Table Of ContentOtto-von-Freising-Vorlesungen
der Katholischen Universität Eichstätt
Herausgegeben von der
Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen
Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt
Band 20
Leske + Budrich, Opladen 2001
Walter Hartinger
Hinterm Spinnrad
oder auf dem
Besen?
Frauen im deutschen Märchen
und Hexenglauben
Leske + Budrich, Opladen 2001
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier
ISBN 978-3-8100-3142-6 ISBN 978-3-322-94957-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-94957-8
© 200 1 Katholische Universität Eichstätt
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schen Systemen.
Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München
Satz: Katholische Universität Eichstätt, Johanna Pfahler
Gesamtherstellung: Kräck + Demler, Eichstätt
Vorwort
In gedanklicher Verbindung zur Vorlesung des Wintersemesters
200012001 "Heimchen am Herd oder neue Hexe. Frauenkultur gestern
und heute", die ich im Rahmen der Otto-von-Freising-Gastprofessur
an der Katholischen Universität in Eichstätt halten durfte, standen
diese beiden öffentlichen Vorträge. Sie wurden für die Druckfassung
etwas erweitert und mit Anmerkungen versehen. Im Umfeld von
Vorlesung und Vorträgen erhielt ich mancherlei ermunternde Rückäu
ßerungen von Kollegen, Hörerinnen und Hörern, wofür ich mich
herzlich bedanke. Mein Dank gilt vor allem der Geschichts- und Ge
seIlschaftswissenschaftlichen Fakultät mit Dekan Prof. Dr. Rainer
Müller und dem Volkskunde-Kollegen Prof. Dr. Walter Pötzl für die
Einladung und die freundschaftliche Betreuung während des Eich
stätter Semesters.
Die Frauenforschung erlebt seit etwas mehr als 20 Jahren ein erfreuli
ches Wachstum, auch innerhalb von Volkskunde und Kulturge
schichte. Gelegentliche Aufgeregtheiten der Anfangsjahre gegenüber
einer Beteiligung der Männer sind gottlob mittlerweile wieder abge
klungen. Freilich gibt es noch genügend offene Fragen. Hoffen wir,
daß durch kontinuierliche Forschungs- und Erkenntnisbemühungen
von Frauen und Männern das Verständnis und die Zusammenarbeit
der Geschlechter in Univeristät und Gesellschaft fortschreiten!
Passau, im Februar 2001 Walter Hartinger
Inhaltsverzeichnis
Seite
vorwort .............................................................................................. VII
Inhaltsverzeichnis ............................................................................... IX
I. Märchen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das Beispiel
Rumpelstilzchen .............................................................................. 1
11. Von alten und neuen Hexen. Hexenglaube und Hexenverfolgung
in Vergangenheit und Gegenwart .................................................. 33
Historische Hexenprozesse ............................................................ 36
Hexenhammer (Malleus maleficarum, 1487) ............................... .43
Verlauf der Hexenprozesse ........................................................... .48
Gegner der Hexenprozesse ............................................................ 57
I.
Märchen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Das Beispiel Rumpelstilzchen
Sammlung und Erforschung der Märchen sind in Deutschland vor
allem verbunden mit den Namen Jacob und Wilhelm Grimm. Sie
haben im Jahr 1812 den ersten Band der Kinder- und Hausmärchen
herausgebracht; es war dies das erstemal, dass solche Erzählungen
ohne große künstlerische Bearbeitung auf den Buchmarkt kamen.
Wenige Jahre vorher waren aus der Feder von Christoph Martin Wie
land und Johann Karl-August Musäus umfangreiche und kunstvolle
Märchen-Nachdichtun-gen erschienen. Warum sich die beiden
Grimm's an ihre jahrzehntelange Sammler- und Editorentätigkeit
machten, das haben sie im Vorwort ausgesprochen:
Der Grund für unsere Sammlung ist es, dass wir "nicht bloß der Ge
schichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten,
sondern es war zugleich unsere Absicht, dass die Poesie selbst, die
darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also
auch, dass es als Erziehungsbuch diene". (Vorrede von 1819; Brüder
Grimm, Werke in 3 Bdn, neu bearbeitet von Gisela Spiekenkötter,
Zürich 1974, Bd. 1, 12).
