Table Of ContentKernphysik
Eine Einführung
Von Prof. Dr. rer. nat. Theo Mayer-Kuckuk
Universität Bonn
6., durchgesehene Auflage
Mit 149 Figuren
B. G. Teubner Stuttgart 1994
Prof. Dr. rer. nato Theo Mayer-Kuckuk
Studium in Heidelberg, anschließend wissenschaftlicher Mit
arbeiter am Max-Planck-Institut f1ir Kernphysik in Heidel
berg, später am California Institute of Technology in Pasa
dena. Habilitation in Heidelberg. 1964 wissenschaftliches
Mitglied des Max-Planck-Institutes für Kernphysik. Seit 1965
o. Professor an der Universität Bonn (Institut für Strahlen-und
Kernphysik).
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Mayer-Kuckuk, Theo:
Kernphysik: eine Einführung I von Theo Mayer-Kuckuk. - 6.,
durchges. Aufl. - Stuttgart : Teubner, 1994
(Teubner-Studienbücher : Physik)
ISBN 978-3-519-03223-6 ISBN 978-3-322-92763-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-92763-7
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© B. G. Teubner Stuttgart 1992
Satz: Elsner & Behrens GmbH, Oftersheim
Umschlaggestaltung: W. Koch, Sindelfingen
Vorwort
Als im August 1845, so berichtet die Anekdote, Friedrich Wilhelm IV., König von
Preußen, die neuerrichtete Sternwarte der Universität in Bonn besuchte und den
Astronomen mit den Worten begrüßte: "Na, Argelander, was gibt es Neues am
Himmel?", erhielt er zur Antwort: "Kennen Majestät schon das Alte?"
Die kleine Geschichte beleuchtet ein Dilemma, dem zu allen Zeiten Lernende und
Lehrende gleichermaßen gegenüberstehen. Es ist deshalb die Hauptaufgabe eines
einführenden Lehrbuchs, das Alte im Hinblick auf das Neue zu vermitteln. Die
Zielsetzung des vorliegenden Studienbuches ist es daher, eine Übersicht über die
et-ablierten Erscheinungen und Beschreibungskonzepte zu geben und die moderneren
Perspektiven erkennbar werden zu lassen. Das Buch befaßt sich weder mit experimen
tellen noch mit theoretischen Techniken. Der Text beginnt zur Einführung mit der
klassischen Behandlung elastischer Streuung an hand der Rutherford-Streuung.
Streuprobleme werden dann im Kapitel 4 ausführlicher besprochen. Die Ergebnisse
dienen als Grundlage für Kapitel 5 über Kernkräfte und Kapitel 7 über Kernreaktio
nen. In den Kapiteln 2 und 3 werden dazwischen die wichtigsten Grundzustandseigen
schaften der Kerne und die Bedingungen des radioaktiven Zerfalls behandelt. Die
Erscheinungen des ß-Zerfalls werden als Übergang zur Physik der Elementarteilchen
im letzten Kapitel dargestellt. Entsprechend der Zielsetzung des Buches wurden
Gegenstände wie etwa der Durchgang ionisierender Strahlung durch Materie nicht
besprochen. Sie sind zwar in der Kernphysik technisch sehr wichtig, gehören aber der
Problemstellung nach in die Atom-und Festkörperphysik.
In der ergänzten und korrigierten 5. Auflage wurden die bewährte Gliederung und
der Hauptteil des Textes beibehalten. Die Ergänzungen betrafen insbesondere die
Physik der fundamentalen Wechselwirkungen sowie der kollektiven Anregungen in
Kernen.
Zur Entlastung des Textes von Erläuterungen atomphysikalischer oder allgemeiner
quantenphysikalischer Sachverhalte sind Hinweise auf entsprechende Stellen im
Studienbuch "Atomphysik" 1) eingefügt, zitiert mit dem Buchstaben "A". Es bedeutet
also z. B. (A, Gi. (2.25)) den Hinweis auf Gleichung (2.25) in der Atomphysik. Diese
Hinweise sind jedoch nur als Hilfe gedacht und sollen an der Unabhängigkeit des
vorliegenden Textes nichts ändern.
Voraussetzung für das Verständnis des Buches ist eine Kenntnis der Grundlagen
der klassischen Physik und der einfachsten Begriffe der Quantenmechanik. Von der
Schrödinger-Gleichung wird ausführlich Gebrauch gemacht. Ihr Verständnis genügt
für den größten Teil des Buches. Der Leser sollte neben den physikalischen
Grundvorlesungen daher eine Einführungsvorlesung über Quantenmechanik oder
eine Vorlesung über Atomphysik gehört haben. Nicht benötigt wird die Algebra der
I) Mayer-Kuckuk, T.: Atomphysik. 4. Aufl. Stuttgart: Teubner 1994.
