Table Of ContentARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG
DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
GEISTESWISSENSCHAFTEN
144. SITZUNG
AM 27. NOVEMBER 1968
IN DUSSELDORF
ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG
DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
GEISTESWISSENSCHAFTEN
HEFT 164
ARNO ESCH
James Joyce und sein Ulysses
HERAUSGEGEBEN
IM AUFTRAGE DES MINISTERPRÄSIDENTEN HEINZ KÜHN
VON STAATSSEKRETÄR PROFESSOR Dr. h. c. Dr. E. h. LEO BRANDT
ARNO ESCH
James Joyce und sein Ulysses
SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH
ISBN 978-3-663-01056-2 ISBN 978-3-663-02969-4 (eBook)
DOI I 0.1007/978-3-663-02969-4
© 1970 by Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Köln und Opladen
Inhalt
Arno Esch, Bonn
James Joyce und sein Vlysses 7
Diskussionsbeiträge
Professor Dr. phil. Walter Franz Schirmer; Professor Dr. phil. Arno
Esch; Professor Dr. phil. habil. Heinrich Lausberg; Professor Dr. phil.
Benno von Wiese und Kaiserswaldau; Staatssekretär Professor Dr.
h. c., Dr.-Ing. E. h. Leo Brandt; Professor Dr. phil., Dr. theol. h. c.
]osef Pieper; Professor Dr. phil. Vlrich Broich; Professor Dr. phil.
W alther Heissig; Professor Dr. phil. Theodor Kraus; Professor Dr.
jur. Ulrich Scheuner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Am 2. Februar 1922, seinem 40. Geburtstag, wurde Joyce in Paris das er
ste Exemplar seines Ulysses überreicht, an dem er mehr als sieben Jahre
gearbeitet hatte. Teile des Romans-und zwar fast genau die Hälfte-waren
bereits in den Jahren 1918-1920 in der amerikanischen Zeitschrift The Little
Review erschienen und hatten bei den Avantgardisten begeisterte Zu
stimmung, bei den meisten Lesern jedoch entrüstete moralische Ablehnung
gefunden. In den Vereinigten Staaten blieb das Buch bis 1933, in Groß
britannien sogar bis 1936 verboten.
Mittlerweile überblicken wir ein halbes Jahrhundert der Ulysses-Kritik.
Die Joyce-Bibliographie verzeichnet über 2000 Arbeiten; es gibt Joyce-Ver
einigungen, Joyce-Zeitschriften und Joyce-Symposien. Aber noch immer
gehen die Urteile über den Ulysses weit auseinander. Erscheint der Roman
manchen Interpreten als ein Werk der Verzweiflung und des Nihilismus, so
haben andere eine durchaus positive Lebensphilosophie darin gefunden und
den Ulysses gepriesen als die Odyssee eines modernen Jedermann, als ein gro
ßes komisches und ironisches Epos oder auch als ein "Riesenscherzbuch".
Und wieder andere haben den Roman verstanden als grimmigen Kommen
tar auf die irischen Verhältnisse, als den Angriff eines Atheisten auf die
christliche Religion, als die Sehnsucht eines Apostaten nach der katholischen
Kirche, als die Suche nach dem Vater bzw. Sohn, als Freudsche Parabel des
Schuldkomplexes gegenüber der Mutter. Der Deutungen des rätselhaften
Buches ist kein Ende. Mit dem folgenden Beitrag soll versucht werden, Wesen
und Rang des Romans zu erhellen, indem wir in exemplarischer Interpre
tation auf Thematik und Struktur des Ulysses eingehen, danach uns der Er
zähltechnik und Sprache zuwenden, um mit einer literarhistorischen Ein
ordnung und kritischen Würdigung zu schließen. Vorausgeschickt seien
einige Bemerkungen zur Stellung des Romans im Joyceschen Gesamtwerk
und ein knapper Inhaltsüberblick.
8 Arno Esch
I.
