Table Of Contentdes Staatlichen Instituts
für Musikforschung
Preußischer Kulturbesitz
2000
JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG
Jahrbuch
des Staatlichen Instituts für Musikforschung
Preußischer Kulturbesitz
2000
Herausgegeben von
Günther Wagner
Verlag J.B. Metzler
Stuttgart . Weimar
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Staatliches Institut für Musikforschung <Berlin>:
Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung
Preußischer Kulturbesitz. - Stuttgart; Weimar: Metzler.
Erscheint jährlich. - Früher im Verl. Merseburger, Kassel. -
ISSN 0572-6239
Aufnahme nach 1993
ISSN 0572-6239
ISBN 978-3-476-01793-2
ISBN 978-3-476-02720-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-02720-7
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© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2000
INHALT
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
REINHOLD BRINKMANN
Ein "letzter Riese in der Musik"
Gedanken zu Max Reger im 20. Jahrhundert 9
CHRISTOPH W OLFF
Wie klang "die ehemalige Arth von Music"?
Aufführungsprobleme bei Bach .............................. 36
ROBERT HILL
Spohr in Berlin - Musikgeschichte als Geschichte der Aufführungs-
praxis ................................................. 46
GÜNTHER WAGNER
Historismus und Aufführungspraxis
Einige Bemerkungen zur frühen Geschichte 57
PETER W OLLNY
Aspekte der Leipziger Kirchenmusikpflege unter Johann Sebastian Bach
und seinen Nachfolgern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
KONSTANTIN RESTLE
Orchestertradition versus historische Aufführungspraxis
Anmerkungen zu Johann Sebastian Bachs Instrumentarium 92
CLAUDIA THEIS
Johann Hermann Scheins Gelegenheitskompositionen
Zu Entstehungs- und Besetzungsfragen des "großen geistlichen
Konzerts" bei Schein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 121
NICOLE RESTLE
Die Bearbeitungen dreier Instrumentalbegleiter geistlicher Konzerte
von Johann Hermann Schein in der Sammlung Bohn .............. 136
NORS S. JOSEPHSON
Formale Symmetrie und freizyklische Gesamtstruktur in einigen 150
Vokalkompositionen Johann Sebastian Bachs .................. .
CHRISTOPH HENZEL
Die Schatulle Friedrichs 11. von Preußen und die Hofmusik (Teil 2) 175
MATTHIAS SCHMIDT
Experimente der Geschichte oder was Cage von Schönberg
über Cage lernte ......................................... 210
JULIA WECHSLER
"Die drei W"
Zu einem Opern pI an Alban Bergs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 234
AN NETTE OTTERSTEDT
Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule
für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
OLGA ADELMANN
Die Entdeckung der Alemannischen Schule 277
HANS REINERS
Barockbögen ............................................ 289
VORWORT
Das Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kul
turbesitz 2000 wird mit einem Aufsatz von Reinhold Brinkmann eröffnet, in
dem, ausgehend von einem Reger-Porträt Max Beckmanns und einem unvoll
ständigen Dies lrae-Satz, Person und Werk des Komponisten mit den Ereig
nissen des Ersten Weltkriegs in Beziehung gebracht werden. Es folgen sechs
Beiträge zu Fragen der Historischen Aufführungspraxis, die bei den 27. Bach
Tagen Berlin, im Juli 1999, als Vorträge im Musikinstrumenten-Museum ge
halten wurden. Christoph Wolff spürt der Frage nach, wie die "ehemalige Arth
von Music" im Falle Bachs geklungen haben mag. Am Beispiel von Louis
Spohr zeigt Robert Hill den Wandel freier Tempogestaltung im 19. Jahrhun
dert. Die frühe Geschichte der Historischen Aufführungspraxis, mit den Re
konstruktionsversuchen der Musik Bachs und Händels im 19. Jahrhundert,
skizziert Günther Wagner. Peter Woll ny beleuchtet das relativ kurze Kantorat
Gottlob Harrers als Nachfolger Bachs in Leipzig und exemplifiziert daran,
welche Konsequenzen dies für die Kirchenmusikpflege und für die zur Auf
führung gebrachte Musik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter
satztechnischen und stilistischen Gesichtspunkten hatte. Der Frage nach dem
Wandel des Instrumentariums bei der Aufführung Bachscher und Händelscher
Werke spürt Konstantin Restle nach, indem er erhalten gebliebene Musikin
strumente der Zeit als sichere Belege in seine Überlegungen mit einbezieht.