4 Vorwort
Drehimpulskopplung, relativistische Quantenmechanik sowie eine Kenntnis der
formalen Streutheorie, auf die das Buch vielmehr vorbereiten will.
An Einzelheiten über die Darstellung ist folgendes zu erwähnen. Symbole und
Bezeichnungen sind nach Möglichkei,t so gewählt, wie es in der Literatur allgemein
üblich ist. Daher war die Benutzung des gleichen Buchstabens für verschiedene
Größen nicht immer zu vermeiden 1). Das Verzeichnis der Symbole soll helfen,
Verwechslungen vorzubeugen. Die Literaturangaben im Text und am Schluß der
einzelnen Abschnitte geben Hinweise auf einige wichtige zusammenfassende Artikel,
auf Einzelarbeiten sowie auf historisch interessante Arbeiten. Vollständigkeit wurde
dabei nirgendwo angestrebt. Hinweise auf Lehrbücher und Monographien, die das
gesamte Gebiet betreffen, sind dem Literaturverzeichnis vorangestellt. Am Schluß des
Buches befindet sich ein Anhang mit Einheiten und Umrechnungsfaktoren, der bei der
Rechnung mit konkreten Beispielen helfen soll. Die Formeln sind im allgemeinen als
Größengleichungen geschrieben. In einigen Fällen ist eine Zahlenwertgleichung für
praktische Rechnungen angefügt (z. B. in (4.98)). Hierfür sind dann spezielle
Einheiten angegeben.
Beim Neusatz des Buches, der für die 5. Auflage notwendig geworden war, hatten sich
eine größere Zahl von Fehlern eingeschlichen, die der Korrektur entgangen waren. Ich
danke an dieser Stelle allen Lesern, die inzwischen durch Hinweise zur Verbesserung
des Textes beigetragen haben, insbesondere aber den Herren Ralf Schlüter und Hans
Ekkehard Pleßer sowie Thomas Jestädt für ihre sehr ausführlichen Fehlerverzeich
nisse.
Der Teubner Verlag hat in bereits bewährter Zusammenarbeit keine Mühe gescheut,
allen Wünschen Rechnung zu tragen.
Bonn, im Frühjahr 1994 T. Mayer-Kuckuk
') Es ist beispielsweise in der Kernphysik üblich, den Buchstaben T für folgende Größen zu gebrauchen:
Isospin-Quantenzahl, Transmissions-Koeffizient, kinetische Energie, Übergangsamplitude bei direkten
Reaktionen, Kerntemperatur, Operator für Bewegungsumkehr.
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Was ist Gegenstand der Kernphysik ............................. 9
1.2 Die Entdeckung des Atomkerns ................................. 14
1.3 Einfache Streuprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2 Eigenschaften stabiler Kerne
2.1 Kernradien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.2 Kernmassen, Kernbausteine und Bindungsenergien. . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.3 Der Kern als Fermi-Gas, Zustandsdichte im Phasenraum ........... 39
2.4 Tröpfchenmodell, Grenzen der Stabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2.5 Spin und Parität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.6 Magnetische und elektrische Momente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3 Zerfall instabiler Kerne
3.1 Zerfallsgesetz .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.2 Natürliche Radioaktivität, Datierungsmethoden ................... 72
3.3 Alpha-Zerfall, Transmission durch Potentialbarrieren . . . . . . . . . . . . . . . 75
3.4 Kernspaltung ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3.5 Elektromagnetische Übergänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.6 Innere Konversion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.7 Kernresonanzabsorption (Mößbauer-Effekt) ...................... 99
3.8 Kernspektroskopie an instabilen Kernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105
4 Elastische Streuung
4.1 Problemstellung............................................... 109
4.2 Stationäre Behandlung der elastischen Streuung ................... 110
4.3 Partialwellen-Zerlegung ........................................ 112
4.4 Ein einfaches Beispiel .......................................... 121
4.5 Streulänge, effektive Reichweite ................................. 125
4.6 Die Bornsche Näherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 131
4.7 Elastische Streuung schwerer Projektile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137
5 Kernkräfte und starke Wechselwirkung
5.1 Eigenschaften des Deuterons. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146
5.2 Nukleon-Nukleon-Streuung, Spinabhängigkeit der Kernkräfte ....... 151
5.3 Ladungsunabhängigkeit der Kernkräfte, Isospinformalismus . . . . . . . .. 154
6 Inhalt
5.4 Der Isospin von Kernen, Allgemeines über Erhaltungsgrößen . . . . . . .. 160
5.5 Struktur der Kernkräfte ........................................ 169
5.6 Quarks und starke Wechselwirkung .............................. 174
6 Kernmodelle
6.1 Einteilchenzustände im mittleren Kernpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185
