Table Of ContentJugendzeit - Time Out?
Heinz Reinders
Elke Wild (Hrsg.)
Jugendzeit - Time Out?
Zur Ausgestaltung des Jugendalters
als Moratorium
Leske + B udrich, Opladen 2003
Gedruckt auf säurefreiem und aIterungsbeständigem Papier.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für die Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich
ISBN 978-3-8100-3987-3 ISBN 978-3-322-97603-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-97603-1
© 2003 Leske + Budrich, Opladen
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Inhalt
Heinz Reinders & Elke Wild
Einführung ....................................................................................................... 9
Teil I: Das Moratoriums-Konzept.. ............................................................ 13
Heinz Reinders & Elke Wild
Adoleszenz als Transition und Moratorium. Plädoyer fUr eine Integration
gegenwarts- und zukunfts orientierter Konzeptionen von Jugend .................. 15
Jürgen Zinnecker
Jugend als Moratorium. Essay zur Geschichte und Bedeutung
eines Forschungskonzepts ............................................................................. 37
Teil 11: Jugendkulturelle Erscheinungsformen ......................................... 65
Dagmar Hoffmann
Die Nutzung neuer Medien. Jugendkulturelle Ausdrucksform
oder Entwicklungsbewältigung im Moratorium? .......................................... 67
Monika Buhl & Hans Peter Kuhn
Jugendspezifische Formen politischen und sozialen Engagements ............... 85
Teil 111: Die Welt der Peers ....................................................................... 111
J. Gowert Masche
Geschwisterbeziehungen und ihre Bedeutung für die Eltem-
Kind-Beziehung während einer Statustransition im Jugendalter ................. 113
Peter Noack & Stefan Haubold
Peereinflüsse auf Jugendliche in Abhängigkeit von familien-
strukturellen Übergängen ............................................................................. 137
5
Teil IV: Umgang mit Normen der Erwachsenenwelt ............................. 159
Kurt Kreppner
Zeit für die Verhandlung von Werten und Normen in der Familie.
Wie sich die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern beim
Übergang zur Jugend verändert ................................................................... 161
Marten Clausen
Schulischer Anforderungsdruck .................................................................. 187
Ludwig Stecher
Jugend als Bildungsmoratorium - die Sicht der Jugendlichen .................... 201
Markus P. Neuenschwander
Bildungserwartungen und Identitätsstatus. Längsschnittergebnisse
zur Abstimmung von schulischen Erwartungen zwischen
Jugendlichen und Lehrpersonen .................................................................. 219
Teil V: Jugend als Motor gesellschaftlichen Wandels ............................ 235
Heinz Reinders & Manfred Hafer
Wertewandel, schulische Lemrnotivation und das duale
Jugendmoratorium ....................................................................................... 237
Heike M. Buhl
Personale Bedingungen reziproker Eltern-Kind-Beziehungen .................... 257
Judith Gerber & Elke Wild
Retroaktive Sozialisation in Abhängigkeit von sozialem Wandel
und Peerorientierung .................................................................................... 277
6
Teil VI: Gestörtes Zeiterleben .................................................................. 291
Fabienne Becker-Stoll
Moratorium als Niemandsland. Anorexie und Bulimie im
Jugendalter als Ausdruck eines Verharrens in der Auszeit? ........................ 293
Christiane Papastefanou
Das Phänomen der Spätauszieher aus familienpsychologischer
Perspektive ................................................................................................... 311
Hinweise zu den Autoren .......................................................................... 329
Ergänzend zu diesem Band finden Sie weitere Informationen rund um das Thema
"Jugend als Moratorium" im Internet unter http://timeout.jugendforschung.de.
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Einführung
Ziel dieses Bandes ist es, die spezifischen Chancen und Probleme auszuloten,
die sich mit einer Konzeption von Jugend als "Time Out" mit soziokulturel
lem Eigengewicht einerseits und als Übergang vom Kindes- zum Erwachse
nenalter andererseits verbinden.
Auch wenn mit dem Transitionsansatz und der Idee des Moratoriums
keine klar voneinander abgrenzbaren Konzeptionen oder Forschungszugänge
angesprochen sind, werden in bei den Perspektiven doch unterschiedliche
Facetten von Jugend beleuchtet und dieselben Charakteristika von Jugend
jeweils anders konnotiert. Die in diesem Band versammelten Beiträge setzen
an diesen Schnittstellen an und relativieren zum Teil zentrale Prämissen des
Transitionsansatzes, liefern aber auch neue Erkenntnisse, die ein stärker auf
den Moratoriumsgedanken fokussierender Forschungszugang eröffnet.