Die Grimm's verfolgten also ein dreifaches Ziel: Das erste war
Dienst an der Poesie. Wie viele andere - Hamann, Herder, Bürger,
Gleim, der junge Goethe - empfanden sie den Kunstbetrieb ihrer Zeit
als kraftlos, degeneriert, gekünstelt, ohne Ideen. Darum wollte man
neue Vorbilder geben. In einer Zeit, die erfüllt war von der Forderung
Rousseau's "Zurück zur Natur!", schienen diese Vorbilder am besten
genommen werden zu können von Bevölkerungsschichten, denen man
ein besonders inniges Verhältnis zu dieser Natur unterstellte, von
Bauern, Jägern, Hirten, Fischern. In ihren Liedern, Tänzen und Er-
2 Märchen
zählungen glaubte man unverdorbene, ursprüngliche, poetische Schaf
fenskraft zu erkennen, die auch dem zeitgenössischen Kunstbetrieb
den rechten Weg weisen könne. I Die Grimm's sprachen von "echter
Naturpoesie ... unmittelbar entsprungen aus der Volksseele" - "vom
nie stillstehenden Fluss der Sage,,2 und davon, dass "das Volkslied
sich selbst dichtet und als Blüte unmittelbar aus der Tat hervor
springt." Es herrschte also die Vorstellung einer Art pflanzenhaften
Wachstums der volkstümlichen Erzählstoffe.
Zweites Ziel der Brüder Grimm war Dienst an der Geschichte der
Mythologie. In der Wendung vom "nie stillstehenden Fluss der Sage"
drückt sich bereits ihre Überzeugung aus, dass die von ihnen gesam
melten Erzählungen Teile einer die Jahrhunderte überdauernden
Überlieferung seien, dass sie zurückverweisen auf vergangene Kultur
zustände, deren Erinnerung nur das Volk, nicht die Gelehrtenwelt
bewahrt habe. Oder in den Worten der Grimm: "Gemeinsam allen
Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden
Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge
ausspricht. Das Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprun
genen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen überwachsenen
Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge
entdeckt werden." D.h. Märchen sind ein Stück Glaubenswirklichkeit
der Vergangenheit.
Was hier vom Märchen gesagt wird, gilt analog auch für andere Be
reiche, etwa für Lieder, Sagen, Sprüche und Rätsel, aber auch für
Bräuche und Rechtsvorstellungen. Letztlich sind sie alle Ausflüsse
einer umfassenden indogermanischen Mythologie. Das Märchen von
Dornröschen beispielsweise sei nichts anderes als die mythologische
Erzählung von Brunhilde, welche von ihrem göttlichen Vater Odin
hinter die Waberlohe verbannt wurde, bis der siegreiche Held sie
Hennann Bausinger, Fonnen der "Volkspoesie", 2. Aufl. Berlin 1968, 11-30.
2 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, 3 Bde, 4. Aufl. 1835 (Nachdruck Graz 1953),
Bd. I, S. IX.
zwischen Fiktion und Wirklichkeit 3
befreite. "Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksstamm,
den man den indogermanischen zu nennen pflegt, und die Verwandt
schaft zieht sich in immer engeren Ringen um die Wohnsitze der
Deutschen. "
Die dritte Absicht der Brüder Grimm bei der Herausgabe der Kin
der- und Hausmärchen zielt auf pädagogische Wirkung. Durch Hören
oder Lesen der Märchen soll die Phantasie der Kinder angeregt wer
den; die kraftvolle, unverdorbene Poesie soll ihre ästhetische Emp
findsamkeit stärken, sie aufnahmebereit machen für alles Gute, Wahre
und Schöne. Darum haben sie vorsorglich auch alles getilgt, was an
Worten, Gebärden oder Handlungen dem lesekundigen akademischen
Bürgertum ihrer Zeit als anstößig hätte gelten können. Namentlich
Wilhelm Grimm hat - wie wir heute wissen - die Aufzeichnungen aus
dem Mund der Gewährspersonen kräftig umgearbeitet.
Pädagogische Wirklichkeit, mythologisches Relikt und poetische
Schöpfung, das sind die drei Marschrichtungen, auf denen die Brüder
Grimm in das Dickicht der Märchenüberlieferung hineinmarschierten.
Erstaunlicherweise sind ihnen Generationen von Forschern auf diesem
Weg gefolgt bis zur Gegenwart. Nach wie vor erfährt die Gesamtheit
der Märchen und erfahren einzelne Märchen eine Deutung in den drei
Richtungen; das Märchen erweist sich als eine Textsorte zwischen
Realität und Poesie. Den einen gilt es als Abbild einer vergangenen
oder aber zeitlos gegenwärtigen Realität, den anderen als praktikables
Mittel zur Erzeugung einer wünschbaren zukünftigen Realität in der
Erziehung und wieder anderen als Ausdruck völlig wirklichkeitsgelö
ster menschlicher sprachlicher Schöpfungskraft. Diesen erstaunlichen
Befund möchte ich Ihnen am Beispiel des Rumpelstilzchen-Märchens
verdeutlichen (KHM Nr. 55).3
3 Lutz Röhrich, Rumpelstilzchen. Vom Methodenpluralismus in der Erzählforschung,
in: Festschrift für Robert Wildhaber zum 70. Geburtstag am 3. August 1972, hg.
von Walter Escher, Theo Gantner und Hans Trümpy, Basel 1973.567-596. Zum
Grundsätzlichen vgl. Felix Karlinger, Hg .. Wege der Märchenforschung, Darmstadt
1973. Felix Karlinger. Grundzüge einer Geschichte des Märchens im deutschen
4 Märchen
Dieses Märchen ist nahezu bei allen europäischen Völkern bekannt
von der Normandie bis zum Ural und von Lappland bis zur Pelopon
nes. Ich deute das Handlungsgerüst nur ganz grob an: Ein Mann be
hauptet dem König gegenüber, seine Tochter könne Stroh zu Gold
verspinnen; dieser nimmt das Mädchen mit und stellt es auf die Probe.
