Table Of ContentArchiv für Rechts- und Sozialphilosophie – Beihefte 150
Franz Steiner Verlag Sonderdruck aus:
Markus Abraham / Till Zimmermann /
Sabrina Zucca-Soest (Hg.)
Vorbedingungen des Rechts
Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR)
in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und
Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau
und im April 2015 in Hamburg
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016
InhaltsverzeIchnIs
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I . Bedürfnisse und Befähigungen im Recht
MarkusAbraham/TillZimmermann
Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Lutz Eidam, Frankfurt am Main
Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont
eines Naturrechts
Zum Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus am Beispiel
der Radbruch-Hart-Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Frieder Vogelmann, Bremen
Das deliberative Bedürfnis
Zur menschlichen Natur der Diskurstheorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Michael Goldhammer, Bayreuth
Repräsentation und Konflikt
Hanna F . Pitkins Beitrag zu einer freiheitlichen Theorie mittelbarer
Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Markus Bitterl, Wien
Eigenheiten institutioneller Anerkennung
Zur Bedeutung von Institutionen als Medium der Anerkennung . . . . . . . . . . 59
Paula Maria Nasser Cury, Heidelberg
Personwerden: Rechtsphilosophische Skizzen zur Rolle
der „Natur des Menschen“ in der Konstruktion der Subjektivität . . . . . . . . . . 69
Dorothea Magnus, Hamburg
Rechtsphilosophische Grundlegung der Patientenautonomie
im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
II . Individuum – Recht – Institution
Sabrina Zucca-Soest
Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Péter Sólyom, Debrecen
Zwischen Rechtstechnik und Rechtspolitik
Bemerkungen zu der Verfassungstheorie von Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6 Inhaltsverzeichnis
Dona Barirani, Utrecht
Legitimitätsquellen im globalen Regieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Andrej Lang, Halle an der Saale
Legitimität der Verfassung und historischer Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Elias Moser, Bern
Unveräußerliche Rechte und objektive Werte
Erläuterungen zum Begriff, zur moralischen Dimension und
zur Problematik der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
André Ferreira Leite de Paula, Frankfurt am Main
Herausforderungen rechtlicher Begründungstätigkeit unter
den Bedingungen skeptischer Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Michael Hackl, Wien/Berlin
Die Rechte der „natürlichen Mitwelt“ und die „Sphären der Freiheit“ .
Eine metaphysische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Moritz Hagemann, Frankfurt am Main
Die Zweideutigkeit des Naturrechts und das Recht auf Eigentum . . . . . . . . . . 183
Thomas Wischmeyer, Freiburg im Breisgau
Sehnsucht nach Einheit?
Der Schutz kollektiver Identitäten als Entwicklungsauftrag im nationalen
und europäischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Philipp Gisbertz, Göttingen
Stabilität durch gerechte Institutionen
Eine rawlsianische Antwort auf das Böckenförde-Diktum . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Benjamin Rusteberg, Freiburg im Breisgau
Normative Selbstvergewisserung der liberalen Gesellschaft durch
symbolische Gesetzgebung
– Ein Widerspruch am Beispiel des Burka-Verbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
andré Ferreira leiTe de paula, FrankFurT aM Main
herausforderungen rechtlIcher BegründungstätIgkeIt unter
den BedIngungen skeptIscher epIstemologIe*
I. eInleItung
Der vorliegende Beitrag ist ein Entwurf einer metatheoretischen Diagnose der aktu-
ellen Lage der Epistemologie juristischen Begründens . Betrachtet man Schriften zur
Methodenlehre und insbesondere zur Kritik am klassischen Anwendungsparadigma,
stößt man unvermeidlich auf einige Strukturen des gegenwärtigen Rechtsdenkens,
deren gegenseitige Vereinbarkeit höchst problematisch erscheint . Damit gemeint
sind Ambivalenzen zwischen Rechtsanwendung und Rechtserzeugung, zwischen
klassischer Methodenlehre und der neuen konstruktivistischen Epistemologie, allge-
meiner, zwischen Kontinuität und Diskontinuität rechtlicher Normativität . Ich be-
ginne mit einer kurzen Darstellung einer sich etablierenden skeptischen Epistemo-
logie im Recht, mache eine Gegenüberstellung mit der immer noch herrschenden
klassischen Methodenlehre und gehe anschließend auf ausgewählte Probleme ein,
die sich aus konstruktivistischen, hermeneutischen und pragmatischen Annahmen
für die rechtliche normative Begründungstätigkeit ergeben .