6.2 Einfache Vorhersagen des Schalenmodells. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 193
6.3 Zustände im deformierten Potential ............................ " 198
6.4 Kopplung mehrerer Nukleonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200
6.5 Restwechselwirkungen, Paarungskräfte und Quasiteilchen ........... 205
6.6 Kollektive Anregungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 212
6.7 Weiteres zu kollektiven Anregungen: Coulomb-Anregung,
Hochspin-Zustände, Riesenresonanzen ........................... 222
7 Kernreaktionen
7.1 Übersicht über die Reaktionsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 232
7.2 Energieverhältnisse, Kinematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 235
7.3 Phasenraumbetrachtungen, Reziprozitätssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 240
7.4 Resonanzen .................................................. 244
7.5 Compound-Kern-Reaktionen ................................... 252
7.6 Das optische Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264
7.7 Direkte Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 269
7.8 Kernreaktionen mit schweren Ionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 276
7.9 Energiegewinnung durch Kernreaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 282
8 p-Zerfall und schwache Wechselwirkung
8.1 Natur des Zerfallsprozesses, Neutrinoexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . .. 290
8.2 Energieverhältnisse und Zerfallstypen ............................ 294
8.3 Form des Spektrums, Übergangswahrscheinlichkeiten .............. 297
8.4 Zur theoretischen Beschreibung des Zerfalls prozesses .............. , 303
8.5 Kernmatrixelemente, Kopplungskonstanten ....................... 309
8.6 Helizitätsexperimente .......................................... 312
8.7 Die elektro schwache Wechselwirkung, das Standard-Modell ........ , 322
Anhang
Einheiten, Konstanten, Umrechnungsfaktoren und Formeln
für kernphysikalische Rechnungen .................................... 334
Literaturhinweise auf Lehrbücher und Standardwerke .................... 338
Literaturverzeichnis ................................................. 339
Sachverzeichnis ..................................................... 349
Verzeichnis der wichtigsten Symbole
Bei mehrfach gebrauchten Symbolen ist in Klammern das Kapitel oder der Abschnitt
angegeben, in dem das Symbol in der angeführten Bedeutung auftritt. Griechische
Symbole am Schluß des Verzeichnisses.
Hinweis. Verweise auf Gleichungen mit vorgestelltem "A", z. B. (A, GI. (2.25)),
beziehen sich auf das Studienbuch "Atomphysik" (siehe Vorwort).
A Nukleonenzahl; Aktivität (3.1) S Separations energie (2); resultieren-
a Streulänge (4.5, 5.2); bei Halbwert- der Spindrehimpuls; spektroskopi-
zeit: Jahr scher Faktor (7.7); Kern-Entropie
B Bindungsenergie; magnet. Induk- (7.5); Seltsamkeit (Strangeness)
tion; reduziertes Matrixelement für (5.4, 5.6)
elektromagnetische Übergänge s Spinquantenzahl
b Stoßparameter T Isospin-Quantenzahl; Transmis-
e Lichtgeschwindigkeit sionskoeffizient (3 und 7); Operator
E Energie der kinetischen Energie
e Elementarladung tl/2 Halbwertzeit
F Fermi-Funktion (8) U Anregungsenergie des Compound-
f Streuamplitude kerns (7.5); optisches Potential
I logarithmische Ableitung (7.4-7.6) (7.6 und 7.7)
g Kopplungskonstante; g-Faktor u atomare Masseneinheit
H Hamilton-Funktion u radiale Wellenfunktion
Yf Helizität V Potential
h Plancksche Konstante; Ii = h/2 7t V Teilchengeschwindigkeit
I Kerndrehimpuls Z Kernladungszahl
J Drehimpuls der Elektronenhülle
j Teilchen-Stromdichte; Drehimpuls- a Konversionskoeffizient (3.6)
quantenzahl j = 1+ s ß v/e; Deformationsparameter (6.6)
r
K Rotationsquantenzahl (6.6) Energiebreite
k Wellenzahl = 1/): Y Dirac-Matrizen (8)
L resultierender Bahndrehimpuls t::,. Laplace-Operator
I Bahndrehimpuls J Paarungsenergie; Deformations-
M meist: Matrixelement parameter (2.6, 6.3, 6.6);
m Masse; magnetische Quantenzahl Kronecker-Symbol; Streuphasen-
n Sommerfeld-Parameter (4.7, 7.8) verschiebung (4.5)
N Neutronenzahl e Gesamtenergie eines Elektrons in
p Wahrscheinlichkeitsdichte; Paritäts- der Einheit moe2 (8)
operator 11 Streu wellen-Amplitude; Elektro-
p Impuls nenimpuls in moe (8)
Q Quadrupolmoment {} Winkel im Labor-System
R Kernradius; Ro = Potentialradius e Winkel im Schwerpunkt-System;
Konstante in GI. (2.1) Kernträgheitsmoment (6.6, 7.5)
'0
8 Verzeichnis der wichtigsten Symbole
.l. Wellenlänge, ~ = .l./2n; (J Wirkungsquerschnitt; Spin-Operator
Zerfallskonstante r mittlere Lebensdauer; Integrations-
jl magnetisches Moment volumen; Isospin-Operator
n Paritäts quantenzahl '11 Wellenfunktion
p Ladungsdichte (2.1); Q Raumwinkel; Operator
Niveaudichte (7.5) Kreisfrequenz
(j)
