Table Of ContentAnne Holt
Im Zeichen des
Löwen
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»Die Türen sind versiegelt, und das Siegel wurde nicht gebrochen. Die
Fenster sind unversehrt, die Fensterbänke unberührt.« Und doch liegt Birgitte
Volter, die norwegische Ministerpräsidentin, erschossen in ihrem Büro – mit
Intuition und Fingerspitzengefühl kommt Hanne Wilhelmsen der Wahrheit
Schritt für Schritt näher.
ISBN: 3-492-04148-5
Original: Løvens gap (1997)
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Verlag: Piper
Erscheinungsjahr: 1999
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch
Birgitte Volter war am Ziel. Das Vertrauen in ihre innere Kraft
hatte sie nie verlassen, und so war die kürzliche Berufung zur
norwegischen Ministerpräsidentin beinah eine unausweichliche
Folge ihrer Bemühungen. Doch nun liegt Birgitte Volter
erschossen in ihrem Büro. Und niemand kann sich ihren Tod
erklären. Es fehlt ein Motiv, und auch die Indizien sprechen eine
höchst unklare Sprache. Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen
steht vor einem Rätsel, zumal auch die Tatwaffe spurlos
verschwunden ist. Einen der wenigen Anhaltspunkte bietet
Benjamin Grinde, der letzte, der die Ministerpräsidentin lebend
gesehen haben soll. Grinde ist Richter am Obersten Gericht und,
wie sich herausstellt, ein Freund Birgitte Volters aus Kinderta-
gen. Bevor Grinde aber wertvolle Hinweise liefern kann, nimmt
er sich das Leben. In welcher Beziehung stand er zu seiner
Vorgesetzten? Und hat es möglicherweise etwas gegeben, das
die beiden bis in den Tod miteinander verbunden hat?
Im Spannungsfeld von Politik, Intrigen und Macht sieht Anne
Holt die Menschen hinter den öffentlichen Figuren, und es
gelingt ihr das überzeugende Porträt einer Frau, die mit den
Dämonen ihrer Vergangenheit ringt.
Autor
Anne Holt, geboren 1958 in Norwegen, arbeitete als Journalis-
tin, Polizistin und Anwältin, bevor sie 1996 für kurze Zeit zur
norwegischen Justizministerin ernannt wurde. Nach dem
preisgekrönten Roman »Das einzige Kind« ist »Im Zeichen des
Löwen« ihr zweites bei Piper erschienenes Buch um die
Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen.
Berit Reiss-Andersen arbeitet als Rechtsanwältin in Oslo und
war unter Anne Holt Staatssekretärin im Justizministerium.
Für unsere Freunde Dr. Glück, den Schafzüchter, und Arnold,
den Ritter der Schwafelrunde
»Es hilft nichts, Zoologie studiert zu haben, wenn man im
Rachen des Löwen steckt.«
Gunnar Reiss-Andersen
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Freitag, 4. April 1997
18.47, Büro der Ministerpräsidentin
Die Frau, die im Vorzimmer der Ministerpräsidentin saß, starrte
abwechselnd ihr Telefon und die Doppeltür an und wurde dabei
von steigender Unruhe erfüllt. Sie trug ein blaues Kostüm, einen
netten kleinen klassisch geschnittenen Blazer mit passendem
Rock und ein etwas zu buntes Halstuch. Obwohl ein langer
Arbeitstag hinter ihr lag, hatte sich keine Haarsträhne aus ihrer
eleganten, wenn auch ein wenig unmodernen Frisur gelöst. Die
Frisur ließ die Frau älter wirken, als sie tatsächlich war. Viel-
leicht wollte sie es so, vielleicht sollte sie ihr eine Würde
verleihen, die ihr die vierzig Jahre nicht liefern konnten.
Sie hatte genug zu tun, aber anders als sonst schaffte sie
nichts. Sie saß einfach nur da. Den einzigen Hinweis auf ihre
steigende Befürchtung, daß hier etwas nicht stimmen konnte,
boten ihre langen, gepflegten Finger mit den tiefroten Nägeln
und zwei Goldringen an jeder Hand. Immer wieder fuhren sie an
ihre Schläfe, um unsichtbare Haare glattzustreichen, und
schlugen danach mit einem dumpfen Geräusch auf der Schreib-
tischunterlage auf, wie eine mit Schalldämpfer abgefeuerte Serie
von Schüssen. Plötzlich sprang die Frau auf und ging ans
Fenster.