So unverkennbar die Joycesche Kunst im Naturalismus wurzelt, sie greift
von Anfang an über die exakte, vorurteilslose Darstellung einer tranehe de
vie hinaus. Schon in den scharfkonturierten Kurzgeschichten der Dubliners
(1914) überhöht Joyce die naturalistische Darstellung durch eine bewußt
verwendete Leitmotivtechnik, die in den Alltagsbegebenheiten eine um
fassendere Thematik aufleuchten läßt. Anders als der junge Y eats und die
Vertreter der keltischen Renaissance flüchtete sich Joyce nicht in die irische
Feen- und Sagenwelt, in Theosophie und Okkultismus, er entdeckte Gültiges
und Wesentliches im schäbigen und trivialen Dubliner Alltag. Dublin wird
zu einem theatrum mundi, die Folge der Erzählungen zu einer moral history
Irlands, die zugleich die Dürre und Frustration des gesamten modernen
Lebens spiegelt.
Den Ausbruch aus diesem sterilen Dasein gestaltet der weithin autobio
graphisches Material verwertende Bildungsroman A Portrait of the Artist as
a Young Man (1916). Das Werk schildert engagiert und zugleich ironisch
distanziert die geistige Entwicklung des jungen Künstlers Stephen Dedalus,
der gegen die jesuitische Erziehung wie die provinzielle Enge Irlands aufbe
gehrt und mit Familie, Nation und Kirche bricht, um dem Ruf des Lebens
und der Kunst zu folgen:
I will not serve that in which I no longer believe, whether it call itself my home, my
fatherland, or my church: and I will try to express myself in some mode of life or art as
freely as I can and as wholly as I can, using for my defence the only arms I allow myself
to use - silence, exile and cunning.
Und er scheidet von Irland mit dem überschwenglichen Gefühl:
Welcome, 0 life! I go to encounter for the millionth time the reality of experience and
to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race.
Aber wenn Joyce fortan unstet zwischen Triest, Zürich und Paris hin- und
herwanderte, so blieb Dublin doch zeitlebens seine Welt. Dublin und seine
nähere Umgebung ist auch der Schauplatz des Ulysses, den er zwischen 1914
und 1921 in entsagungsvoller Arbeit "im Feuerofen seiner Seele"
schmiedete.
Der Plan zum Ulysses reicht bis in das Jahr 1906 zurück. Damals schrieb
Joyce von Rom aus an seinen Bruder Stanislaus \ er trage sich mit dem
Gedanken einer Kurzgeschichte, die einen gewissen Mr. Hunter, der wie sein
Nachfolger Bloom jüdischer Herkunft war und dessen Frau man Treulosig-
1 Briefe vom 30. 9. 1906 und 6. 2. 1907 (The Letters of ]ames ]oyce, 3 Bde., Bd I ed. S.
Gilbert, London, 1957; Bd. II und III ed. R. Ellmann, London, 1966), II, 168 und 209.
James Joyce und sein Ulysses 9
keit nachsagte, bei einem Gang durch Dublin schildern sollte. In den folgen
den Jahren verband sich die Gestalt dieses Mr. Hunter mit einer Fülle von
geschichtlichem, literarischem und legendärem Material, und das zunächst
geplante kurze Porträt weitete sich zu einem umfassenden Epos. Alltag und
Mythos gingen eine Fusion ein.
Ulysses ist der monumentale Versuch, das Erleben dreier Dubliner, ihre
Eindrücke und Erinnerungen, ihre Außerungen und Gedanken, ihre Angste,
Hoffnungen und Enttäuschungen, ihre Hemmungen und Verdrängungen,
an einem bestimmten Tage, dem 16. Juni 1904, von 8 Uhr morgens bis gegen
3 Uhr nachts, mit umfassender Vollständigkeit bis in die feinsten Verästelun
gen festzuhalten. Die drei Hauptfiguren sind der Inseratenagent Leopold
Bloom, seine Frau Molly und der angehende Dichter Stephen Dedalus.
Bloom, Sohn einer Irin und eines ungarischen Juden, protestantisch getauft,
aber anläßlich seiner Heirat zum Katholizismus konvertiert, fühlt sich in
der christlichen Religion ebenso wie in der nationalen Gemeinschaft als ein
Fremder und sympathisiert eher mit den Toleranzideen der Freimaurer. Er
ist ein Mann in mittleren Jahren, gutmütig, taktvoll, hilfsbereit und tierlie
bend. Seine Interessen gelten vorwiegend praktischen Dingen des Lebens.