1 Einleitung
1.1 Was ist Gegenstand der Kernphysik?
Philosophie und Naturforschung haben sich seit frühesten Zeiten mit der Frage
beschäftigt, was Materie sei. Vielleicht wird diese Frage nie in endgültiger Form
beantwortet werden können. Jedoch haben sich für die Physiker im Laufe der Zeit
immer tiefere Einsichten in die Struktur der Materie eröffnet, wobei sich freilich
auch jeweils neue Problemstellungen ergeben haben. In den letzten 20 Jahren wurden
im Bereich der Teilchenphysik ganz neue Strukturprinzipien der Materie aufgedeckt,
die im "Standard-Modell" der Teilchen und Wechselwirkungen ihren Ausdruck
gefunden haben (Abschn. 8.7). Danach sind Quarks (Abschn. 5.6) und Leptonen die
fundamentalen Bausteine der Materie und die Wechselwirkungen zwischen ihnen
werden durch Bosonen als Feldquanten vermittelt. Das Modell erlaubt es, die
Vielzahl der Erscheinungen, die bei Teilchen beobachtet werden, auf wenige einfache
Strukturen zurückzuführen und es zeichnet sich durch Schönheit der Symmetrieprin
zipien und eine ungewöhnliche Vorhersagekraft aus. Allerdings enthält es die
Möglichkeit, daß Quarks aus prinzipiellen Gründen niemals als freie Teilchen
beobachtet werden können. Das ist eine erkenntnistheoretisch interessante Situa
tion, die vielleicht bedeutet, daß man nun in der Tat keine noch elementaren
Bausteine einführen kann.
Von diesen kleinsten zu größeren Strukturen fortschreitend, läßt sich die Materie in
verschiedenen Organisationsebenen beschreiben. Die nächsthöhere Organisations
form bilden die Atomkerne, in denen sich Protonen und Neutronen durch die starke
Wechselwirkung, die stärkste aller bekannten Naturkräfte, zu Mehrteilchensystemen
binden. Aber auch die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung sind im
Atomkern wirksam. Kerne sind ihrerseits Bausteine der Atome, die sich wiederum zu
Molekülen und Festkörpern vereinigen, durch deren Eigenschaften unsere Umwelt
unmittelbar bestimmt wird. Hier dominieren die wohlbekannten elektromagnetischen
Kräfte. Jede dieser Organisationsformen der Materie hat ihre eigenen Gesetze und
eine steigende Vielfalt an Erscheinungsformen, je größer die einzelnen Strukturen
werden, bis hin zu biologischen Objekten.
Hieraus bestimmt sich der Standort der Kernphysik: Kernphysik ist die Physik
der kondensierten stark wechselwirkenden Materie. Das Faszinierende am
Studium der Atomkerne besteht darin, daß die Eigenschaften dieses Vielteilchensy
stems von den leichtesten Kernen mit wenigen Nukleonen bis zu den schwersten
Kernen lückenlos untersucht werden können. Das Studium von Vielteilchensystemen
ist ein zentrales Thema in der modernen Physik. Die Kernphysik spielt hierbei
insofern eine besondere Rolle, als sie mit Objekten zu tun hat, die einerseits genügend
komplex sind, um eine Vielfalt kollektiver Phänomene und Symmetrien zu zeigen, die
aber andererseits hinreichend elementar sind, um scharfe Quantenzustände zu
entwickeln, die mit größter Präzision vermessen werden können.
