Table Of ContentIndogermanische Dichtersprache
und die Grenzen der Rekonstruktion
Ivo Hajnal (Innsbruck)
DerBegriff IndogermanischeDichtersprache“ stehtnichtfu¨reinvollst¨andigre-
”
konstruiertes sprachliches Register. Vielmehr wird er uneinheitlich verwendet
und oft auf einzelne Ebenen der Rekonstruktion reduziert: so etwa auf Formel-
sprache,SyntaxoderTextgenres.DerfolgendeBeitragwilldieisolierteBetrach-
tungsweiseu¨berwindenundeinenganzheitlichenBlickaufdiegrundsprachliche
Dichterspracheerm¨oglichen.
1 Einleitung
§
Roland Bielmeier hat sich in seinem wissenschaftlichen Schaffen intensiv
mitdenmu¨ndlichenErz¨ahl-undDichtungstraditionenAsiensbefasst.Da-
mit hat sich der Jubilar einem Forschungsgebiet gewidmet, das innerhalb
der Sprachwissenschaft eine besonders lange Tradition besitzt: Bereits im
Jahre 1853 verglich Adalbert Kuhn die rigvedische Wortverbindung ´ak.siti
´sr´avah. mit homerischem κλέος ἄφθιτον1. Damit legte Kuhn den Grund-
steinfu¨rdieRekonstruktioneiner indogermanischenDichtersprache“2.
”
ImGefolge vonAdalbert Kuhnist die Rekonstruktionder indogermani-
schen beziehungsweise grundsprachlichen Dichtersprache bis heute aktuell
geblieben – wenn nicht sogar durch die Auswertung neuer (sprich: anato-
lischer und tocharischer) Sprachzeugnisse aktueller denn je3. In methodi-
scher Hinsicht l¨asst sie sich wie folgt beschreiben:
1S. Kuhn 1853, 467.
2Der Begriff Indogermanische Dichtersprache“ ist u¨brigens erst von Adolf Kaegi
”
gepr¨agt worden: s. Kaegi 1881, 128 Anm. 2 sowie 158f. Anm. 82.
3Zuletzt hat sich der Diskussion um eine indogermanische Dichtersprache eine Ar-
beitstagung der Indogermanischen Gesellschaft gewidmet (s. die Beitr¨age bei Pinault–
Petit 2006).
Chomolangma, Demawend und Kasbek,Festschriftfu¨rRolandBielmeier(2008),457–481
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Einerseits bewegt sich die Rekonstruktion der Dichtersprache auf der her-
•
k¨ommlichen – d.h. formalen sowie sprachsystem-immanenten – Ebene.
DennsieumfasstdieRekonstruktionphonologischer,morphologischeroder
syntaktischer Merkmale der Grundsprache.
Andererseits nimmt die Rekonstruktion der Dichtersprache zus¨atzlich fu¨r
•
sichinAnspruch,TextebeziehungsweiseTextgenreszuerschliessen.Hierbei
verl¨asst sie – da Texte beziehungsweise Textgenres stets fu¨r eine gewisse
Kommunikationsabsichtstehen–dieherk¨ommlicheRekonstruktionsebene.
GleichzeitiggehtsieaufeinesprachpragmatischeEbeneu¨berundversucht,
eine diskursive Praxis“ im Sinne der Diskurstheorie von Michel Foucault
”
zu erschliessen.
Diese Sonderrolle gibt Anlass, die Grundlagen fu¨r die Rekonstruktion ei-
ner indogermanischen Dichtersprache zu hinterfragen, zu erweitern und
gleichzeitigderenGrenzenfestzulegen.AlsAusgangspunktmeinerU¨berle-
gungen dient der gegenw¨artige Wissensstand. Diesen beschreiben 2 glo-
§
bal sowie die 3–7 im Detail und aufgeschlu¨sselt nach einzelnen Rekon-
§§
struktionsebenen.Dabeizeigtsich,dassdasEtikettder indogermanischen
”
Dichtersprache“ fu¨r Resultate steht, die aus heterogenen Beschreibungs-
ebenengewonnensindundsichdeshalbnurschwerzueinemgeschlossenen
Bild vereinen lassen. In der Folge versucht 8, diese Resultate auf einen
§
gemeinsamenNennerzubringen.Abschliessendbeantwortet 9diemetho-
§
dische Frage, welche Grenzen der Rekonstruktion einer indogermanischen
Dichtersprache gegeben sind.