Es wird in eine Kammer mit Stroh gesperrt und muss dieses bis zum
nächsten Morgen zu Gold verspinnen oder sterben. Ein überirdischer
Helfer in Gestalt eines kleinen Männchens springt dem verzweifelten
Mädchen gegen ein kleines Geschenk bei. Das Ganze wiederholt sich
noch zweimal. In der - letzten Nacht spinnt das arme Mädchen nicht
mehr um sein Leben, sondern um die Hand des Königs, es muss aber
nun dem hilfreichen Zwerg ihr erstes Kind zum Lohn versprechen. -
Es folgen Heirat mit dem König und Niederkunft der Königin. Gleich
nach der Geburt stellt sich der einstige Helfer ein und verlangt seinen
Lohn. Auf das Klagen der Königin erklärt er sich zum Verzicht bereit,
wenn diese seinen Namen erraten könne. Durch glückliche Umstände
erfährt jene den Namen - Königin und Kind sind gerettet.
Bei der ungeheuer breiten Streuung über ganz Europa hin verwun
dert es natürlich nicht, dass eine Fülle von Variationen auftritt. So
beginnt die Geschichte vielfach damit, dass Mann oder Frau die faule
Tochter schlagen, weil sie wieder einmal die zugeteilte Menge Flachs
nicht versponnen habe. Der vorbeifahrende König hört das Geschrei
und bekommt zur Erklärung, dass das Mädchen schon wieder den
gesamten Flachs versponnen habe; daraufhin muss es dann im Kö
nigspalast große Mengen Flachs verarbeiten, jedoch nicht zu Gold.
Auch beim Erraten des Namens werden viele Möglichkeiten ange
boten: Der Bogen reicht von kriminalistischen Nachforschungen bis
zu Traumoffen-barungen und zufälligen Beobachtungen des Königs,
Sprachraum, Darmstadt 1983. Therese Posser, Das Volksmärchen. Theorie - Ana
lyse - Didaktik, München 1980.
zwischen Fiktion und Wirklichkeit 5
die dieser ahnungslos weitererzählt. Oft muss die Königin den Namen
gar nicht erraten, sondern ihn bis zur Geburt ihres ersten Kindes im
Gedächtnis behalten.
Auch der Schluss ist relativ unfest: Das Männchen verschwindet
sang- und klanglos, reißt sich entzwei, fliegt auf einem Kochlöffel
zum Fenster hinaus usf.
Größte Vielfalt herrscht bei den Namen des überirdischen Helfers:
Rumpelstilzchen, Rumpentrumpet, Titeliture, Tom Tit Tot, Purzi
nigele, Panzi Manzi, Doppeltürk, Friemel Frumpenstiel, Zistel im
Körbel, Waldkügele, Hahnenkickerle, Winterkölbl, Hopfenhütl, Kru
zimugeli, Springhunderl, Ziligackerl, Popemanni, Horlewip, Hopfen
tinchen, Ricdin Ricdon, Furti Furton, Racapet Robiquet.
Die Begründer der sog. Finnischen Märchenschule, earl Wilhelm
von Sydow4 und Antti Aarne' haben auch das Rumpelstilzchen
Märchen behandelt und dabei festgestellt, dass fließende Übergänge
zu anderen Märchen bestehen, vor allem zu jenem von den drei Spin
nerinnen. Dort helfen drei hässliche Frauen einem armen Mädchen
aus der Patsche, das ebenfalls mit einer übermenschlichen Anforde
rung im Spinnen konfrontiert ist.
Aufgrund der Kenntnisse, die den Brüdern Grimm noch nicht zur
Verfügung standen, aufgrund der Beobachtung, dass viele Märchen
über ganz Europa, über verschiedene Sprachen hinweg, teilweise über
die ganze Erde hin verbreitet sind, hat man die Grimm'sche These
einer ausschließlichen Herleitung von der germanischen Mythologie
fallengelassen. Nicht jedoch hat man die Suche nach der historischen
Verankerung aufgegeben. Nach wie vor herrscht bei einem Teil der
Märchenforscher die Überzeugung, dass sich kulturhistorische Zu-
4 earl Wilhelm von Sydow, Tva Spinnsagor, Lund 1909.
5 Antti Aarne und Stith Thompson, The types of folktale, Helsinki 31961; Kaarle
Krohn, Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung, Helsinki 1931, 102-
106.