10 1 Einleitung
Die elementaren Kräfte, die zur Wechselwirkung zwischen den Kernbausteinen
führen, sind von komplizierter Natur und bis heute nur näherungsweise bekannt.
Auch ihre Aufklärung ist Gegenstand der Kernphysik. Die Feinheiten der Wechsel
wirkungen spielen jedoch im allgemeinen keine große Rolle, wenn es um das
Verständnis der Kerneigenschaften unter normalen Bedingungen geht. Die Kräfte, die
zwischen zwei einzelnen Nukleonen wirken, sind durch Streuexperimente empirisch
immerhin recht gut bekannt. Man könnte nun daran denken, alle Kerneigenschaften
direkt auf die Kernkräfte zurückzuführen. Das ist jedoch wahrscheinlich weder
möglich, noch läßt sich die Aufgabe der Kernphysik auf diese Frage reduzieren. Im
Rahmen des Vieltei1chenproblems treten völlig neue Ordnungsprinzipien auf, die als
solche verstanden werden müssen. Ein Vergleich mit der Molekülphysik verdeutlicht
das. Dort herrscht nur das Coulomb-Potential. Schon bei einfachen Molekülen stellen
sich unter seinem Einfluß ganz überraschende Symmetrien ein, z. B. die Ringstruktur
des Benzols. Benzolringe sind aber ihrerseits Bausteine sehr viel komplizierterer
geordneter Strukturen. Der Versuch, sie auf das Coulomb-Gesetz zurückzuführen, ist
wenig sinnvoll. Bei aller Phantasie ließe sich die Vielfalt der chemischen Verbindungen
nicht aus der Coulomb-Wechselwirkung vorhersagen. Noch unsinniger wäre das
Unterfangen, umgekehrt aus dem chemischen Verhalten der Moleküle auf die
Feinheiten des elektrostatischen Potentials schließen zu wollen.
Ähnlich ist die Situation bei Kernen. Auch dort bilden sich näherungsweise
Symmetrien des Vielteilchensystems aus, die charakterisiert sind durch approximative
Quantenzahlen. Hier stellt sich die Frage nach den Ordnungsprinzipien der Materie
auf der Organisationsebene des Viel-Nukleonen-Systems und den daraus resultieren
den Gesetzmäßigkeiten. Im Gegensatz zur Molekülphysik liegt ein komplexeres
Problem vor, da die Kernkraft sehr viel komplizierter als die Coulomb-Kraft ist.
Gerade deshalb stellt sich im Vergleich zur Molekül- und Festkörperphysik die
aufregende Frage: Welches sind die prinzipiellen Unterschiede in den Ordnungs-und
Symmetrieprinzipien von Vielteilchensystemen mit so verschiedener Wechselwir
kung? Lassen sich diese verstehen? In dieser Beziehung steht die Kernphysik der
Molekül-und Festkörperphysik viel näher als der Teilchenphysik.
Werfen wir nun anhand von Fig.l einen genaueren Blick auf die Bausteine der
Materie und die wirksamen Kräfte. Die kleinsten bekannten Bausteine, die starke
Wechselwirkung zeigen, sind die Quarks. Die Kräfte zwischen ihnen werden durch
Austausch von masselosen Bosonen, den Gluonen, vermittelt. Die Theorie dieser
Wechselwirkung heißt Quantenchromodynamik (QCD). Zur Bildung eines Nukleons
(Proton oder Neutron) müssen sich drei Quarks binden. Hierbei werden die starken
Kräfte zwischen den Quarks weitgehend abgesättigt, so daß zur Bindung der
Nukleonen untereinander zum Atomkern nur eine Art von Restwechselwirkung
übrigbleibt. Sie läßt sich in guter Näherung durch den Austausch von Mesonen
beschreiben, wobei die Hauptanziehung zwischen zwei Nukleonen vom doppelten
1t-Austausch herrührt. Es bewirkt eine Art starker van der Waals-Kräfte. Diese Kräfte
sind bestimmend für die Kernstruktur unter normalen Bedingungen. Im Rahmen
wesentlich größerer Distanzen wiederholt sich ein ähnliches Schema bei der elektro
magnetischen Wechselwirkung, die zur Bindung von Kernen und Elektronen zu
Atomen führt. Die Wechselwirkung kommt durch Austausch von Photonen zustande
und wird durch die Quantenelektrodynamik (QED) beschrieben. Der Haupteffekt ist
das Coulombpotential, das seinerseits ausreicht, sowohl die wichtigsten Erscheinun-