2 Dimensionen der Rekonstruktion einer indogermanischen
§
Dichtersprache
BisheuteistdieRekonstruktionderindogermanischenDichterspracheeng
mitdemBegriffder Formel“ verbunden4:InunterschiedlichenEinzelspra-
”
chen sowie in unterschiedlichen literarischen Genres bezeugte Phraseolo-
gismen (also Wortverbindungen mit identischem semantischem Gehalt)
verfu¨genjeweils u¨ber dieselbe etymologische Grundlage. Daraus l¨asst sich,
4Im Verlaufe der folgenden Darstellung soll nur diejenige Literatur zitiert werden,
diefu¨rdenFortgangderArgumentationerforderlichist.Fu¨reinedetaillierteU¨bersicht
der Forschungsgeschichte sowie eine umfassende Publikationsu¨bersicht sei auf die Mo-
nografien von Matasovi´c 1996, 15ff. sowie Costa 1998, 55ff. verwiesen.
Indogermanische Dichtersprache und die Grenzen der Rekonstruktion 459
wie vonAdalbertKuhngem¨ass 1vorgezeichnet, einInventaranererbten
§
Formeln rekonstruieren5.
Kuhns Konzept einer massgeblichvonderartigenFormelngepr¨agtenin-
dogermanischen Dichtersprache wird von Calvert Watkins in einem 1989
erschienenenBeitragumweitereBeschreibungsebenenerweitert6.Sostellt
Watkins fest, dass die Rekonstruktion einer Dichtersprache zwangsl¨aufig
zurRekonstruktioneinesvollst¨andigensprachlichenRegistersfu¨hrenmuss.
Konkret ergibt sich damit die folgende Forderung: Die Rekonstruktion ei-
ner Dichtersprache darf sich nicht auf das Lexikon beschr¨anken, sondern
muss ebenso Phonologie, Morphologie, Syntax und Pragmatik – hier vor
allem sprachstilistische und inhaltliche Aspekte – umfassen.
In diesem Sinne orientiert sich die aktuelle Rekonstruktion der indoger-
manischen Dichtersprache an folgenden Beschreibungsebenen7:
Formeln und Lexikon ( 3)
• §
Phonologie und Morphologie ( 4)
• §
Syntax und Stilistik ( 5)
• §
Metrische Technik ( 6)
• §
Genre und Inhalt ( 7)
• §
Eine vollst¨andige Rekonstruktion der indogermanischen Dichtersprache
hat sich innerhalb dieser Beschreibungsebenen zu bewegen beziehungs-
weisepr¨azisereineSyntheseausdiesenDimensionenherzustellen.Deshalb
sollen in einem n¨achsten Schritt diese Dimensionen im Hinblick auf den
aktuellen Wissensstand vorgestellt werden.
3 Formeln und Lexikon
§
Wiein 2festgestellt,bleibtdiesogenannte Formel“ derAusgangspunkt
§ ”
zurRekonstruktionbeziehungsweisedasKernstu¨ckderRekonstruktionei-
ner indogermanischen Dichtersprache. Hierbei stu¨tzen sich aktuelle Vor-
stellungen des Formelbegriffs weitgehend auf die von Milman Parry fu¨r
5Diese klassische Auffassung ist am besten in der noch immer massgeblichen Mo-
nografie von Schmitt 1967 greifbar.
6S. Watkins 1989, 784f. (sowie ders. 1995, 3ff.).
7Eineu¨bersichtlicheAuflistungderKriterienbietenWest1973,179f.sowieWatkins
1995, 12ff.
