Table Of ContentVERSTANDLICHE
WISSENSCHAFT
ZWEIUNDNEUNZIGSTER BAND
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· HEIDELBERG· NEW YORK
INSEKTEN AUF REISEN
E. T. NIELSEN
AUS DEM DANIS CHEN OBERSETZT
VON UDDA LUNDQVIST
OBERARBEITET VON WERNER JACOBS
1.-6. T AUSEND
MIT 9 ABBILDUNGEN
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· HEIDELBERG' NEW YORK
Herausgeber der Naturwissenschaftlichen Abteilung:
Professor Dr. Karl v. Frisch, Miinchen
ERIK TETENS NIELSEN
Dr. phil.
Molslaboratoriet, Femmoller (Danemark)
ISBN 978-3-642-87105-4 ISBN 978-3-642-87104-7 (eBook)
DOl 10.1007/978-3-642-87104-7
Aile Rechte vorbehalten. Ohne ausdriickliche Genehmigung
des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile
daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie)
oder auf andere Art Zu vervielfiiltigen.
Titel der diinischen Originalausgabe:
Insekter pa Rejse
Illustriert von Stdt Peronard
First Impression 1964. Rhodos-International
Science Publishers, Kopenhagen
© der deutschen Ausgabe: Springer-Verlag Berlin-Heidelberg
1967
Library of Congress Catalog Card Number 67-26234
Titel-Nr.7225
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . 1
Der Schmetterling Ascia 3
Der Monarch . . . . . 29
Die Bogong-Eule ... 37
Die Wanderheuschrecke 41
Die Blattliiuse . 55
Die Sunwanze . 61
Die Marienkafer 67
Die Libellen 71
Die Miicken . . 75
Nachwort ... 81
Sachverzeichnis 91
Einleitung
Ade nun, fur Liebenl Geschieden muB sein.
Ade nun, fur Berge, du viiterlich Hausl
Es treibt in die Feme mich miichtig hinaus.
Ju stinus Kerner
In diesem Buch soIl von den Wanderungen der Insekten die
Rede sein. Damit sind zwei Hauptfragen gestellt; einerseits: welche
Insekten haben iiberhaupt den Trieb zum Wandern? andererseits:
kann das Bediirfnis zum mehr oder weniger ausgedehnten Orts
wechsel aus ihrer Lebensweise verstanden werden?
Ohne Zweifel ist der "Wandertrieb" ein etwas verschwommenet
Begriff; diese Verschwommenheit wird auch dadurch nicht besser,
daB man ihn gerne und haufig bei den ganz ahnlichen Verhaltens
weisen anderer Tiere (z. B. mancher Fische, Vogel und Saugetiere)
anwendet. Urn zu einem gewissen Verstandnis zu kommen, konnte
man vielleicht analoges menschliches Verhalten heranziehen; dies
Verfahren ist nicht durchaus verwerflich, da doch Tier und Mensch
so viele Grunderscheinungen des Lebendigen gemeinsam sind.
VieHeicht ist es berechtigt, auch beim Menschen von einem tief
verwurzelten "Wandertrieb" zu sprechen, von der mit starken
Empfindungen gesattigten und durch eine kaum zu stiHende Neu
giet angestachelten Neigung, aufzubrechen zu neuen Ufern. Ohne
Zweifel unterliegt dies Aufbrechenwollen oder -miissen starken
Schwankungen, ist in seinem Auftreten und Ablauf bedingt dutch
unterschiedliche, z. T. auch altersbedingte, individuelle Neigun
gen, durch standige Wandlungen det physischen und zumal gesell
schaftlichen Umwelt. Der EinHuB des heimischen Klimas (Drang
nach dem "sonnigen Siiden"), vor aHem aber der Traditionen
(WaHfahrten; Kreuzziige; mehr oder weniger kriegerische Er
oberungsziige; Wanderungen von Berufsgruppen) und neuerdings
vor aHem auch des Prestigedenkens (moderner Tourismus) kann
I Nielsen, Insekten auf Reisen I
mit den vielfaltigen Wechselwirkungen kaum uberschatzt werden.
Biologisch gesehen ist wohl kein groBer Unterschied zwischen
der heutigen Danischen Invasion auf Mallorca und den Zugen
der Wikinger. Und es bedarf kaum des Hinweises, wie sehr der
Aufbruch ganzer Volker oder Volksteile das Gesicht der mensch
lichen Gesellschaft und durch diese auch das Gesicht der Land
schaft verandert hat.