Draußen dämmerte es. Fünfzehn Stockwerke tiefer sah sie
fröstelnde Menschen durch die Akersgate eilen, manche liefen
irritiert im Kreis umher und warteten auf einen Bus, der viel-
leicht niemals eintreffen würde. Hinter den Fenstern des Büros
der Kulturministerin brannte noch immer Licht. Trotz der
Entfernung konnte die Frau im blauen Kostüm sehen, wie die
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Sekretärin das Vorzimmer verließ, um ihrer Chefin einen Stapel
Papiere zu bringen. Die junge Ministerin lachte die ältere Frau
an und warf ihre blonden Haare nach hinten. Sie war zu jung für
eine Kulturministerin. Und sie war nicht groß genug. Ein langes
Abendkleid machte sich einfach nicht gut an einer Frau von
knapp eins sechzig. Zu allem Überfluß steckte die junge Dame
sich auch noch eine Zigarette an und stellte den Aschenbecher
auf den Papierstapel.
Sie sollte in diesem Büro nicht rauchen, dachte die Frau in
Blau. Da hängen schließlich wahre Kulturschätze. Das kann
doch nicht gut sein für die Bilder.
Dankbar klammerte sie sich an dieses Gefühl der Irritation.
Für einen Moment ließ sich dadurch die Unruhe verdrängen, die
inzwischen in eine unbekannte, besorgte Angst umzukippen
drohte.
Vor zwei Stunden hatte Ministerpräsidentin Birgitte Volter
sehr energisch und fast unfreundlich erklärt, sie wolle nicht
gestört werden, auf gar keinen Fall. Genau das hatte sie gesagt:
»Egal, wie.«
Gro Harlem Brundtland hätte niemals »egal, wie« gesagt. Sie
hätte gesagt: »Ganz gleichgültig, worum es geht«, vielleicht
hätte sie sich auch einfach mit der Anweisung begnügt, nicht
gestört werden zu wollen. Selbst wenn sämtliche sechzehn
Etagen des Regierungsgebäudes in Flammen gestanden hätten,
Gro Harlem Brundtland wäre in Ruhe gelassen worden, wenn
sie darum gebeten hätte. Doch Gro war am fünfundzwanzigsten
Oktober des Vorjahres zurückgetreten, und nun waren neue
Zeiten angebrochen, neue Gewohnheiten und eine neue Sprache
angesagt, und Wenche Andersen behielt ihre Gefühle für sich.
Sie machte wie immer ihre Arbeit, effektiv und diskret.
Vor einer guten Stunde hatte Benjamin Grinde, Richter am
Obersten Gericht, das Büro der Ministerpräsidentin verlassen. Er
hatte einen anthrazitgrauen italienischen Anzug getragen, in der
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Doppeltür genickt und sie dann hinter sich geschlossen. Mit
einem leisen Lächeln hatte er sich ein Kompliment über ihr
neues Kostüm erlaubt, dann hatte er sich seine burgunderrote
Lederaktentasche unter den Arm geklemmt und war die Treppe
zum Fahrstuhl im vierzehnten Stock hinuntergegangen. Wenche
Andersen war ganz mechanisch aufgestanden, um Birgitte
Volter eine Tasse Kaffee zu bringen, hatte sich jedoch in letzter
Sekunde auf die Anweisung ihrer Chefin besonnen, sie nicht zu
stören. Doch allmählich wurde es wirklich spät.
Die Staatssekretäre und politischen Berater waren schon
gegangen, wie auch das übrige Büropersonal. Wenche Andersen
saß an einem Freitagabend allein im fünfzehnten Stock eines
Hochhauses im Regierungsviertel und wußte nicht, was sie
machen sollte. Im Büro der Ministerpräsidentin herrschte
tödliche Stille. Aber das war vielleicht kein Wunder. Es waren
schließlich Doppeltüren.
19.02, Odins gate 3
Irgend etwas stimmte nicht mit dem Inhalt des schlichten
tulpenförmigen Glases, das er hochhielt, um zu sehen, wie das
Licht sich in der roten Flüssigkeit brach. Er horchte auf den
Wein, versuchte, sich zu entspannen und ihn so zu genießen, wie
ein schwerer Bordeaux es nun einmal verdiente. Angeblich
sollte der Jahrgang 1983 eine offene und weiche Note haben.