460 Ivo Hajnal
die homerischen Epen formulierte Funktionsbeschreibung8: Eine Formel
ist als Wortgruppe zu verstehen, die regelm¨assig und unter denselben me-
trischenBedingungenzumEinsatzkommt,umeinebestimmte Idee“ aus-
”
zudru¨cken9.
Dabei bleibt im Einzelnen unklar, in welchem Grad grundsprachliche
Formeln gefestigt sind: in welchem Umfang sie also Idiome (feste Wort-
verbindungen) oder Verbindungen kookkurierender W¨orter (lose Wortver-
bindungenbeziehungsweiseKollokationen)darstellen.DieUnsicherheitist
durchaus berechtigt: So erkennt Paul Kiparsky im homerischen Epos so-
wohl feste“ wie flexible“ Formeln, die er wie folgt beschreibt10:
” ”
Feste Formeln sind Idiome und als gebrauchsf¨ahige Oberfl¨achenstrukturen
•
imLexikonabgelegt.DasieinnerhalbdesSatzesalsKonstituentenfungie-
ren,musszumindesteinBestandteilvonihnenflektierbarsein.AufGrund
dieser Definition k¨onnen auch ganze S¨atze als feste Formeln fungieren.
Flexible Formeln sind Verbindungen kookkurierender W¨orter. Innerhalb
•
dergenerativenStrukturbestehensieauseinzelnenKonstituenten,dievon
demselben Knoten dominiert werden. Diese Definition setzt den flexiblen
Formeln gewisse Grenzen: So ist etwa die Kookkurenz von Adjektiv und
Substantiv nur dann als flexible Formel zu bestimmen, wenn das Adjektiv
derselben NP (Noun Phrase) wie das Substantiv angeh¨ort. Im Gegensatz
zufestenFormelnsindflexibleFormelnsyntaktischvariierbar,k¨onnenalso
um weitere Konstituenten erweitert oder analogisch ver¨andert werden.
Sowohl feste wie flexible Formeln sind phonologisch variierbar, sprich:
unterliegen phonologischen Prozessen wie Apokope oder metrischer Deh-
nung. Aus diesem Grund sind metrische Charakteristika nicht Bestandteil
der Formel. Daraus geht hervor, dass die Formel nicht ausschliesslich ein
Element von Versdichtung darstellt, sondern auch in mu¨ndlicher Prosa zu
erwarten ist11.
8S. Parry 1930 sowie als U¨bersicht u¨ber Parrys Theorie die Zusammenfassung bei
Visser 1987, 5ff.
9Erg¨anzend pl¨adiert Watkins 1995, 17 dafu¨r, dass eine Formel in Ausnahmef¨allen
aus nur einem Wort besteht.
10S. Kiparsky 1976, 82ff.
11Versdichtung ist allerdings st¨arker schematisiert als Prosa. Daher treten einzelne
Formeln gerne an bestimmten Versstellen auf. Typisch fu¨r Versdichtung sind ferner
Echoeffekte“, sprich: die freie Variation der phonologischen Gestalt der Formel ohne
”
Ru¨cksicht auf ihre syntaktische Struktur. S. hierzu Kiparsky 1976, 87ff.
Indogermanische Dichtersprache und die Grenzen der Rekonstruktion 461
MitseinerDifferenzierunginfesteundflexibleFormelnvertieftKiparsky
den Formelbegriff von Milman Parry und liefert ein theoretisches Geru¨st
zur Typologisierung von Formeln. Jedoch wird die Antwort auf die oben
angesprochene Frage, welcher Formeltypus fu¨r die indogermanische Dich-
tersprache vorauszusetzen ist, keineswegs erleichtert. Vielmehr wirft der
Blick auf die Einzelsprachen neue Fragen auf: Fu¨r das homerische Epos
weist die Arbeit von Visser 1987 ein generatives System von flexiblen For-
meln im Sinne Kiparskys nach. So dienen die schmu¨ckenden“ Adjektive
”
bei Homer als freie Erg¨anzungen, die verbliebene Verslu¨cken fu¨llen. Die
Konsequenz aus diesem Verfahren wird von Latacz 1992, 823 wie folgt
geschildert: Wenn es zutrifft, daß die epische Improvisationstechnik ur-
”
spru¨nglich ... darin besteht, Hexameter in einem Setz und Fu¨llverfahren
aus Einzelw¨ortern zu generieren, dann kann die Formel nicht Elementar-
baustein des Verfahrens sein, sondern nur Produkt.“12. Ferner bestehen
Hinweise, dass die Sprache des Rigveda – allerdings in weit geringerem
Umfang – auf einem analogen System von flexiblen Formeln aufbaut. Fu¨r
die Frage nach der Gestalt der indogermanischen Formel ergeben sich da-
durch zwei Szenarien: Entweder basiert die indogermanische Dichterspra-
che auf einem vergleichbaren System flexibler Formeln. Oder sie verfu¨gt
u¨bereinenBestandfesterFormeln,derindenEinzelsprachenu¨bernommen
wirdundinderFolgealsGrundlageeinesSystemsflexiblerFormelndient.