Man k6nnte versucht sein, die Nomaden - die Lappen, Be
duinen, die mongolischen Steppenbewohner, wo immer man sie
bei der so schnell voranschreitenden Wandlung der menschlichen
Gesellschaft noch finden mag - als die typischen Wanderer zu
bezeichnen. Aber deren Wanderungen sind doch von besonderer
Art, bedingt durch die Notwendigkeit, am andern Platz die "alten"
Bedingungen (z. B. Weiden fur die Herden) zu finden; sie ziehen
gleichsam innerhalb eines groBen Areales "Heimat" umher, ge
zwungen durch den Charakter der Landschaft und der dadurch
bedingten Wirtschaftsform. Eine schwache Analogie etwa zum
Verhalten der Zugvogel ist denkbar.
Wie verschiedenartig auch das Motiv zum Aufbruch sein mag,
ich neige doch dazu, auch beim Menschen von einem Wandertrieb
zu sprechen; damit solI nicht so sehr das Wandern selber, die Be
wegung von Ort zu Ort, gemeint sein, sondern der Trieb, yom
Alltaglichen weg zu Neuem, Unbekanntem vorzustoBen; vielleicht
ist "Fernweh" kein schlechter Ausdruck dafur. Es bedarf gewiB
noch ausgedehnter, aber nicht von vornherein aussichtsloser
Untersuchungen an Tier und Mensch, um, trotz der Vielfalt der Er
scheinungen, der Einzelprobleme und Motivierungen im wesent
lichen Vergleichbares aufzuspuren. Man wird dann auch andere
Tiergruppen heranziehen mussen; bei der einen weiB man in die
ser, bei der anderen in jener Hinsicht Genaueres. Wenn wir hier
in Andeutungen auf Verhaltensweisen des Menschen hinweisen,
so mag der Vergleich mit dem Wanderverhalten der so ganz anders
organisierten Insekten vor verfruhten oder gar falschen Analogien
warnen.
2.
Der Schmetterling Ascia
Eigenartig un stet, scheinbar mehr von unregelmaBigen Luft
stramungen getrieben als von eigener Kraft, fliegen Tagfalter da
hin; und doch kannen sie durchaus genau auf einer angeflogenen
Bliite landen. Gerade dies en Bliitenanflug, um Nektar zu saugen,
sieht man meistens an den Faltern in Wiese und Garten. Zuweilen
aber ist der Flug eines Falters von anderer Art: zwar auch noch
von einer gewissen etwas schwerfalligen Unstetigkeit, aber doch
ohne Zweifel so, daB iiber eine liingere Strecke ein bestimmter
Kurs eingehalten wird; besonders deutlich wird dies, wenn man
ihn, gegen bzw. in Kursrichtung schauend, auf sich zukommen
und dann von sich wegfliegen sieht. Er halt sich dabei meist in
der Bahe von 2-3 Metern, steigt etwas in die Bahe, um ein
Hindernis zu tiberwinden, gewinnt dann aber wieder die alte Flug
hahe. Die Buddleia oder andere Blumen, die gerade von mehreren
Faltern umflattert sind, interessieren ihn offenbar durchaus nicht;
stetig setzt er den gerichteten Flug fort, wohl geradeswegs auf die
Wand eines Hauses zu; aber unmittelbar davor steigt er hoch und
verschwindet knapp tiber den First hinweg.
Noch im Nachdenken tiber dies en sonderbaren Falter kommen
schon zwei weitere der gleichen Art und in der gleichen Flugweise
daher; auch sie verschwinden iiber den Dachfirst, fliegen dahinter
- ein rascher Lauf dorthin tiberzeugt uns - in der alten Richtung
und Flughahe weiter. Stundenlang folgen immer neue, teUs ein
zeln im Abstand von Minuten, teils mehrere kurz hintereinander.
So kann jeder es mit etwas Gltick erleben: den Falter auf Wan
derung, zuweilen sogar mitten in der GroBstadt Kopenhagen. An
einigen Tagen Ende Juli 1960 sah ich beinahe taglich KohlweiB
Hnge tiber Bajers Platz kommen, die Ecke yom JuHane Mariesweg
schneiden und in den Hof des physiologischen Instituts herab
gleiten; auf den Mittelfliigel des Institutes stieBen sie in einem
3
Winkel von 60-70°, arbeiteten sich die ftinf Stockwerke hoch
und setzten den Flug durch den Faelledpark zum Triangel hin
fort. In Danemark sieht man vor allem KohlweiBlinge wandern,
zuweilen in groBen Mengen wie in einem gleichmaBigen Strom,
haufiger, wie vorhin beschrieben, einzeln, dann freilich weniger
auffallend.
Eine Flille von Fragen drangt sich auf: Woher kommen sie?
Wohin fliegen sie? Warum halten sie nicht an, sich an den Bltiten
zu laben? Wie bringen sie es fertig, den Kurs zu halten? Der
KohlweiBling ist nun freilich nicht so gut untersucht, daB er auf
alle diese Fragen eine begrtindete Antwort ermoglicht. Aber ver
mutlich lebt er iihnlich wie eine verwandte Art in Florida, die ich
aus eigener Erfahrung recht gut kenne und tiber die ich daher
Heber erzahlen mochte. Sie heiBt Ascia monuste mit ihrem wissen
schaftlichen Namen; die Amerikaner sagen "the Great Southern
White"; nennen wir sie weiterhin einfach Asda.