Als Kontrastfigur zu ihm dient der aus dem Portrait of the Artist as a Young
Man bekannte Stephen Dedalus. Seitdem der Tod der Mutter den jungen
Medizinstudenten aus Paris nach Dublin zurückrief, bedrücken ihn Schuld
gefühle und Gewissensqualen, weil er es ablehnte, am Sterbebett der Mutter
zu beten. Er hat seinen Dichtertraum nicht verwirklichen können, zweifelt
an sich selbst und gibt sich als ein arroganter, zynischer Intellektueller, der
gegen Familie, Gesellschaft und Kirche rebelliert. Blooms Frau Molly, prall,
drall und erdnah, die Tochter eines in Gibraltar stationierten irischen Majors
und einer spanischen Jüdin, ergreift das Leben mit ungehemmter Sinnlichkeit.
Sie ist, wie Joyce in einem Brief an seinen Freund Frank Budgen, Goethe
parodierend, bemerkt, "das Fleisch, das stets bejaht" 2• Sie betrügt an diesem
Tage Bloom mit ihrem Konzertagenten "Blazes" Boylan. Die Blooms haben
eine bereits flügge 15jährige, in einem Photogeschäft tätige Tochter Milly;
das Söhnchen Rudy ist elf Tage nach der Geburt gestorben.
Der Titel des Romans weist auf den Zusammenhang mit der Odyssee hin.
In der Tat entwarf Joyce im Verlauf der Arbeit an seinem Werk ein detail
liertes Schema, das die einzelnen Kapitel mit bestimmten Homerischen Epi
soden verband und jedem von ihnen außerdem ein besonderes Organ des
menschlichen Körpers, eine Wissenschaft oder Kunst, eine Farbe, ein Symbol
und eine literarische Technik zuordnete. Mit Hilfe dieses einem kleinen Kreis
2 Brief vom 16. 8. 1921 (Letters I, 170).
10 Arno Esch
von Eingeweihten bereits vor der Veröffentlichung des Ulysses bekannten
Schemas überspannte Joyce auch die schon geschriebenen Partien seines Ro
mans noch nachträglich mit einem feinen Netz von Anspielungen und An
deutungen 3•
Joyce beabsichtigte, mit seinem Vlysses den alten Mythos in den Geist
unserer Zeit umzusetzen, und sub specie temporis nostri wurde Odysseus zu
dem unheroischen Inseratenagenten Leopold Bloom, Telemach zu dem von
Usurpatoren sich bedrängt fühlenden Stephen, die treue Penelope zu der den
Freiern willfährigen Molly. Wie die Odyssee gliedert sich Vlysses in drei
Teile: Die ersten drei Episoden bilden die Telemachie, die folgenden zwölf
schildern die Irrfahrten von Odysseus-Bloom durch Dublin, und der eben
falls drei Episoden umfassende Schlußteil behandelt in starker Verkürzung
den Homerischen Nostos 4•
In den Eröffnungsepisoden 5, in denen wir den modernen Telemach beim
Frühstück im Martello Tower ("Telemachus"), beim Geschichts- und Lite
raturunterricht in einer Privatschule ("Nestor") und schließlich ("Proteus")
bei seinen Meditationen am Strand, auf dem Weg zur Zeitungsredaktion,
sehen, erscheint Stephen als ein seiner selbst unsicherer, ironischer, skeptischer,
mit der Welt zerfallener Intellektueller. Seine Familie, die ihm nicht helfen
kann, hat er verlassen, und von seinem Freund Buck Mulligan, mit dem er
den Küstenwachtturm bewohnt, fühlt er sich ausgenutzt und verdrängt. An
gewidert überläßt er den "Usurpatoren" Mulligan und dem Engländer
Haines, der zum Studium des Irischen nach Dublin gekommen ist, den
Schlüssel zu dem von ihm gemieteten Turm. Er ist entschlossen, erneut in die
Heimatlosigkeit auszuziehen, nicht mehr wie früher mit idealistischem
Schwung, sondern um mit tieferer Einsicht dem Leben zu begegnen und sich
selbst zu finden. Auch in der Schulszene ist Stephen fast ausschließlich mit
sich selbst beschäftigt. Sowohl bei seinem Unterricht wie dem anschließenden
Gespräch mit dem Schulleiter Deasy bewegt ihn die Frage, ob menschliches
Handeln und Leiden überhaupt einen Sinn haben, ob am Ende nicht die
ganze Menschheitsgeschichte ein einziger Alptraum ist, von dem es zu er
wachen gilt. Dieses bohrende Nachdenken über den Sinn seines persönlichen
Schicksals, seiner augenblicklichen Lage, seines Dichtertums findet seine Fort
setzung in den Reflexionen am Strand, in denen er in harnletartigem Grübeln
zum Selbstverständnis zu gelangen sucht.