II. amBIvalenzen von kognItIvIstIscher und konstruktIvIstIscher
epIstemologIe rechtlIchen Begründens
Die Methodenlehre der Rechtswissenschaft erfährt seit einigen Jahrzehnten einen
Wandel durch Einführung einer neuen Art von Epistemologie . Es sind meist konst-
ruktivistische Konzeptionen, die Herstellungsprozesse rechtlicher Inhalte vor allem
im Rahmen richterlicher Entscheidung in den Vordergrund stellen . Diese neue Epi-
stemologie,dieRechtsschöpfungvorRechtsanwendungbegreift,begegneteinerseit
jeher etablierten Methodenlehre, die Rechtsanwendung als „Nachvollzug eines be-
reits Vorvollzogenen“1 versteht, in deren Rahmen Recht eine vorzufindende Gege-
benheit ist, die es anzuwenden gilt . Nun stellt sich das Problem der gegenseitigen
Vereinbarkeit beider Rechtskonzeptionen . Wenn konstruktivistische Konzeptionen
aufgrund ihres erhöhten Beschreibungspotenzials zumindest eine prima faciePlau-
sibilität aufweisen, entfälltprima facie notwendigerweisezumTeil auchdas Rechtals
eine Vorgegebenheit, sei es ontologisch, sei es als bloße Denkform .2 Die Vereinbar-
keit beider Lager ist eine Herausforderung für die juristische Begründungstätigkeit .
* Ich danke dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem Nationalrat für
wissenschaftliche und technologische Entwicklung (CNPq) für die ideelle und finanzielle Un-
terstützung .
1 Friedrich Müller,Juristische Methodik, 1995, 153 .
2 Zur Denkform des Vorgegebenen in der juristischen Argumentation siehe Ulfrid Neumann,
Rechtsontologie und juristische Argumentation. Zu den ontologischen Implikationen juristischen Argumen-
tierens, 1979 .
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Für die Erforschung dieses Verhältnisses lohnt sich ein Blick auf die Problema-
tik, die sich aus der Begegnung konstruktivistischer Epistemologie mit der klassi-
schen Methodenlehre ergibt . Dies kann zunächst anhand gut bekannter Literatur
zur Methodenlehre veranschaulicht werden . Larenz’ Lehrbuch Methodenlehre der
Rechtswissenschaft samt sukzessiver Neuauflagen weist Züge einer Übergangsphase
vom Anwendungsparadigma hin zur Aufnahme subsumtionskritischer Motive auf .