Der Falter ist beinahe so groB wie unser groBer KohlweiBling
und ebenfalls weiB mit etwas schwarzer Zeichnung. In Florida
vermehrt er sich beinahe wiihrend des ganzen Ja hres; die im Som
mer geschllipften Weibchen aber sind dunkelgrau statt weiB. Darin
unterscheiden sie sich von unser em, ihm sonst sehr ahnlichen
KohlweiBHng.
Asda gibt es vielerorts in Amerika, von der nordlichen Ver
breitungsgrenze in Florida tiber die Westindischen Inseln und
Mittelamerika bis hinunter nach Chile und Argentinien. Es han
delt sich um eine weitgehend tropische Art. Die Slidspitze von
Florida hat bereits tropisches Klima. Wie an anderen tropischen
Klisten gibt es dort, wo keine Brandung ist, die an mehr oder
weniger salziges Wasser gebundene Mangrovenvegetation. Diese
umfasst mehrere Baumarten, z. B. rote, weiBe und schwarze
Mangrove, und bildet wald- oder gebtischartige Formationen, die
die unzahligen Inseln, Holme und Landzungen der Gezeitenzone
mehr oder weniger bedecken, getrennt durch Rinnen, Sunde oder
groBere offene Flachen, die bei Flut von Brackwasser bedeckt, bei
Ebbe aber trocken sind.
Ein groBer Teil der Slidspitze Floridas mit dem Everglades
Nationalpark und die Westktiste bis Tampa hin, an der Ostkliste
bis auf die Hohe von Cap Canaveral ist von Mangroven bedeckt.
Der Ostkiiste sind auf weite Strecken Sandbanke vorgelagert; sie
bilden eine lange Kette von Inseln, die vom Festland durch eine
schmale Lagune getrennt ist. Zum Atlantischen Ozean hin ist der
Strand von Diinen gesiiumt; mitten auf den Inseln steht oft ein
dichter Wald von Eichen und Palmen. Aber zur Lagune hin,
ebenso auf der Festlandseite der Lagune findet sich ein Wirrwarr
von Mangrove-und Brackwassersiimpfen. In den offenen Siimpfen
und teilweise auch in den Mangraven, zumal in den schwarzen,
gibt es eine Pfianze mit dem Namen Balis (zu Familie Batidaceae).
Das ist ein niederer Busch, ungefiihr in der GroBe von Heide
kraut, aber die Zweige sind Hinger und dlinner, eher wie Ranken.
Die wurstformigen Blatter sind kraftig gelbgriin gefarbt, sprode
und saftig; sie haben einen salzig-wlirzigen Geruch und Ge
schmack. Die Blliten aber sind ganz unansehnlich.
Die Raupen des KohlweiBlings und seiner nachsten Verwandten
leben fast ausschlieBlich auf Kreuzbllitlern, ausnahmsweise aber
- jedem Gartenbesitzer ist das bekannt - auch auf Kapuziner
kresse.
Ais meine Frau und ich vor 15 J ahren nach Florida kamen, um
Ascia und seine Wanderungen zu untersuchen, wuBte man nicht,
wo die Raupen leben. So fuhren wir herum und durchsuchten aIle
erreichbaren Kohlfelder: keine Raupen. Hier und dort gab es
kleine Ascia-Gruppen an Wegrandern; die Raupen lebten hier auf
einem Kreuzbliitler, einer dem Hirtentaschel ahnlichen Kresse.
Diese Gruppen waren jedoch alle recht klein, bestanden nur aus
10-20 Individuen. Woher die groBen Falterschwarme drauBen
an der Kiiste kamen, wuBten wir nicht. Es gibt nur wenige Kreuz
bliitler in Florida, und die Botaniker erzahlten mir, daB sie in den
Mangroven ganz fehlen. Also konnten die Falter von dorther nicht
kommen, so meinte ich. Meine Frau jedoch war von dieser Mei
nung nicht iiberzeugt; also zwangten wir uns schlieBlich doch
miihselig in ein groBes Mangrovengebiet hinein. Dort aber sahen
wir gleich unter einem graBen schwarzen Mangrovenbaum ein
Ascia-Weibchen, das Eier auf ein Balis-Blatt ablegte. In kurzer
Zeit fanden wir Mengen von Eiern, Raupen und schlieBlich auch
eine Puppe auf einem Mangrovenzweig. Das Ratsel war gelost,
und wir zogen uns schnaufend zu unserm Jeep auf die asphaltierte
StraBe zurlick.
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