Table Of ContentSigrid Nolda
Interaktion in pädagogischen Institutionen
Qualitative Sozialforschung
Herausgegeben von
Ralf Bohnsack
Christian Lüders
J Reichertz
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Band 8
Sigrid Nolda
Interaktion in
pädagogischen Institutionen
Leske + Budrich, Opladen 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für die Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.
ISBN 978-3-8100-2599-9 ISBN 978-3-663-01165-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-01165-1
© 2000 Leske + Budrich, Opladen
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Satz: Leske + Budrich, Opladen
Inhalt
1. Einführung: Vom Wissen zum Forschen................................... 7
2. Interaktion und Institution: Begriff und Forschung ................ 9
2.1 Interaktion ............................................. ........................................ 9
Begriffsklärung.............................................................................. 9
Interaktionsforschung ............................. .... .............................. ..... 9
Konversationsanalyse .............. ...... ............................. ................... 12
Untersuchungen zur gesprochenen Sprache.................................. 14
Sprechakttheorie............................................................................ 15
Musteranalyse................................................................................ 16
Objektive Hermeneutik ...... ........................................................... 17
Diskursanalyse............................................................................... 19
2.2. Institution .............. ........................... ............................................. 21
Begriffsklärung.............................................................................. 21
"Kommunikation in Institutionen" ................................................ 22
Interaktion in pädagogischen Institutionen ................................... 25
Erwachsenenbildung ........................................... ........ ............ ...... 27
Interaktionsanalysen in der Erwachsenenbildung ......................... 28
3. Die Analyse von Interaktionen in
pädagogischen Institutionen....................................................... 31
3.1 Von der Fragestellung zur Datenautbereitung............................... 31
Vorüberlegungen und -annahmen ........................ ......................... 31
Eingrenzung der Fragestellung und
Vergleichsmöglichkeiten ............................................................... 33
Feldzugang ...... ........ .......... ........................... ................ .... ............. 34
Datenerhebung ... ............................. .......................................... .... 35
Datenauswahl und -sortierung ....................................................... 37
Datenautbereitung durch Transkription ........ ........................ ........ 39
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3.2 Analyse eines Einzelsegments....................................................... 44
3.3. Analyse einer Segmentfolge.......................................................... 53
3.4 Kontrast- und Korpusanalyse ........................................................ 61
3.5 Vergleich mit externen Materialien............................................... 66
3.6 Das Institutionelle und das Pädagogische ..................................... 74
4. Schluß: Wozu pädagogische Interaktionsforschung? .............. 81
Literatur ... ............. ................. .......................... .................................. ... 85
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1. Einführung: Vom Wissen zum Forschen
Über ,Interaktion in pädagogischen Institutionen' besteht kein Mangel an
Vorstellungen und Meinungen: Wie schulischer Unterricht abläuft, gehört
zum Alltagswissen der Gesellschaftsmitglieder, jeweils individuell gefärbt
durch eigene Erfahrung bzw. Erinnerung. Dieses auf Schule, Lehre, Universi
tät und andere Bildungseinrichtungen bezogene Wissen wird durch Erzählun
gen, Anekdoten und Witze, aber auch durch literarische Erinnerungen, Roma
ne, Erzählungen, Filme kommunikativ verfügt gemacht, aber nur selten pro
blematisiert.
Umso mehr sind es die Praktiker, die, wissen', wie Unterricht verläuft -
aufgrund eigener Erfahrung, aufgrund der Berichte von Kollegen, aber auch
aufgrund von Texten, die sie in Aus- und/oder Fortbildung gelesen haben
oder deren Inhalte ihnen bekannt gemacht wurden. Unterricht selbst zu ge
stalten heißt eben nicht, Unterricht wahrzunehmen: Der Handlungsdruck und
das eigene Involviert-Sein blendet Wahrnehmungen aus und kanalisiert sie.
Das gleiche trifft auf den sogenannten Praktiker-Diskurs zu, der der Selbst
verständigung und Stabilisierung einer Berufsgruppe dient. Die pädagogische
Literatur wiederum gibt in der Regel eher Vorgaben vor, stellt jeweils ideale
Formen von Unterricht dar, die mit der tagtäglich erlebten Realität oft kaum
etwas zu tun haben.
Erst die empirische Erziehungswissenschaft stellt - scheinbar naiv - die
Frage, was denn jenseits von Lehrplänen und idealisierten Stundenbildern
wirklich in organisierten Lehr-lLernsituationen vor sich geht, welche Muster
dort wirksam sind, wie die Beteiligten ihre Rollen als Lehrende und Lernen
de konkret ausfüllen. Mit der ,realistischen Wende' in der Erziehungswissen
schaft hat die Frage nach dem realen Geschehen die Vorliebe für ideale Vor
gaben in den Hintergrund gedrängt, und mit der Enttäuschung politischer
Emanzipationshoffnungen ist der Blick für die alltäglichen Schwierigkeiten
und Paradoxien geschärft worden. Es interessiert nicht, wie Unterricht sein
soll, sondern wie er ist bzw. wie er sich dem Beobachter darstellt.