Claudia Theis beschäftigt sich mit dem Bach-Vorgänger im Thomaskantorat,
Johann Hermann Schein, wobei seine bürgerlichen Auftraggeber und Beset
zungsfragen im Mittelpunkt stehen. Thematisch und inhaltlich eng damit ver
knüpft ist der Beitrag von Nicole Restle, die sich mit den geistlichen Konzer
ten der Sammlung Bohn auseinandersetzt.
Im Rahmen einer umfassenden Werkanalyse beschreibt Nors S. Josephson
formale Symmetriebildung und freizyklische Gesamtstruktur im vokalen und
instrumentalen Schaffen Johann Sebastian Bachs. Christoph Henzel schließt
die Untersuchungen zur Schatulle Friedrichs 11. von Preußen und der Musik
am Hofe in Berlin und Potsdam, die im letzten Band des Jahrbuchs begonnen
wurden, ab und ermöglicht damit einen detaillierteren Einblick in das dortige
Musikleben.
Neben dem Beitrag von Reinhold Brinkmann beziehen sich zwei weitere
Aufsätze auf den zweiten Themenschwerpunkt des Jahrbuchs, der dem 20. Jahr
hundert, insbesondere den Komponisten der Wiener Schule vorbehalten ist.
Matthias Schmidt legt das komplexe Lehrer-Schüler-Verhältnis Schönberg
Cage dar, und Julia Wechsler weist auf ein interessantes, bisher wenig beach
tetes Opern projekt Alban Bergs hin.
Die Beiträge von Annette Otterstedt, Olga Adelmann und Hans Reiners
sind der Niederschlag einer Ausstellung zum Thema "Alemannische Schule"
im Musikinstrumenten-Museum. Annette Otterstedt plädiert für eine angemes
sene Einschätzung der Bedeutung dieser im Alemannischen Raum gebauten
Streichinstrumente, Olga Adelmann (t) weist auf Details der über einen län
geren Zeitraum sich erstreckenden Entdeckung hin, und Hans Reiners betont
die Wichtigkeit des Bogens für das Spiel des Streichinstrumentes und geht auf
bautechnische Details ein.
Berlin, im Juli 2000 Günther Wagner
EIN "LETZTER RIESE IN DER MUSIK"
Gedanken zu Max Reger im 20. Jahrhundert!
REINHOLD BRINKMANN
Christoph Wolff zum Sechzigsten
1917, ein Jahr nach Max Regers Tod, malte der 33jährige Max Beckmann ein
Porträt des Komponisten. Das Ölbild, heute im Besitz des Kunsthauses Zü
rich, zeigt dieselbe, oft bis zur Brutalität gehende Schärfe der Charakterzeich
nung wie Beckmanns bekannte Selbstporträts (Abbildung).2 Ein massiger,
unproportionierter Körper füllt den Bildrahmen, sprengt ihn fast; darauf sitzt
verquer ein eckiger Kopf, der dicke, weiche Hals quillt aus dem zu engen
Kragen heraus, die wie mit Wasser gekämmten Haare stehen über der großen
Stirn vom Kopf ab. Die Stirnfalten, die wulstigen Lippen, die verkniffenen
Mundwinkel und vor allem die am Beobachter vorbei sehenden, fixierenden
Augen hinter den Brillengläsern zeigen einen Künstler, der um seine eigene
zutiefst problematische Existenz weiß. Der vornehme dunkle Anzug mit Wes
te und goldner Uhrkette, der "gute Anzug", scheint diesem ungeschliffenen
Menschen zu eng, unbequem, unpassend, auch die auf den Schenkeln auflie
genden Hände, vor allem die zu weit aus dem Ärmel hervorragende Linke,
sprechen dies aus. Porträtiert ist ein Künstler, der sich in die ihn umgebende
soziale Sphäre nicht einpassen kann, ein Musiker, dem seine großbürgerliche
Welt unbehaglich, unangemessen erscheint - in seiner Isolation eine fast tragi
sche Figur.
I Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser im September 1998 im
Rahmen der Internationalen Bachakademie in Stuttgart gehalten hat.
2 Abbildung in: Max Reger. Am Wendepunkt zur Moderne, Ein Bildband mit Doku
menten aus den Beständen des Max-Reger-Instituts, hrsg. von S. Popp und S. Shigihara,
Bonn 1987 (= Schriften des Arbeitskreises selbständiger Kulturinstitute, Bd. 7), S. 153, mit
knappem Kommentar S. 151 f.
9
Reinhold Brinkmann
Beckmann malte dieses Porträt Regers zu einer Zeit, da ihn selbst apoka
lyptische Visionen bedrängten, er hatte gerade eine riesige Darstellung des
Jüngsten Gerichts unvollendet gelassen und wandte sich unter dem Eindruck
der Kriegsgreuel des Ersten Weltkriegs dem graphischen Zyklus Die Hölle zu,
der diesen Krieg visuell reflektiert. Ein anderes, einzelnes Blatt, die Lithogra
phie Die Granate von 1914, zeigt eine Straßenszene vor der Detonation einer
Granate - ein bis zum Bersten gefüllter Bildraum im Moment vor der Kata
strophe des Auseinanderbrechens, der totalen Vernichtung. Wir wissen nicht,
warum und unter welchen Umständen Beckmann den verstorbenen Kompo
nisten Reger porträtiert hat.3 Aber etwas von diesen dunklen Visionen einer
katastrophischen Zeit ist hintergründig auch aus dem Reger-Porträt ablesbar -
der Künstler, Maler wie Musiker, ist konfrontiert mit einer tragischen Welt.
Gibt es irgend etwas in Regers Werken dieser Zeit, das eine Disposition zu
einer tragischen WeItsicht auch bei ihm vermuten läßt? Zunächst scheint eher
das Gegenteil der Fall zu sein, zumindestens bei Regers veröffentlichten Wer
ken dieser Jahre, und nur diese könnte Beckmann gekannt haben, wenn es
nicht eine bislang unbekannt gebliebene Begegnung und einen Gedankenaus
tausch zwischen den bei den Künstlern gegeben hat, wie knapp dieser auch
immer gewesen sein mag. Zu Beginn des Krieges artikuliert Reger das Ge
genteil von apokalyptischen Antikriegsvisionen. Sein Hurrapatriotismus beim
Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist erschreckend primitiv, und zwar in bei
dem: Werk und Brief. Reger komponiert zum Kriegsbeginn 1914 eine Vater
ländische Ouvertüre, die er "dem deutschen Heere" widmet und "so populär
als nur möglich"4 gestalten wollte, mit der siegesgewiß-primitiven Überstei
gerung der drei kombinierten patriotischen Lieder "Deutschland über alles",
"Die Wacht am Rhein" und "Ich hab mich ergeben" durch das in Trompeten
und Posaunen eines Fernorchesters auftrumpfende "Nun danket alle Gott".
Für ein Zirkular an alle deutschen Dirigenten propagiert Reger gegenüber
dem Verleger Simrock, daß die Ouvertüre "gerade jetzt für unsere Zeit gut
paßt und [ ... ] müßte gerade die Combination dieser vier Melodien in größtem
Fortissimo extra erwähnt werden".5 Geradezu abschreckend ist der aggressive
3 Vermutlich war das Bild ein Auftragswerk für den Hamburger Sammler Henry B.
Simms, der Reger verehrte und mit dem Beckmann nachweislich Gespräche über Reger
geführt hat. Vergleiche Max Beckmann. Katalog der Gemälde, bearbeitet von E. Göpel und
B. Göpel, Bd. I: Katalog und Dokumentation, Bern 1976, S. 132 f. (Nr. 191). Beckmann
hat sich für die musikalische Moderne seiner Zeit interessiert und gewiß Regersche Musik
gekannt.
4 Reger an Oberbau rat Fritz, 13. 10. 1914, zitiert nach H. Wilske, Max Reger - Zur
Rezeption in seiner Zeit, Wiesbaden 1995, S. 293.
5 Brief vom 8. 10. 1914, zitiert nach ebenda.
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