EineEntscheidungistvorerstnichtm¨oglich,dochhabendiebeidenSzena-
rien unterschiedliche Implikationen. So setzt das Szenario eines Bestands
fester Formeln voraus, dass Stu¨cke indogermanischer Dichtung in fester,
memorierter Form u¨bertragen worden sind – was im entgegengesetzten
Fall eines flexiblen Formelsystems nicht zwingend ist.
4 Phonologie und Morphologie
§
Die poetische Diktion in den ¨altesten indogermanischen Sprachen zeich-
net sich durch Lizenzen im Bereich der Phonologie wie der Morphologie
aus. Bekannte Beispiele aus der epischen Sprache Homers sind die me-
trische Dehnung (vgl. Il. 1.44 κατʼ ᾽Ουλύµποιο /kat’ O¯lumpoiio/ statt
*/kat’ O˘lumpoiio/) oder die Geminierung von wortanlautenden“Resonan-
“
12Weitere Details zur ju¨ngsten Erforschung der homerischen Versifikationstechnik
liefert Hajnal 2003, 93ff.
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ten hinter auslautendem Vokal des vorhergehenden Worts (vgl. Il. 13.754
ὄρεϊ νιφόεντι ἐοικώς/ore˘ı nniphoentieoik¯os=ore¯ı niphoentieoik¯os/statt
*/ore˘ı niphoenti eoik¯os/).
Derartige poetische Lizenzen beruhen auf Ver¨anderungen des synchro-
nen Regelwerks, welche die Anpassung ans jeweilige Metrum erleichtern:
soetwaGeneralisierung,Lockerung,UmordnungoderUmkehrungvonRe-
geln13. Ausgangspunkt solcher Ver¨anderungen sind gerne morphophone-
tische Reanalysen. Aus diesem Grunde toleriert eine metrisch gestaltete,
poetische Sprache Formen, die im Verlauf des morphophonetischen Ab-
leitungsprozesses entstanden und somit historisch begru¨ndet sind. In den
Worten von Kiparsky 1972, 186: ... we can think of the meter as a kind
”
of filter that accepts only sentences of a certain form and that a line must
pass in order to be acceptable in poetry. In Rigvedic ... the line can pass
the filter not only in its poetic shape, but also at certain earlier stages of
thephonologicalderivation.“ Daru¨berhinauskanndieservonKiparskyins
Spiel gebrachte Filter Formen akzeptieren, die realiter nie existiert haben,
aber aus der morphophonetischen Reanalyse hervorgegangen sind14.
Es scheint folglich nicht unplausibel, poetische Lizenzen bereits fu¨r eine
indogermanische Dichtersprache zu postulieren. Eine weitergehende Aus-
sage ist allerdings nicht m¨oglich: Denn die Lizenzen, die aus der poe-
tischen Diktion der ¨altesten indogermanischen Sprachen bekannt sind,
fu¨hren nicht u¨ber einen fu¨r die Grundsprache rekonstruierten Laut oder
Formenstand hinaus. Damit beruhen sie auf einzelsprachlichen Regelver-
¨anderungenbeziehungsweiseReanalysen–undgestattenkeineexakteAus-
sagen u¨ber m¨ogliche poetische Lizenzen in der indogermanischen Dichter-
sprache.