Diese Frage steht auch im Zentrum der vorliegenden Veröffentlichung,
die Interessierten einen Zugang zur qualitativen Analyse von Interaktionen in
pädagogischen Institutionen vermitteln soll. Das scheint notwendig, weil
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Veröffentlichungen zur Interaktion in pädagogischen Institutionen das Pro
dukt der letzten Etappe eines Forschungsprozesses sind, die die übrigen Etap
pen kaum mehr erkennen läßt. In den seltensten Fällen bildet die Veröffentli
chung den Forschungsprozeß selbst ab, geschweige denn die Probleme, die
in den einzelnen Phasen zu bewältigen sind. Ein Forschungsbericht enthält
Ergebnisse, ein auf empirischer Forschung beruhender Beitrag zur Theorie
präsentiert verallgemeinerte und an bestehende Theorien anschlußfähige In
terpretationen. Beide Formen und ihre Vermischungen sind durch Kürzungen
und Glättungen gekennzeichnet, die die Lesbarkeit steigern. Was als konse
quentes Ergebnis von Forschungsaktivitäten erscheint, unterscheidet sich
häufig beträchtlich von dem ursprünglich Geplanten oder auch von Zwi
schenberichten. Das muß nicht auf - vermeidbare - Schwächen bei der Kon
zeptionierung zurückzuführen sein, sondern kann ebenso gut an unvorher
sehbaren Schwierigkeiten beim Feldzugang oder bei der Datenerhebung lie
gen. Es kann aber auch Zeichen einer zunehmenden Vertrautheit mit dem
Forschungsgegenstand und einer notwendigen Flexibilität sein, die das zu
nächst Vermutete beim Kontakt mit dem Feld und der Durchdringung von
Daten als falsch oder irrelevant erkennt.
Untersuchungsberichte verzeichnen in der Regel solche Abweichungen
vom ursprünglichen Plan nicht und geben kein Bild von den Anforderungen
an Zeit, Ausstattung und Kompetenzen, die die einzelnen Phasen solcher
Untersuchungen und Analysen stellen. Deshalb sollen im folgenden nach ei
ner Beschreibung der Begriffe Interaktion und Institution und der mit ihnen
verbundenen Forschungsmethoden bzw. -arbeiten die wichtigsten Aktivitäten
und damit eventuell verbundene Probleme bei der Planung und Durchfüh
rung von pädagogischen Interaktionsanalysen dargestellt und anhand eines
Beispiels der Weg von der Analyse eines Anfangssegments bis zur Analyse
eines Korpus gezeigt und abschließend auf praktische Anwendungsmöglich
keiten hingewiesen werden.
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2. Interaktion und Institution: Begriff und Forschung
2.1 Interaktion
Begriffskläruug
In der Literatur wird nicht immer klar zwischen Interaktion und Kommunika
tion unterschieden, häufig werden die Begriffe synonym verwendet, manch
mal wird Kommunikation auf sprachliche Vorgänge eingrenzt. Bei De
finitionen von ,Interaktion' steht die Wechselseitigkeit der Beeinflussung im
Vordergrund. So findet sich etwa eine Bestimmung von Interaktion als "wech
selseitige Beeinflussung des Handeins mindestens zweier Personen" (Sarges/
Fricke 1980, S. 488). Die Definition von Interaktion als "die elementare Ein
heit des sozialen Geschehens, in der Menschen ihr Verhalten aneinander ori
entieren" (Endruweitffrommersdorff 1989, S. 310) ist vom sogenannten
Symbolischen Interaktionismus, einer Richtung der amerikanischen Soziolo
gie, beeinflußt. Diese hebt auf die wechselseitige Orientierung sozialer Hand
lungen ab und betont ihren symbolvermittelten Charakter. Soziale Beziehun
gen stellen sich demnach als aushandlungsfähig und an gemeinsame Aner
kennung gebunden dar (vgl. Schütze 1987).
Es ist zu empfehlen, Interaktion in Abhebung von Kommunikation durch
die gleichzeitige Anwesenheit der Betroffenen zu unterscheiden, die - nach
dem Modell des symbolischen Interaktionismus - auf der Grundlage eines
Sockels von geteilten Bedeutungen und Verhaltensmustern jeweils die Re
aktionen des anderen vorausgreifend berücksichtigen bzw. sich mit dem an
deren über die Bedeutung der Situation verständigen können. Kommunikati
on wäre demnach ein Oberbegriff von Interaktion, die ihrerseits durch die
Kopräsenz der Beteiligten gekennzeichnet ist. Werden im folgenden beide
Begriffe verwendet, dann nicht als Synonyme, sondern im Bewußtsein ihrer
Relation als Ober-bzw. Unterbegriff.
