Table Of ContentFriedrich Vogel
in der Welt von heute
12 Salzburger Vorlesungen
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
London Paris Tokyo Hong Kong
Professor Dr. Friedrich Vogel
Institut fUr Humangenetik und Anthropologie
1m Neuenheimer Feld 328, 6900 Heidelberg 1
Mit 68 Abbildungen
ISBN-13:97S-3-S40-S0717-S e-ISBN-13:97S-3-642-74401-3
DOl: 1O.1007/97S-3-642-74401-3
CI P-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Vogel, Friedrich:
Humangenetik in der Welt von heute: 12 Salzburger Vorlesungen / Friedrich Vogel.
Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo; Hong Kong: Springer, 1989
ISBN-13:978-3-540-50717·8 (Berlin ...) brosch.
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© Springer· Verlag Berlin Heidelberg 1989
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Geleitwort
Das altehrwurdige, kulturhistorische Kleinod Salzburg hat eine
junge UniversiUit und eine noch jungere naturwissenschaftliche
Fakultat, der ein Wissenschaftstempel geschenkt wurde, der wegen
der Harmonie zwischen Asthetik der Architektur und Zweckma
Bigkeit der Arbeitsraume seinesgleichen auf der Welt sucht.
Hier Genetik in Unterricht und Forschung zu betreiben, ist noch
Pionierarbeit. Aber es war stets unser Bemuhen, durch Einladung
auswartiger Kollegen unseren Studenten einen Blick in die "groBe
Genetik" der Welt zu bieten.
DaB wir Professor Vogel als Gastprofessor gewinnen konnten,
war Begliickung, intellektuelle Herausforderung und Ansporn; ist
er doch einer der fiihrenden Humangenetiker der Welt. Er ist es,
der als "Nachfolger" seines Lehrers Nachtsheim die Humangene
tik in Deutschland wieder zu Ansehen brachte.
Durch seine, nunmehr publiziert vorliegende Vorlesungsreihe
vermitteIt, durften wir an den reichen Erfahrungen eines Forschers
und Lehrers teilhaben, der seit rund 35 lahren die neue deutsche
Humangenetik wesentIich gepragt hat. In dieser Vorlesungsserie
spiegeJt sich die Weite der Kenntnisse und Erkenntnisse Friedrich
Vogels: Von der Wissenschaftstheorie bis zur ethischen Verantwor
tung des Arztes, von "house keeping genes" in Chromosomenban
den und Nukleotidsequenzen bis zu jugendlichem Diabetes oder
Intelligenztests von Heterozygoten rezessiver Enzymdefekte und
schliel3lich bis zum Fur und Wider einer Genmanipulation.
Diesem Buch mochte ich eine gleichartig begeisterte Aufnahme
wunschen, wie sie den Vorlesungen bei uns in Salzburg zuteil
geworden war.
Salzburg,luli 1988 Gerhard Czihak
V
Vorwort
In dies em Biichlein wird Ober Themen aus der Humangenetik
berichtet. Es entstand, weil die UniversiUit Salzburg den Verfasser
im Fruhjahr 1988 zu einer Serie von Gastvorlesungen eingeladen
hatte. Die Randbedingungen waren groBzOgig formuliert: Man
erwartete nicht etwa ein systematisch aufgebautes Anfangerkolleg,
sondern lieB mir die Freiheit zu sagen, was immer mir wichtig
erschien und wozu ich Lust hatte. So entschloB ich mich zu einer
Serie von nur lose zusammenhangenden Vorlesungen. Ich habe sie,
soweit es mir moglich war, in eine mir logisch erscheinende Rei
henfolge gebracht; der Leser ist trotzdem nicht unbedingt gehaiten,
sie in dieser Reihenfolge zu lesen. Die einzelne Vorlesung so lite
versUindlich sein auch fOr den, der die vorangegangenen nicht
kennt. Deshalb wurden auch einzelne Wiederholungen bewuBt in
Kauf genommen. Die Reihe richtete sich an einen breiten Horer
kreis. So konnte ich zwar allgemein biologische Grundkenntnisse,
nicht aber Spezialwissen auf dem Gebiet der Humangenetik vor
aussetzen.