Sein Werk befindet sich zwar vorwiegend im Anwendungsparadigma; Larenz rezi-
piert aber auch diverse epistemologische Motive, die im Gegensatz stehen zu einer
Entscheidungspraxis des „Nachvollzugs eines bereits Vorvollzogenen“ . Im Kapitel
„Auslegung der Gesetze“ zum Beispiel diskutiert er die klassischen Kategorien der
Methodenlehre (Auslegungskriterien, Wille des Gesetzes, Wille des Gesetzgebers,
u .a .) mit ausführlichen Erläuterungen und Beispielen .3 Im Laufe aufeinanderfol-
gender Neubearbeitungensind Hermeneutik und etliche Subsumtionskritische An-
sätze hinzugefügt worden .4 Demgemäß werden in der Überschrift „Die Auslegung
mitbestimmende Faktoren“5 sämtliche Aspekte juristischen Entscheidens themati-
siert, die eine skeptische Haltung gegenüber methodischen Ansprüchen darstellen,
nämlich das Judiz (das juristische professionelle Vorurteil), das Rechtsgefühl (Isay),
das Vorverständnis des Richters (Esser) u .a . Dabei ist nicht ersichtlich, inwiefern
solche Motive, die als erhebliche Einschränkungen der in den vorigen Kapiteln vor-
geschlagenen Kriterien verstanden werden können, in Verbindung mit dem Anwen-
dungsmodell der klassischen Methodenlehre gebracht werden könnten . Ausdrückli-
che Bemühungen in diesem Sinne finden in der Form ambivalenter Formulierun-
gen statt wie „Lückenergänzung als Leistung schöpferischer Erkenntnis“;6 „So ist
ein Rechtssatz, der erst gefunden werden soll, noch nicht existent“; „Für das Be-
wusstsein deseinigen, der ihn [Akt schöpferischer Erkenntnis] vornimmt, bleibt er
ein Erkenntnisakt, ist er kein Willensakt .“7
Am deutlichsten können Ambivalenzen zwischen Rechtsschöpfung und Rechts-
anwendung in der strukturierenden Rechtslehre F . Müllers, R . Christensens u .a .
beobachtet werden .8 In ihr wird das Subsumtionsparadigma vor allem sprachthe-
oretisch unterminiert . Die strukturierende Rechtslehre will den Gesetzespositivis-
mus verabschieden und plädiert für die Anerkennung der Tatsache, dass Normen
erst bei der Entscheidung im Zuge eines aktiven Semantisierungsvorganges herge-
stellt werden .9 Rechtsnormen werden also durch den „Rechtsarbeiter“ nicht subsu-
miert, sondern konkretisiert . Konkretisierung bedeutet demnach „Arbeitsvorgänge“
aufdemFeldvon„EntscheidungstechnikundZurechnungstechnik unterdemrecht-
fertigenden Anspruch der Bindung an das positive Recht .“10 Die Rechtsnorm, die
den konkreten Fall letztlich entscheidet, die „Entscheidungsnorm“, entsteht also
3 Karl Larenz,Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2 . Aufl . 1969, 291ff .
4 Vgl . 2 .Aufl . (Fn . 3)mit der6 . Aufl .derMethodenlehreder Rechtswissenschaft (Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, 6 . neubearb . Aufl . 1991) .