Die Idee zu diesem Band geht zurück auf den Eindruck, dass die aktuelle
Jugendforschung zwar überwiegend am Transitionsansatz orientiert ist und
somit vorrangig auf die Identifizierung von Bedingungen und Folgen einer
erfolgreichen Bearbeitung von jugendtypischen Entwicklungsaufgaben ab
zielt. Empirische Befunde der letzten Jahrzehnte haben aus unserer Sicht aber
nicht nur zur Elaboration dieses Ansatzes beigetragen, sondern auch einigen
Überlegungen Popularität verschafft, die sich mit der Idee des Moratoriums
verbinden. Hierzu gehört die Abkehr von der Idee des Generationenkonflikts,
die Betonung der Rolle der Peers und die Anerkennung wechselseitiger Be
einflussungen von Jugendlichen und erwachsenen Interaktionspartnern.
Wenngleich also eine gewisse Annäherung der Position von Vertretern
des Transitions- und Moratoriumskonzepts konstatiert werden kann, richten
Jugendforscher doch je nachdem, welchen Stellenwert sie den jugendtypi
schen Erfahrungen und Verhaltensweisen für den Lebenslauf zuschreiben,
ihre Bemühungen eher auf die Erklärung und Vorhersage "gelungener" oder
"gestörter" Entwicklungsverläufe oder auf eine Beschreibung des momenta
nen Erlebens, Befindens und Handeins Heranwachsender. Die hierin zum
Ausdruck kommende Favorisierung einer Sicht von Jugend als Vorberei
tungszeit gegenüber Jugend als "entpflichtete Auszeit" verläuft unseres Er
achtens nach entlang der Disziplingrenzen: während in psychologischen
Arbeiten eher der Transitionsgedanke betont wird und präskriptive Arbeiten
dominieren, stammen Forscher, die mit eher deskriptivem Anspruch Jugend
als eine mit sozio-kulturellem Eigengewicht ausgestattete Phase analysieren,
zumeist aus der Erziehungswissenschaft und anderen kultur- und geisteswis
senschaftlichen Disziplinen. So war es uns ein besonderes Anliegen, aus ge-
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wiesene Jugendforscher aus der Psychologie und Pädagogik zusammenzu
bringen, um in einem gemeinsamen Werk die Idee des Moratoriums auf
zugreifen und Fragen der Ausgestaltung des Jugendalters nachzugehen.
Da eine allgemein akzeptierte Konzeption des "Moratoriums" nicht exis
tiert, orientiert sich die Gliederung dieses Bandes an zentralen Aspekten der
Idee des Moratoriums (vgl. Reinders & Wild, in diesem Band). Hierzu zählt
zunächst der expressive Charakter der Jugendzeit, der sich an der Ausbildung
jugendspezijischer Ausdrucksformen (insbesondere im Bereich der Freizeit
gestaltung und der Mediennutzung sowie Formen politischer Partizipation)
festmacht (vgl. die Beiträge von Hoffmann und Buhl & Kuhn). Darüber hin
aus ist das entfaltete Autonomiebedürfnis der jungen Generation zu nennen,
welches in einer starken Orientierung an der Welt der Peers (vgl. die Beiträge
von Masche sowie Noack & Haubold) zum Ausdruck kommt und einem
Infragestellen gesellschaftlicher Traditionen und Werte, die über Sozialisati
onsinstanzen an Jugendliche herangetragen werden. Hieraus resultiert, dass
Jugendliche nicht nur als sozialisiert gelten können, sondern selbst Einfluss
auf die Normen der Erwachsenengeneration nehmen. Neben der Verteidi
gung der Territorien des Selbst in Interaktionen mit den Eltern (vgl. Krepp
ner, in diesem Band) sind hier insbesondere die Auseinandersetzungen mit
Anforderungen des Bildungssystems zu nennen, dessen zentrale Rolle auch
im Begriff des "Bildungsmoratoriums" festgehalten ist und das diesem Buch
entsprechend ausfuhrlieh behandelt wird (vgl. die Beiträge von Stecher, Neu
enschwander und Clausen). Dass sich jugendliches Handeln nicht in einer
(defensiven) Abwehrhaltung oder einer globalen Abkehr von der Welt der
Erwachsenen erschöpft sondern vielmehr offensive Formen des Umgangs mit
gesellschaftlichen Anforderungen einschließt und Jugend auf diese Weise
zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung werden kann, zeigt sich schließ
lich im Phänomen retroaktiver Sozialisation, d.h. den Versuchen Jugendli
cher, erwachsene Bezugspersonen von den eigenen Überzeugungen und
Ansichten zu überzeugen (vgl. die Beiträge von Buhl sowie Gerber & Wild).