1m Laufe eines langeren Lebens als Wissenschaftler bleibt es
nicht aus, daB man bei verschiedenen Gelegenheiten zu Vortragen
aufgefordert wird, die dann irgendwo - oft an ganz verborgener
Stelle - veroffentlicht werden; manchmal bleiben sie auch unge
druckt. Meist gibt man sich damit zufrieden und mit Recht: der
Vortrag hatte Bedeutung - wenn Oberhaupt - nur in einem
bestimmten Rahmen. Es wird ohnehin zuviel gedruckt. Manchmal
aber mochte man den Gedanken gerne fortspinnen - oder das
Gesagte in einen groBeren Zusammenhang stell en. Die ehrenvolle
Aufforderung zu einer Gastprofessur bietet dazu eine willkom
mene Gelegenheit. So habe ich fOr einen Teil der Vorlesungen Vor
trage verwendet, die ich in den vergangenen lahren zu verschiede
nen Anlassen gehalten hatte. Manchmal habe ich auch auf
Materialien zuruckgegriffen, die schon in anderem Zusammen
hang zusammengestellt wurden, z. B. Materialien, die in die 2. Auf
lage des mit A. G. Motulsky verfaBten Lehrbuchs Human Genetics.
Problems and Approaches (Springer-Verlag 1986) eingearbeitet wur
den.
In den ietzten lahren hat die Humangenetik einen Umbruch
erlebt: Die neueingefOhrten Methoden der Molekularbiologie
VII
maehen das Genom des Mensehen der direkten Analyse zugang
lieh. Das fiihrt zu vielen neuen Erkenntnissen tiber seinen Aufbau
und seine Funktionsweise. Viele dieser Ergebnisse fanden schon
jetzt Eingang in die Praxis der medizinisehen Genetik: Gene, deren
Mutationen zu Krankheiten ftihren, wurden lokalisiert, und
Methoden der molekularen Analyse maehen es moglieh, diese
Krankheiten mit groBer Sieherheit auf DNA-Ebene zu diagnosti
zieren, noeh bevor der Phanotyp des betroffenen Individuums
erkennen laBt, ob es einmal erkranken wird. In einer zunehmenden
Zahl von Fallen wird die Diagnose schon in der fruhen Sehwan
gersehaft moglieh. Sieht man heute die ftihrenden humangeneti
sehen Faehzeitsehriften dureh, so ist das Bild ein anderes als noeh
vor 10, 20 oder 30 lahren: Die Mehrzahl der Arbeiten befaBt sieh
mit der Lokalisation und molekularen Struktur von Genen und mit
D N A-Polymorphismen. Formalgenetisehe, populationsgenetisehe
und zytogenetisehe Analysen, die yom Phanotyp ausgehen, treten
zuruek. Offenbar sind die Faehleute von den neuen Mogliehkeiten
fasziniert; sie sttirzen sieh auf diese Methoden; die alteren Themen
erseheinen abgetan. Sie bleiben am Rande der StraBe liegen. Diese
Entwieklung ist notwendig und zu begruBen: Dureh konzentrierte
Arbeit dringt man immer mehr in die Tiefe und fordert oft uner
wartete und wiehtige Ergebnisse zutage.
Das kann jedoeh aueh eine negative Folge haben: Der Problem
horizont konnte sieh mehr und mehr einengen. 1m Sehlepptau
unserer Methoden laufen wir Gefahr, den Ursprung und Antrieb
unseres Forsehens - namlieh mehr tiber den Mensehen zu erfahren
- aus den Augen zu verlieren. Wir aile sind Spezialisten auf klei
nen Teilgebieten geworden; nur dureh intensive Arbeit auf einem
klein en Spezialgebiet konnen wir den erforderliehen Standard an
Methodenbeherrsehung und Detailtibersieht aufreehterhalten. So
sind wir in Gefahr, bald den Wald vor Baumen nieht mehr zu
sehen.