5 Larenz, 6 . Aufl ., (Fn . 4) 348ff .
6 AaO ., 402 .
7 AaO ., 403 .
8 FriedrichMüller/RalphChristensen,Juristische Methodik, Bd . I, 2004 .
9 AaO ., Rn . 215, 256 .
10 AaO ., Rn . 275 .
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Herausforderungen rechtlicher Begründungstätigkeit 157
erst im Moment der Entscheidung . Es ist nach Müller am angebrachtesten, „von der
traditionellenlex ante casum Abschied zu nehmen .“11
Die strukturierende Rechtslehre erhebt keineswegs Anspruch auf bloße Be-
schreibung rechtlichen Denkens, die einer Beobachterperspektive beziehungsweise
externen Perspektive verhaftet bliebe, sondern sie enthält ein ausdrückliches rechts-
politisches Programm . Als Theorie will sie zwar zeigen, was „unausweichlich
geschieht“;12 als rechtspolitisches Unterfangen will sie aber durchaus normative
Vorschläge an die Praxis abgeben, indem sie Aufklärung liefert, wie das Sein bezie-
hungsweise den Normbereich besser zu erfassen sind .13 Sie will das real Erreichbare
an Rationalität erkennen, um eine Chance von Demokratie aufrecht zu erhalten .14
IhrSchwerpunkt liegt inder Öffnung juristischerMethodikundmateriellrechtlicher
Erwägungen auf den Normbereich, indem eine größere Autonomie des Rechts ge-
genüber Moralphilosophie, Wissenschaftstheorie und anderen Geisteswissenschaf-
ten erstrebt wird .15
Wie es bei Larenz der Fall ist, ist auch an der strukturierenden Rechtslehre
schwer nachvollziehbar, ob und inwiefern die angenommenen konstruktivistischen
Voraussetzungen eines (sprachphilosophisch gefassten) radikalen Regelskeptizismus
sich gegenüber derennormativen Festlegungen selbst verhalten . Denn erstens bleibt
der Rechtsarbeiter ihr zufolge trotz ständigen Semantisierungsvorganges an die po-
litischen Ziele des Gesetzgebers gekoppelt .16 Zweitens müssen die durch den Rich-
ter hergestellten Normen den durch den Gesetzgeber vorgebrachten Texten zure-
chenbar bleiben .17 Drittens bereitet der Wortlaut die Formulierung des Normpro-
gramms vor und deutet den Normbereich an .18 Viertens gibt es eine äußere Grenze
möglicher Konkretisierung, nämlich die Grenze zulässiger legitimer Konkretisie-
rungsergebnisse .19 Auf den Punkt gebracht: Es besteht einerseits keine semantische
Bindung durch eine vorformulierte Norm; es besteht andererseits doch die Möglich-
keit der korrekten Zurechenbarkeit einer nachträglich formulierten Norm im Bezug
auf den Normtext . Der Widerspruch ist latent . Trotz der radikalen Skepsis hinsicht-
lich der Regelbindung hält die strukturierende Rechtslehre an mehreren Formen der
Bindung durch Text und weist somit letztlich ein erstaunlich „konventionelles Er-
gebnis“ auf .20
11 Friedrich Müller,Syntagma.VerfasstesRecht, verfasste Gesellschaft,verfasste Spracheim Horizontvon
Zeit, 2012, 37 .
12 Müller/Christensen (Fn . 8), Rn . 537 .
13 AaO ., Rn . 537f .
14 AaO ., Rn . 547 .
15 AaO ., Rn . 137 .
16 AaO ., Rn . 626 .
17 AaO .
18 AaO ., Rn . 162, 546 .
19 AaO ., Rn . 516 .
20 Vgl . Klaus F . Röhl/Hans C . Röhl, Allgemeine Rechtslehre. Ein Lehrbuch, 2008, 609 . Überein-
stimmend auch K .-H . Ladeur, demzufolge ist die Verlagerung der Möglichkeit der Befolgung
des Willens des Gesetzgebers von der Normsemantik auf die Rechtsarbeit des Richters eine
„Verschiebung von Problemen“ – vgl . Karl-Heinz Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Metho-
dendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels . Zugleich ein Beitrag zur
Bedeutung der ökonomischen Analyse des Rechts, RabelsZ, Bd . 64 (2000), 72 . Klatt identifi-
ziert in der Strukturierenden Rechtslehre Selbstwiderlegungs- und Zirkularitätsprobleme aus
sprachtheoretischer Sicht: „It is not feasible to rely on the result of the conflict between several
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158 André Ferreira Leite de Paula
Die hier nur exemplarisch genannten Ambivalenzen zwischen Rechtsanwen-