13S.Miller1977:SowirdimobengenanntenFalledermetrischenDehnungbeiHo-
mer die Regel der Kompositionsdehnung generalisiert. Im Falle der Geminierung von
wortanlautenden Resonanten wird die Abfolge der Geminierungsregel (jeder Resonant
imgriechischenAnlautkannalsGeminatabehandeltwerden)undDegeminierungsregel
(jeder Resonant im griechischen Anlaut ist als Einfachkonsonanz zu behandeln) um-
gekehrt. – Analog motivierte poetische Lizenzen belegt die rigvedische Versdichtung:
Hierzu geh¨oren die von Korn 1998, 49ff. (bzw. 181) gesammelten Streckformen“ zur
”
Umwandlung einer elfsilbigen Tris.t.ubh in eine zw¨olfsilbige Jagat¯ı; ferner die sogenann-
ten Laryngalreflexe“ (U¨berblickbeiGippert1997),diesynchronwohlmehrheitlichauf
”
Regelumkehrungen beruhen, die ihrerseits zur Generalisierung von Regeln fu¨hren.
14S. Kiparsky 1972, 174ff.
Indogermanische Dichtersprache und die Grenzen der Rekonstruktion 463
5 Syntax und Stilistik
§
Wie jede poetische Sprache ist die indogermanische Dichtersprache durch
ihre sprachstilistische Markierung gekennzeichnet. Diese Markierung kann
alternativ in einem engen oder einem breiten Sinne beschrieben werden.
IneinemengenSinnelassensichfu¨rdieindogermanischeDichtersprache
aufGrunddeseinzelsprachlichenZeugnisseseineVielzahlvonsprach¨asthe-
tischen Massnahmen beziehungsweise Stilmitteln rekonstruieren, die der
Typologie der klassischen Rhetorik folgen15. Hierzu geh¨oren auf phoneti-
scher Ebene beispielsweise Reim oder Alliteration, an die sich die klas-
sischen Wortfiguren wie Anapher und Epipher anschliessen. Auf lexika-
lischer Ebene lassen sich Tropen wie Metaphern und Metonymien beob-
achten, auf syntaktischer Ebene schliesslich Wortfiguren der Weglassung
(Ellipsen) oder der Anh¨aufung gem¨ass dem Gesetz der wachsenden Glie-
”
der“.
Dieser Befund ist wenig u¨berraschend. Denn die sprach¨asthetischen
Massnahmen beziehungsweise Stilmittel entsprechen universalen rhythmi-
schenPr¨aferenzenbeziehungsweisekognitivenAnlagen.Umdieexklusiven
SpezifikaeinerindogermanischenDichtersprachefestzulegen,musssichder
BlickvielmehraufdiesprachstilistischeMarkierungineinembreitenSinne
richten. Diese l¨asst sich als syntaktische Dimension verstehen, und zwar
...
einerseits als geh¨aufte Realisierung gewisser markierter – d.h. von der un-
•
markierten Wortstellung abweichender, jedoch im Satzbauplan vorgesehe-
ner – Satzmuster,
andererseits als Erweiterung des Satzbauplans im Sinne von poetischen
•
Lizenzen.
Als unmarkierte Wortstellung in der indogermanischen Grundsprache gilt
SOV: also Erststellung des Subjekts und Letztstellung des Pr¨adikats16.
Um die Frage nach der geh¨auften Realisierung markierter Satzmuster zu
beantworten, gilt es in den ¨altesten einzelsprachlichen Zeugnissen poeti-
scher Ausrichtung nach charakteristischen Abweichungen vom unmarkier-
ten Satzbaumuster SOV zu suchen.
15S. fu¨r diese Typologie Watkins 1995, 28ff. – Eine ausfu¨hrliche Darstellung der
in der ¨altesten indo-iranischen Dichtung verwendeten sprach¨asthetischen Massnahmen
liefert Sadovski 2005 sowie ders., im Druck.