Komplementar dazu ist vielfaeh die Reaktion in der Offentlieh
keit. Humangenetiker haben eine sehleehte Presse; angeblieh wol
len sie die Erbanlagen des Mensehen manipulieren, an mensehli
chen Embryonen forsehen, und bestenfalls beteiligen sie sieh an
der Genomanalyse einsehlief31ieh vorgeburtlieher Diagnostik mit
dem Ziel, die Familien mit "Qualitatskindem" zu begltieken. All
zuleieht vergiBt man, daB Humangenetik zu vielen anderen Proble
men etwas beizusteuem hat.
In diesen Vorlesungen habe ieh auch zu aktuellen Fragen Stel
lung genommen, zu der Genomstruktur, der Gentherapie, den ethi
sehen Problem en der vorgeburtliehen Diagnostik. Aber sie stehen
nieht so im Vordergrund, als ob es niehts anderes mehr gabe. Dar
tiber hinaus werden aueh Themen besproehen, die schon lange in
der Diskussion sind, die aber in den letzten lahren mehr an den
Rand gedrangt wurden - wie das Verhalten von Genen in Bevolke-
VIII
rungen; Mutation, Selektion und Evolutionsforschung; aber auch
die genetischen Grundlagen unseres Befindens und Verhaltens.
Die Humangenetik bietet heute faszinierende Probleme fiir Wis
senschaftler mit ganz verschiedener Vorbildung; vielfach, aber
durchaus nicht nur Molekularbiologen. Begreiflicherweise sind es
vorwiegend die Jungen, die von den sich neu eroffnenden Mog
lichkeiten angezogen werden. Dem Alteren, der Jahrzehnte der
Entwicklung aktiv miterlebt hat, geziemt es, von Zeit zu Zeit
Abstand zu gewinnen in der Hoffnung, daB es gerade ihm so bes
ser gelingen wird, einen groBeren Bereich zu iibersehen und den
Problemhorizont offenzuhalten. Dazu soll dieses Buch beitragen.
Auf dem Buchdeckel sieht man im Hintergrund einige japani
sche Schriftzeichen. Sie stammen von einem Stellschirm, den der
japanische Kalligraph Nukina Kaioko (1778-1863) beschrieben
hat; der Schirm gehort zur Sammlung von Heinz Gotze, dem lang
jahrigen Leiter und Mitinhaber des Springer-Verlags, mit dem ich
seit vielen Jahren als Autor und Zeitschriftenherausgeber vertrau
ensvoll zusammenarbeite. Dieser Text lautet auf Deutsch: "Wer
Einhalt kennt, ist nicht in Gefahr." Das ist eine Aufforderung zur
MaBigung; man soll ofter einmal einhalten, urn das, was man tut,
kritisch zu reflektieren. Wenn es zu gefahrlich ware, kann es besser
sein, auf bestimmten Wegen nicht weiterzugehen. Der Biologe und
Arzt, dessen Forschungsgegenstand der Mensch ist, tut gut daran,
sich an diesen Grundsatz zu halten.
Der Verfasser ist Herrn Prof. Czihak, Salzburg, und dem Oster
reichischen Erziehungsministerium dankbar fUr die Einladung in
diese schOne Stadt. Er dankt Edda Schalt fUr die bewahrte Besor
gung der Abbildungen, Evelyn O'Connell fUr das Schreiben des
Manuskripts und vor aHem wieder einmal dem Springer-Verlag fUr
die bereitwillige Ubemahme und die Publikation.
