die  unbewuGt 
bleiben, und die oft in fruher Jugend bereits durch tiefsitzende Lebenser 
fahrungen  begonnen haben.  Weder  FREUD  noch seinen Adepten ist  es 
dabei eingefallen,  in eine Zeit  des  Menschenlebens zuruckzugehen,  an 
die man sich grundsatzlich nicht mehr, auch nicht mehr unter Hypnose, 
erinnern kann, die ersten Lebensjahre des Menschen. Fur sie war vielmehr 
die  UnbewuGtheit  der  storungsauslosenden  Erfahrung  eine  Folge  der 
"Verdrangung", eines aktiven Prozesses also, der Vergessen als Methode 
benutzt, unliebsame BewuGtseinsinhalte loszuwerden. Es war daher eine 
vollig  originare  Idee  des  Kinderarztes  RENE  SPITZ,  die  Abartigkeiten 
von  Kindern,  welche in  Heimen, also  nicht  in  Elternhausern,  erzogen 
wurden, auf eben diese Tatsache einer fehlenden Mutter-Kind-Beziehung 
schon wahrend des ersten Lebensjahres zuruckzufUhren. Er spricht, ganz 
im Jargon von MAL THUS und sicher von S. FREUD, von einer "Naturge 
schichte" dieser Beziehungen, deren Abartigkeit gesetzmaGige Abartigkei 
ten des Verhaltens zur Folge hat. 
2. Die neue Einsicht 
Diese Einsicht war neu und bahnbrechend, fUr die Padagogik ebenso 
wie  fUr  die  Kinderheilkunde (3).  Wer  die  Geschichte  der  Theorie  der 
Erziehung auch nur fluchtig an schaut, etwa in dem maGgebenden Buch 
von PAUL BARTH "Die Geschichte der Erziehung", der gewahrt die ganz 
einseitige Lobpreisung des Unterrichtens und also des Lernens von Tatsa 
chen.  Diese  Lobpreisung entspricht ihrerseits wieder dem,  was ich das 
"kognitive Weltbild" des vorigen Jahrhunderts nennen mochte, das offen 
bar  dadurch  gekennzeichnet  ist,  daG  alles  vom  Wissen  und  vom  Be 
wuGtsein (als dem Trager des Wissens) abhangt (4). Ein Kind muG lernen 
zu wissen, wie "man sich benimmt", und dann wird es sich schon gesell 
schaftskonform benehmen. Diese kognitive Grundphilosophie ist die na 
turgemaGe Folge des Denkens in Analogien, d.h. einer Annaherung an 
die seelischen  Probleme des  Kindes  von  seiten  der gelehrten  Manner, 
welche ein  Kind als einen noch unentwickelten, aber letztlich  doch  in 
nuce vorhandenen Gelehrten ansehen. Diese analoge Betrachtung durch 
Gelehrte beherrscht die Anthropologie bis in unsere Tage. 
Das fUr  unser wissenschaftliches Weltbild so  revolutionierend Neue 
an den Gedanken von SPITZ war dies, daG  die Umwelt bereits zu einer 
II
12  H. Schaefer 
Zeit auf das menschliche Lebewesen wirkt, zu der eine Erinnerungsspur 
offensichtlich noch nicht ausgebildet werden kann, wie  die  Selbstbefra 
gung  jedermann deutlich macht.  Von dieser Tatsache leitet sich  nicht 
zuletzt die Bezeichnung der "dummen" Zeit in der kindlichen Entwick 
lung her.  Nun Mtte uns freilich ein  Blick  auf einfache Tatsachen der 
Physiologie  des  Nervensystems  lehren  konnen,  wie  kurzschliissig  eine 
solche  Uberlegung ist.  Es  wird  zunachst,  sicher zu  Unrecht,  von  der 
fehlenden  Erinnerung an die  ersten  Lebensjahre auf ein  mangelhaftes 
BewujJtsein geschlossen, obwohl von der modernen Physiologie die Rolle 
des BewuBtseins gerade darin gesehen wird, beim Neuerwerb zentralner 
voser Leistungen hilfreich zu sein (ECCLES, S. 493). Sobald wir den Ablauf 
einer Handlung erlernt haben und "beherrschen", sind nicht mehr "wir" 
es, mit unserem BewuBtsein, welche die Handlung steuern, sondern der 
autonom gewordene Apparat des Nervensystems, der vollig "unbewuBt" 
arbeitet. Alle erlernten Prozesse im Nervensystem laufen letztlich dann 
ohne BewuBtsein und insofern auch ohne Erinnerung ab (5). 
Fur die hier dargestellte Problematik ist die Erinnerungslosigkeit der 
Entwicklungsschritte deshalb noch besonders wichtig,  weil  sie  bedingt, 
daB die ablaufenden Prozesse fast  vollsUindig unbeeinfluBbar sind.  Sie 
sind "aufgepragt" ahnlich wie Instinkthandlungen (die auch nicht immer 
ererbt sind), und zwar mit derselben Zwanghaftigkeit des Ablaufs, falls 
eine auBere Reizsituation, deren Beantwortung in fruhester Kindheit er 
lernt wurde, erneut eine Reaktion auslost. Jeder "Fehler", der in dieser 
Phase  entsteht,  ist  also  praktisch  unkorrigierbar.  Er  kann  nur  durch 
einen  mit  dem  Verstand  vorgenommenen  Eingriff modifiziert  werden. 
Diese Verhaltnisse machen gerade die ersten drei Lebensjahre so bedeut 
sam, weil in ihnen das Gedachtnis entweder noch gar nicht entwickelt 
ist oder sich doch nicht auf die  Verarbeitung der  Umweltreize bezieht, 
die  zwar  bereits  mit  bemerkenswerter  Logik  erfolgt,  aber  noch  nicht 
einsehbar, also nicht erinnerungsfahig ist (6). 
Ubrigens sind solche Einsichten mindestens in ihrem tiefsten Kern eine schon  recht 
alte Errungenschaft der Menschheit. Schon PLATON (III, 43 I) spricht davon, daB das Men 
schenkind gerade in den ersten drei lahren von "Furcht, Schmerz und Betrubnis" befreit 
sein soJlte,  wobei  es ihm deutlich war (III, 429),  daB  die  Furcht (wir  soJlten treffender 
ubersetzen: die Angst), die in diesen ersten lahren erJitten wird, die QueJle spater Schaden 
des Erwachsenen sein kann! 
Das Problem der Kindererziehung, wie es  heute vor unseren Augen 
steht,  ist  also  etwas,  das  alle  bisherigen  Probleme  der  Padagogik  zu 
uberragen scheint und in der Geschichte der  Kindererziehung offenbar 
etwas vollkommen  Neues  darstellt.  Es  ist  offen bar  so,  wenn  wir  der 
historischen  Analyse  von  ARIES  folgen  durfen,  daB  das  Kind  als  ein 
besonderes Objekt, dessen Eigenart sich yom Erwachsenen abhebt, nicht 
zu allen Zeiten so betrachtet wurde wie heute.  Bis ZUill  17. Jahrhundert 
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