16S. Krisch 1997, 301ff. sowie ders. 2002, 251.
464 Ivo Hajnal
Tats¨achlich sind in altindogermanischen Texten dreierlei Abweichungen
vondiesemunmarkiertenSatzbaumusterh¨aufig,dieimFolgendenanhand
von Textbeispielen aus den rigvedischen Hymnen, dem griechischen Epos
sowie keilschriftluwischen Ritualges¨angen17 illustriert sind:
Absolute Anfangsstellung des Verbs beziehungsweise Zweitstellung des
•
Verbs, sofern Spec, TopP ausgefu¨llt ist: Die absolute Anfangsstellung des
Verbs beziehungsweise dessen Zweitstellung hinter Spec, TopP beruht auf
einer Linksbewegung des Verbs in die CP (gleich Complementizer-Phrase)
beziehungsweisepr¨aziserindiePositionSpec,CP18.Vgl.hierzudiefolgen-
de Grafik19:
Graphik 1
17S. zu den stilistischen Merkmalen der keilschriftluwischen Beispiele ausfu¨hrlich
Melchert 2006.
18S. hierzu die Statistiken bei Hock 2000, 178ff.
19Zur Erl¨auterung der Grafiken sei Folgendes erg¨anzt: (E1) bzw. (E2) markieren
jeweils die Positionen, an welche die Wackernagelschen Enklitika antreten (vgl. hierzu
mit Textbeispielen Hajnal 2004a, 239ff. sowie zuletzt ausfu¨hrlich Hale 2007, 194ff.).
Spec, TopP, Spec, CP bzw. Spec, IP stehen fu¨r Specifier, die den Einzugsbereich von
TopP, CP bzw. IP einschr¨anken und/oder TopP, CP bzw. IP an den Diskurskontext
anbinden.
Indogermanische Dichtersprache und die Grenzen der Rekonstruktion 465
Beispiele:
ErstensmitErststellungdesVerbs,daSpec,Topunbesetztist:RV1.103.2c
ahann ´ahim ´abhinad rauhin.´am. v´ı er erschlug die Schlange (und) spaltete
”
Rauhina“;RV2.31.7b´atak.sann ¯ay´avo navyase s´am dieAyusbauten(sie)
”
fu¨r den neuen zusammen“; Hom., Il. 9.415f. ὤλετό µοι κλέος ἐσθλόν, ἐπὶ
δηρὸν δέ µοι αἰὼν ἔσσεται vorbeiistmeinedlerRuhm,abermeinLeben
| ”
wird lange w¨ahren“.
ZweitensmitZweitstellungdesVerbs,daSpec,Topbesetztist:RV6.63.1d
pr´e.s.th¯a hy ´asatho asya m´anman denn Du wirst die liebste sein in sei-
”
nem Lied“; kluw. KUB 35.54 iii 9ff. a-ta-at-ta pa-ri p´at-za-du MA´Sˇ.GA´L-
iˇs/ma-a-u-ua-a-tipa[-a-a]r-ta-a-tima-an-na-ku-na-ti /SI-na-ti Undder
Bockmitde“nkurzenBeinen(und)denkurzenH¨ornernsolles(sc.d”asU¨bel)
forttragen“.
Hyperbata: Wie die Voranstellung des Verbs ist auch das Hyperbaton eine
•
beliebte Varianz in altindogermanischen Texten poetischer Ausrichtung.
Das Hyperbaton beruht dabei ...
(a) entweder auf einer Linksbewegung einzelner Teile von Konstituenten
nach Spec, TopP (vgl. die Beispiele oben),
(b) oder auf einer Linksbewegung einzelner Teile von Konstituenten nach
Spec, IP – also auf eine Position, die sich durch eine Erweiterung links der
IP ergibt20. Vgl. hierzu die Grafik 2 auf S. 466.
Beispiele:
(a) mit Linksbewegung in Spec, TopP: RV 3.6.8a ... urau´ v¯a y´e ant´arik.se
m´adanti ... oderdiesichimweitenLuftraumerg¨otzen“;RV1.117.16b...