Heidelberg, im Friihjahr 1989 Friedrich Vogel
IX
Inhaltsverzeichnis
1 Humangenetik als Wissenschaft - Wissenschaft zwischen
Betrachten und Handeln . 1
2 Das Genom des Menschen 14
3 Humangenetik und Theorie der Krankheit 31
4 Arteriosklerose und koronare Herzerkrankung als
Beispiele "multifaktoriell" bedingter Erkrankungen 49
5 "Spontane" Mutationen in menschlichen Keimzellen 63
6 Genetische Risiken fUr den Menschen
durch ionisierende Strahlen . . . . . . . . ..... 80
7 Genetische Beratung und pranatale Diagnostik:
ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . 98
8 Gentherapie und "Genmanipulation" . 115
9 Humangenetische Aspekte der Evolutionsgenetik 128
10 Forschungsstrategien der Verhaltensgenetik des Menschen-
dargestellt am Beispiel der Alkoholsucht . . . 148
11 Vererbung und Intelligenz. . . . . . . . . . .. 164
12 Die biologische Zukunft der Menschheit aus der Sicht der
Humangenetik . . 180
13 Sachverzeichnis . 199
XI
1 Humangenetik als Wissenschaft - Wissenschaft
zwischen Betrachten und Handeln
In dieser Vorlesungsreihe befassen wir uns mit Problemen der Humangenetik. Die
Humangenetik ist eine Wissenschaft. Allerdings versteht sie sich - und zwar von
Anfang an - keineswegs nur als Wissenschaft. Sie mochte immer auch ein StUck
Lebenspraxis sein - praktische Tatigkeit zum Wohle des Menschen. Dieser Dop
pelaspekt hat sie fUr zahlreiche ttichtige Menschen so anziehend gemacht; denn
fUr viele von uns ist es unbefriedigend, unser Leben nur als Betrachter und Analy
tiker zuzubringen; wir wollen auch etwas bewirken. Dieser Doppelaspekt hatte
aber auch zur Folge, daB Humangenetiker nicht nur als Privatpersonen, sondem
gerade als Wissenschaftler und Anwender wissenschaftlicher Erkenntnisse in die
groBen Irrtiimer unseres lahrhunderts schuldhaft verstrickt wurden. "Der Betrach
tende kann rein bleiben, der Handelnde muB schuldig werden." Wir werden auch
diesen Aspekt besprechen mtissen - nicht allerdings, urn tiber vergangene Schuld
unserer wissenschaftlichen Vater und GroBvater zu urteilen, die auch als Wissen
schaftler Kinder ihrer Zeit waren, wie wir Kinder unserer Zeit sind. Sondem uns
wird die Frage beschaftigen, wo fUr uns Heutige die Gefahren liegen, in Schuld
verstrickt zu werden.
Zunachst aber wollen wir die Humangenetik unabhangig von den Problemen
der Anwendung als Wissenschaft betrachten. Sie ist ein Teilgebiet der Genetik,
also der Wissenschaften, die sich mit den GesetzmaBigkeiten der Vererbung befas
sen.
Von anderen Gebieten der Genetik unterscheidet sie sich dadurch - man sollte
vielleicht besser sagen, aus ihnen hebt sie sich dadurch heraus -, daB ihr Gegen
stand der Mensch ist. Darin besteht ihre besondere Faszination, aber auch ihre
Gefahrdung.
Wissenschaft ist der systematische Versuch, einen bestimmten Bereich der uns
begegnenden Wirklichkeit besser zu verstehen. Die Theorie und Geschichte der
Wissenschaft lehrt uns zu erkennen, wie im einzelnen das geschieht (vgl. Kuhn
1962). Oft gibt es zunachst eine Phase, wahrend derer bestimmte Phanomene den
Menschen auffallen, ohne daB sie dafUr eine Erklarung wiiBten. Zwar hat man das
GefUhl - oder man sieht sogar -, daB eine bestimmte Ordnung waltet; die Natur
dieser Ordnung bleibt jedoch verborgen. Einzelne RegelmaBigkeiten werden
erkannt; die ihnen zugrunde liegenden, allgemeinen GesetzmaBigkeiten dagegen
konnen allenfalls vermutet werden; verschiedene, und oft einander widerspre
chende Vermutungen stehen nebeneinander. Es gibt Bereiche, in denen diese, wie
man geme sagt, vorwissenschaftliche Phase nie so recht tiberwunden wurde, und
wo man manchmal zweifelt, ob diese Oberwindung jemals gelingen wird. Das gilt
z. B. fUr manche Sozialwissenschaften.