Interaktionsforschung
Das Problem der Erforschung von Interaktionen besteht in ihrer Flüchtigkeit.
Im Gegensatz zur schriftlichen Kommunikation müssen bei der direkten
mündlichen Interaktion die Beteiligten anwesend sein und unmittelbar rea
gieren. Beschreibungen solcher Interaktionen können nur nachträglich ange-
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fertigt werden - von den Beteiligten oder von Beobachtern. Die Beteiligten
neigen dazu, ihre persönliche Sicht der Dinge zu übermitteln - was deutlich
wird, wenn man die Darstellungen mehrerer an einer Interaktion Beteiligter
miteinander vergleicht. Nicht-involvierte Beobachter sind auf ihr Gedächtnis
angewiesen. Hier sind natürliche Beschränkungen gegeben, die eine wort
wörtliche Wiedergabe von Gesprochenem nur in den seltenen Fällen von
kurzen Äußerungen ermögliche: Intonationen und Pausen sind kaum zuver
lässig erinnerbar. Beobachtungsprotokolle, wie sie in der ethnographischen
Feldforschung üblich sind, können nur grob Handlungsabläufe wiedergeben
und sind zudem von der Sicht und der Beurteilung der Protokollanten ge
prägt. Die Schwierigkeit der ethnographischen Forschung, nämlich in die
Alltagswelt der untersuchten Kultur einzudringen und gleichzeitig aus der
Distanz zu analysieren, schlägt sich in den von ihr produzierten Protokollen
nieder. Das ist offensichtlich bei der Erforschung räumlich entfernter ,frem
der' Kulturen, dies trifft aber auch auf ,unbekannte' Bereiche der eigenen
Kultur zu, wie an folgendem Beispiel, der Beschreibung einer Schulpausen
situation, deutlich wird:
"Gerade beginnt eine Klopperei zwischen Malte und Jasmin. Malte versucht, Jas
mins Gürteltasche zu ergattern. Plötzlich ist ein Jagen, Fangen, Festhalten und Klop
pen, auch Judith und Uwe jagen sich jetzt. Es gilt: die Geschlechter gegeneinander.
Jasmin wirft sich samt ihrer Tasche auf die Polster in einer Ecke des Raumes. Malte
hinterher, er hält Jasmin umklammert. Judith und Uwe schmeißen sich auch noch
dazu. Knisternde Stimmung. Dann sind wieder alle auf den Beinen, kurzfristig hat
Malte mal Jasmins Tasche. Jetzt mischt Tanja sich mit den Worten unters Volk:
,Was macht ihr? Ich bin dabei. Eine muß Malte festhalten'. Was sie dann selbst be
sorgt. Meinem Eindruck nach hat Tanjas Intervention eine Solidarisierung der Mäd
chen untereinander bewirkt, vorher gab es die paarweisen Kabbeleien zwischen
Malte und Jasmin und Uwe und Judith. Alle haben großen Spaß. Die Jagerei führt
jetzt aus dem Raum hinaus" (BreidensteinlKelie 1998, S. 41).
Hier ist einerseits der Versuch zu beobachten, sich der Sprache der Unter
suchten anzunähern ("Klopperei", "mischt sich mit den Worten unters Volk")
und die Dynamik der Situation sprachlich abzubilden - z.B. durch prädikats
lose Sätze ("Plötzlich ist ein Jagen, Fangen, Festhalten und Kloppen" oder
"Knisternde Stimmung"). Andererseits wird die Situation gedeutet, und zwar
implizit ("Es gilt: die Geschlechter gegeneinander") und explizit ("Meinem
Eindruck nach hat Tanjas Intervention eine Solidarisierung der Mädchen un
tereinander bewirkt"). Auch eine Aussage wie "Alle haben großen Spaß" be
ruht auf der subjektiven Wahrnehmung der Protokollantin. Eine derartige
Protokollierung hat den Vorteil, die Bewegungen und Aktionen mehrerer
Beteiligter zu erfassen und lesbar zu präsentieren. Sie hat den Nachteil der
mangelnden Präzision und der fehlenden Überprüfbarkeit.
Die volle wörtliche Form eines gehörten Satzes ist nur für ganz kurze Zeit erinner
bar, da die weitere Speicherung in Form einer ,semantischen Struktur' geschieht
(vgl. Hörmann 1978, S. 461).
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