”
¯a´sn´o y´at s¯ım ´amun˜catam. v´r.kasya ... als ihr beide sie aus dem Mund des
”
Wolfes befreitet“ (zus¨atzlich mit Zweitstellung des Verbs wie oben); kluw.
KUB 35.102(+)103 iii 11 a-la-ti-it-ta a-ah-ha LU´-iˇs a-u´-i-ta [u´-i-lu-ˇsa-ti
ˇ ˇ
als der vom hohen Uiluˇsa kam“;
”(b) mit Bewegung in“Spec, IP: RV 3.3.1c agn´ır h´ı deva¯´m˘˙ am´r.to duvasy´ati
dennderunsterblicheAgnigibtdenG¨otternGaben“;Hom.,Il.1.2(µῆνιν)
”
... ἣµυρί᾿Ἀχαιοῖς ἄλγε᾿ ἔθηκε (denZorn)...,derdenAch¨aerntausende
”
Schmerzen bereitete“; kluw. KBo 4.11 46 ah-ha-ta-ta a-la-ti a-u´-i-en-ta
ˇ ˇ
u´-i-lu-ˇsa-ti als sie vom hohen Uiluˇsa kamen“.
” “
Erweiterte S¨atze ( amplified sentences“): Als erweiterte S¨atze werden die-
• ”
jenigen S¨atze bezeichnet, in denen sich an das Verb in Endstellung nicht-
obligatorische – d.h. nicht durch die Valenz des Verbs geforderte – Ele-
20S.fu¨rdieseAuffassungderHyperbataKrisch1998,373ff.–ImFallevonHyperbata
entstehensog. split-NP“.DamitwirdvonderRegelabgewichen,wonacheineBewegung
”
nur ganze Konstituenten, nicht aber deren Einzelteile erfasst. Diese Abweichung wird
nun durch die Annahme gerechtfertigt, dass sich einzelne Teile auseinandergerissener
Konstituenten wiederum zu eigenst¨andigen Konstituenten regenerieren“.
”
466 Ivo Hajnal
Graphik 2
mente anschliessen: so in erster Linie erg¨anzende Umstandsangaben, Ap-
positionen,attributivePartizipialkonstruktionenoderinfinitivischeErg¨an-
zungen21. Vgl. hierzu die Grafik 3 auf S. 467 (das appositionelle Element
ist eingekreist).
Beispiele:
(a)mitattributiverPartizipialkonstruktion:RV5.32.11cdt´ammejagr.bhra
¯a´s´ason´avi.s.tham. do.sa¯´ v´astor h´avam¯an¯asa´ındram meineWu¨nscheergrif-
| ”
fen diesen ju¨ngsten, indem sie Indra Tag und Nacht riefen“;
(b) mit erg¨anzender Umstandsangabe: Hom., Il. 5.7 τοῖόν οἱ πῦρ δαῖεν
ἀπὸ κρατός τε καὶ ὤµων ein solches Feuer liess sie ihm aus Helm und
”
Schild brennen“;
(c) mit Apposition: kluw. KUB 9.6+35.39 i 26ff. [t]a-a-i-in-ti-ia[-ta ma-
“
al-li a-i-]ia-ru ta-pa-a-ru-ua / [hi-ru-]u´-ta [ta-ta-ar-ri-ia-am-na u-u]a-la-
“ “ ˇ “ “
an-te-ia/ hu-u-i-it-ua[-li-e-ia (Zu) O¨l (und) Honig sollen sie werden, die
“ ˇ “ “ ”
taparua, die Meineide, die Verfluchungen der Toten und der Lebendigen
“
... “.
Esistmethodischunbedenklich,diesedreimarkiertenSatzbaumusterauch
fu¨rdieGrundspracheanzusetzen.Sieerfu¨llendabeieineklarestilistische–
21S. fu¨r den Begriff der amplified sentences“ Gonda 1959, 7ff., Krisch 1997, 301ff.
”
sowie ders. 2001, 161ff.