1
In den "harteren" Wissenschaften dagegen, zu denen auch die Biologie gehort,
wird friiher oder spater ein "Paradigma" auftreten; ein bestimmter, analytischer
Ansatz wird dazu fUhren, daB der Anfang einer wissenschaftlichen Theorie ent
steht, aus dem sich dann - in Wechselwirkung zwischen Theorie und Beobachtung
oder Experiment - eine reife Wissenschaft entwickeln kann.1
Die Theorie der Genetik wurde begriindet durch Mendels Erbsenexperimente
und ihre Interpretation, die er am 8. Februar 1865 in einem Vortrag vor dem
Naturforschenden Verein zu Briinn vortrug. Warum gerade dieser Ansatz die
Moglichkeiten einer sehr guten Theorie in sich beschloB, das wird uns spater noch
beschaftigen; zunachst sollen Sie mir fUr einen Exkurs in die Geschichte folgen,
der uns zeigen wird, wie die Genetik - und speziell auch die Humangenetik -
geeignet ist, Briicken zu den Wissenschaften zu schlagen, die urspriinglich ganz
verschiedene Ausgangspunkte hatten.
Humangenetik als Bruckenwissenschaft
Vor vielen Jahren hielt mein Lehrer, Hans Nachtsheim, einer der fUhrenden deut
schen Genetiker in der ersten Halfte dieses Jahrhunderts, einen Vortrag unter dem
Titel "Genetik als Briickenwissenschaft". In diesem Vortrag beschrieb er auch
einen intemationalen KongreB, den die Royal Horticultural Society im Jahre 1906
in London abhielt. Das Thema war Pflanzenzucht und Hybridisierung. In friihe
ren Konferenzen dieser Gesellschaft waren herrliche Orchideen und Nelken
demonstriert worden. Dieses Mal ging es urn wesentlich weniger schon ausse
hende Pflanzen, dafUr war aber auch von Mausen und Kaninchen und Hiihnem
die Rede. KUTZ zuvor, im Jahre 1900, waren namlich die Mendelschen Gesetze
wiederentdeckt worden; sie boten zum ersten Male einen Ausgangspunkt fUr die
Erforschung der Mechanismen, durch die sich Eigenschaften vererben. Dadurch
wurde ein Paradigma im Kuhnschen Sinne begriindet. Wie man damals aber
schon erkannt hatte, sind diese Mechanismen bei Tieren und Pflanzen im Prinzip
die gleichen; die altehrwiirdige Unterscheidung zwischen Zoologie und Botanik
galt also nicht fUr die Genetik, wie diese neue Wissenschaft nun genannt wurde.
Unter dem EinfluB der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze kam es
noch zu einer weiteren Wissenschaftsfusion: Die Genetik verband sich mit Zell
forschung zur Zytogenetik. Die Zellen waren schon zu Anfang des 19.Jahrhun
derts als Grundelemente im Aufbau der Lebewesen erkannt worden (vgl. Cremer
1986). Man beschrieb sie; ihr merkwurdiges Verhalten wahrend der Zell- und
Kemteilung im somatischen Gewebe wie in Keimzellen war genau bekannt; und
vorausschauende Beobachter vermuteten schon langst, daB die komplizierten
Bewegungen merkwurdiger Strukturen, die man Chromosomen nannte, etwas mit
Der Autor bekennt sich also hier - wie an anderer Stelle - als Anhanger der Auffassung
1
von T. Kuhn (1962) tiber das Entstehen und die Entwick:lung von Wissenschaft. Allerdings
versteht er Kuhn so, wie er durch Stegmtiller (1986) "transkribiert" worden ist, also nicht
im Sinne der haufig vorgefundenen subjektivistischen Interpretation, als ob in der Wissen
schaft letztlich alles Willkiir und Konvention ware.
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