Schließlich werden im Kapitel zum Gestörten Zeit-Erleben Folgen in den
Blick genommen, die Resultat eines Verweilens im Moratorium sein können.
Zusammengenommen illustrieren die Beiträge in diesem Buch die in
dem Moratoriumskonzept enthaltene Vorstellung, wonach die Funktion des
Jugendalters nicht auf den Erwerb von Einstellungen und Kompetenzen be
schränkt ist, die fur eine angemessene Erfullung gesellschaftlicher Rollen und
Erwartungen benötigt werden. Vielmehr wird die Phase der Entpflichtung
von Verantwortlichkeiten Erwachsener mehrheitlich auch zur Etablierung
jugendlicher Subkulturen, zur Exploration neuer Handlungsoptionen und zur
Erprobung alternativer Lebensziele, Beziehungsmuster und Formen gesell
schaftlicher Partizipation genutzt, wobei retroaktive Sozialisationsprozesse
zum sozialen Wandel beitragen (können).
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Dass diese globalen Feststellungen mit Blick aufSubgruppen Jugendlicher zu
relativieren sind, wird von Vertreter des Moratoriums- wie des Transitionsan
satzes von jeher betont, wobei insbesondere geschlechts- und schichtspezifi
scher Betrachtungsweisen eingefordert werden (z.B. Larson et al. , 2002).
Letztlich ungelöst bleibt jedoch in beiden Ansätzen das Problem der normati
ven Bewertung von jugendlichen Einstellungs- und Verhaltensweisen - auch
wenn die einen aktuelle Werte ihrer Gesellschaft(sschicht) zum Sozialisati
onsziel erheben und die anderen sich als Anwalt der Sicht der Jugendlichen
verstehen.
Wie Jürgen Zinnecker in seinem Essay eindrucksvoll anhand der eigenen
Forschungsbiographie herausarbeitet, ist der Zugriff, den Forscher in einer
Epoche auf das Jugendalter wählen, geprägt vom jeweils vorherrschenden
Zeitgeist und dem normativen Vorverständnis der Forscher. Das Operieren
mit offenen oder versteckten Wertigkeiten ist dabei keineswegs nur in der
Jugendforschung sondern in vielen (Teil-)Disziplinen anzutreffen, die ihrem
Selbstverständnis nach anwendungsorientiert sind und gesamtgesellschaftlich
gesehen eine Orientierungsfunktion übernehmen (sollen). Vor allem Jugend
forscher geraten jedoch im Zuge der Modernisierung in ein Spannungsfeld
konfligierender Erwartungen. Der zunehmenden Entpädagogisierung päda
gogischer Bezugsinstitutionen und der wachsenden Verbreitung wissen
schaftstheoretischer Auffassungen, die normative Askese oder zumindest
Objektivität als ein wissenschaftliches Gütemerkmal erachten, steht die kon
stante Nachfrage nach effektiven Strategien der "Vergesellschaftung", die
parteiische Rolle von Jugendforschern bei der wissenschaftlichen Legitimie
rung von Jugendmoratorien und das auf die Identifikation von Formen und
Bedingungen gestörter Entwicklung gerichtete Erkenntnisinteresse entgegen.
Die Beiträge von Becker-Stoll sowie Papastefanou in diesem Band weisen in
diesem Zusammenhang Lösungsversuche, die "gelungene" Sozialisations
prozesse allein an dem Befinden Jugendlicher oder an der Unterstützung
jugendlicher Autonomie festmachen, als unzulänglich aus.
Auch wenn dieses Buch keinen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma
weist, illustrieren die einzelnen Beiträge doch, wie durch eine stärkere Be
rücksichtigung der "Innensicht" Jugendlicher ein facettenreicheres Bild von
Jugend entsteht. Die Ausführungen sind deshalb nicht allein für Leser auf
schlussreich, die sich forschend mit Fragen der Entwicklung und Förderung
Jugendlicher befassen, sondern sollten für alle Erwachsenen interessant sein,
die sich aus privaten und beruflichen Gründen mit Jugendlichen befassen.
In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern eine anregende Lektüre und
bedanken uns bei den Autoren für ihre Mitwirkung und bei Sabrina Bouw
man für ihre Arbeit als Lektorin.
Bielefeld & Mannheim im Oktober 2003
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Teil I
Das
Moratoriums
konzept
Heinz Reinders & Elke Wild
Adoleszenz als Transition und
Moratorium
Jürgen Zinnecker
Jugend als Moratorium