Bei diesem hier aber war die Kopfnote zu herb, und der Mann
verzog voller Abscheu den Mund, als er erkannte, daß der Wein
auch im Abzug in keinem Verhältnis zu dem Preis stand, den die
Flasche gekostet hatte. Brüsk stellte er das Glas hin und griff zur
Fernbedienung seines Fernsehers. Die Nachrichten hatten bereits
angefangen. Die Sendung interessierte ihn nicht, und die Bilder
flimmerten an ihm vorbei, während der Mann nichts registrierte,
außer daß der Nachrichtensprecher einen unglaublich ge-
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schmacklosen Anzug trug. Ein Mann von Welt durfte einfach
keine gelben Jacketts tragen.
Er hatte es tun müssen. Es hatte keine Alternative gegeben.
Jetzt, da alles vorüber war, empfand er überhaupt nichts. Er
hatte ein Gefühl der Befreiung erwartet, die Möglichkeit, nach
all diesen Jahren aufzuatmen.
Er hätte sich so gern erleichtert gefühlt. Statt dessen überkam
ihn eine ungewohnte Einsamkeit. Die Möbel kamen ihm
plötzlich fremd vor. Das alte, schwere Eichenbüfett, auf dem er
schon als Kind herumgeklettert war, und das jetzt in seiner
ganzen Pracht sein Wohnzimmer beherrschte, mit Traubenre-
liefs und der exklusiven Sammlung japanischer Netsuke-
Miniaturen hinter den geschliffenen Glastüren, schien ihm jetzt
nur noch düster und bedrohlich.
Auf dem Tisch zwischen ihm und dem Fernseher lag ein
Gegenstand. Warum er ihn mitgenommen hatte, war ihm völlig
unklar. Er schüttelte sich und ließ den Nachrichtensprecher mit
einem Tastendruck verschwinden. Es war der Abend vor seinem
fünfzigsten Geburtstag. Er kam sich viel älter vor, als er sich
steif vom Chesterfieldsofa erhob, um in die Küche zu gehen.
Die Pastete würde er am besten schon an diesem Abend machen.
Erst nach vierundzwanzig Stunden im Kühlschrank entfaltete
sie ihren vollen Geschmack.
Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, eine
weitere Flasche von dem teuren Bordeaux zu öffnen. Er ent-
schied sich jedoch dagegen und begnügte sich mit einem
Cognac, den er sich großzügig in ein neues Glas einschenkte.
Doch auch die Küche bot ihm keine Ablenkung.
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19.35, Büro der Ministerpräsidentin
Die Frisur saß nun nicht mehr so perfekt. Eine starre, blondierte
Locke fiel ihr in die Augen, und sie spürte die Schweißperlen
auf der Oberlippe. Nervös griff sie zu ihrer Handtasche, öffnete
sie und zog ein frischgebügeltes Taschentuch heraus, das sie
sich zuerst an den Mund und dann an die Stirn hielt.
Jetzt würde sie hineingehen. Vielleicht war etwas passiert.
Birgitte Volter hatte das Telefon ausgestöpselt, sie mußte also
anklopfen. Vielleicht war die Ministerpräsidentin krank. In den
letzten Tagen hatte sie gestreßt gewirkt. Obwohl Wenche
Andersen an dem lässigen und ungewohnten Stil der Minister-
präsidentin allerlei auszusetzen hatte, mußte sie zugeben, daß sie
normalerweise sehr freundlich war. In der vergangenen Woche
jedoch war sie fast abweisend gewesen, übellaunig und leicht
reizbar. Ob sie krank war? Jetzt würde sie zu ihr gehen. Jetzt.
Statt die Ministerpräsidentin zu stören, ging sie auf die Toilet-
te. Vor dem Spiegel ließ sie sich viel Zeit. Sie wusch sich
ausgiebig die Hände und holte dann eine kleine Tube Handcre-
me aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken. Gründlich
massierte sie ihre Finger und spürte, wie die Creme in die Haut
einzog. Unbewußt schaute sie auf die Uhr und atmete schwer.
Es waren erst viereinhalb Minuten vergangen. Die kleinen
Goldzeiger schienen fast stillzustehen. Ängstlich und resigniert
ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch; sogar das Geräusch der
Toilettentür, die hinter ihr ins Schloß fiel, hatte ihr angst
gemacht.
Jetzt mußte sie hineingehen. Wenche Andersen erhob sich
halbwegs, zögerte und setzte sich wieder. Die Anweisung war
eindeutig gewesen. Birgitte Volter wollte nicht gestört werden.
»Egal, wie.« Doch sie hatte auch nicht gesagt, daß Wenche
Andersen Feierabend machen dürfe, und es wäre unerhört
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