3 A. W. Litz, The Art of ]ames ]oyce. Metbad and Design in Ulysses and Finnegans Wake
(London, 1961), S. 1 ff.
4 Die Aufgliederung in 18 Einheiten erinnert an Fieldings Tom ]ones, der mit derselben
Anzahl von Büchern die Mitte hält zwischen Odyssee und Kneis.
Die folgende Inhaltsangabe (bis Abschnitt II) mögen diejenigen Leser überschlagen, die
mit dem Roman vertraut sind.
James Joyce und sein Ulysses 11
Synchron mit den Stephen-Szenen verlaufen die folgenden drei Episoden,
die Bloom einführen. Bloom bereitet für sich und seine Frau das Frühstück,
besorgt sich Schweinenierehen beim Metzger, findet bei seiner Rückkehr die
Post vor und bringt seiner Frau einen Brief ihres Impresarios Boylan ans
Bett, der am Nachmittag das Programm für die geplante Konzerttournee
überbringen wird. Bloom bedrückt der bevorstehende Ehebruch Mollys
ebenso wie sein eigenes Versagen gegenüber seiner Frau, mit der er seit dem
Tode des Söhnchens vor elf Jahren keinen ehelichen Verkehr mehr gehabt
hat ("Kalypso"). Nach dem Frühstück verläßt Bloom sein Haus in schwar
zer Kleidung; er beabsichtigt, um 11 Uhr an dem Begräbnis eines Bekannten,
Paddy Dignam, teilzunehmen. Auf seinem Weg nimmt er in einem Postamt
einen Brief der Stenotypistin Martha Clifford in Empfang, mit der er heim
lich unter dem Namen Henry Flower korrespondiert- Zeichen seiner Flucht
vor den häuslichen Schwierigkeiten. Er wohnt dem Schluß einer Messe bei,
besorgt noch ein Stück Seife und begibt sich zu einer Badeanstalt ("Lotos
esser"). Danach fährt er mit drei anderen Teilnehmern an der Beerdigung
in einer Trauerkutsche, von der aus er unterwegs sowohl Stephen wie Boylan
sieht, zum Glasnevin-Friedhof ("Hades").
In der folgenden Episode ("Kolus") begegnen Bloom und Stephen fast
einander, da sie in derselben Zeitungsredaktion zu tun haben. Anschließend
führt Blooms Weg zur Nationalbibliothek, wo er in einem Provinzblatt nach
einer Vorlage für eine Annonce suchen will. Er entschließt sich, vorher noch
einen Imbiß einzunehmen, weicht jedoch, da ihn vor den kannibalischen Eß
gewohnheiten der ihr Mittagsmahl schlingenden Dubliner ekelt, zu Davy
Byrne's aus und begnügt sich mit einem Gorgonzola-Sandwich und einem
Glas Burgunder. Danach entdeckt er wieder Boylan und flieht vor ihm in
das neben der Bibliothek gelegene Nationalmuseum ("Lästrygonen"). In
der Bibliothek trifft er erneut auf Stephen, der anderen Literaten gerade
seine Shakespearetheorie entwickelt, mit der er sich über sein Verhältnis zur
Kunst klarzuwerden sucht. Nach Stephens Ansicht kann ein Dichter nur
seine eigenen inneren und äußeren Erfahrungen gestalten. Alle Shakespeare
schen Charaktere sind daher ein Stück von Shakespeare selbst, der sich im
Kunstwerk von seinem Erleben befreit. Den Schlüssel zum Verständnis des
Harnlet findet Stephen in der Untreue von Shakespeares Frau, seiner femme
fatale, die ihn während seiner Abwesenheit von Stratford mit seinem eigenen
Bruder betrog. Shakespeare verkörpert sich sowohl in dem älteren Hamlet,
der mit der Stimme des Geistes den Sohn zur Rache auffordert, wie auch in
dem jüngeren Hamlet, der gleichsam das Porträt Shakespeares als eines
jungen Mannes darstellt, so daß auf der Ebene der Imagination der Sohn
zugleich sein eigener Vater ist ("Scylla und Charybdis").