dung und Rechtserzeugung, zwischen Kognition und Konstruktion des Rechts im
Moment der Entscheidung, können anhand vieler anderer Ansätze veranschaulicht
werden . Viehwegs Topik etwa, jenesinventives Verfahren der Prämissenfindung und
Problemerörterung, will keineswegs den Verzicht auf Bindungen bedeuten .21 Bei
der Interpretation geht es ihr vielmehr um „neue Verständnismöglichkeiten zu er-
schließen, ohne die alten zu verletzen“ .22 In der postmodernen Rechtssoziologie
K .-H . Ladeurs heißt Rechtsverstehen nicht mehr der Nachvollzug des Willens des
Gesetzgebers; die der Norm zugrundegelegte Bedeutung entsteht immer erst nach-
träglich .23 Zugleich gilt jedoch, dass Rechtstexte deren eigene Lektüre durch Festle-
gungvonSemantiken, durchKanonisierungvonLesarten,durchRegelnundOrien-
tierungen anbestimmtenZweckenbegrenzenundsteuern .24Inderumfangreichen
Studie über die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht
von K .I . Lee werden durchgängig auch zweierlei Ergebnisse festgehalten: zum Einen
liefert der Gesetzestext keinen konkreten Inhalt, aus dem Rechtsnormen gewonnen
werden könnten; zum Anderen wird an einer „eingeschränkten Aktivierbarkeit des
Sinnes des Gesetzestextes“ festgehalten .25
Die offensichtlichen Ambivalenzen zwischen Kontinuität und Diskontinuität
rechtlicher Normativität lassen sich jedoch nicht mit unklaren Worten oder subtilen
Umformulierungen ausräumen . Zwar können dieselben normativen Probleme
ziemlich oft sowohl in kognitivistischen als auch in konstruktivistischen Kategorien
gestellt werden . Es ist ja fast immer möglich, eine kognitivistische Kategorie durch
eine skeptischere zu ersetzen, ohne die Lage erheblich zu ändern . So wird oft die
Kategorie der Wahrheit durch die der Wahrscheinlichkeit ersetzt; die Kategorie des
Beweises durch Argumentation; la vérité durch le raisonnable;26 Richtigkeit durch
die prudentielle „bestmögliche Problemlösung“;27 Beobachtung und Teilnahme
durch „teilnehmendes Beobachten .“28 Das Problem des Verhältnisses zwischen her-
kömmlicherundkonstruktivistischerEpistemologieist aber kein bloß sprachliches .
Es ist Ausdruck eines größeren, wesentlicheren Problems, nämlich der Vermittlung
elements ofconcretisation as aardstick for whether the limits of interpretation were exceeded or
not“ (vgl . Matthias Klatt,Making the Law explicit. the Normativity of Legal Argumentation, 2008,
77) .Adeodato vermisst an der strukturierenden Rechtslehre eine deutlichere Abgrenzung von
zulässigen und unzulässigen Ergebnissen innerhalb der post-positivistisch anerkannten Polisse-
mie verfassungsrechtlicher Normen (vgl . João M . Adeodato,Ética e Retórica.Para uma teoria da
dogmática jurídica, 2007, 251f .) .
21 Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenfor-
schung, 1954, 40ff .
22 AaO ., 42 .
23 Vgl . Karl-Heinz Ladeur, Der Wandel der Rechtssemantik in der postmodernen Gesellschaft . Von
der Subsumtion zur Abwägung und zu einer Semantik der Netzwerke, Rechtstheorie 45, 2014,
467–486 .
24 Vgl . aaO .
25 Kye Il Lee,Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, 2010, 501f .
26 Vgl . Chaïm Perelman,Logique Juridique.Nouvelle rhétorique, 1979, 2ff ., 172ff .
27 Ottmar Ballweg, Medium jeder Rhetorik ist die Meinung, in:Rhetorik. Ein internationales Jahr-
buch, Bd .15, Juristische Rhetorik, hg . von Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding, 1996, 137ff .
28 Katharina Gräfin von Schlieffen, Subsumtion als Darstellung der Herstellung juristischer Ur-
teile, in:Subsumtion. Schlüsselbegriff der juristischen Methodenlehre, hg . von Gottfried Gabriel/Rolf
Gröschner, 2012, 384 .
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Herausforderungen rechtlicher Begründungstätigkeit 159
zwischen den seit der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts zahlreich gewonnenen
Erkenntnissen über das juristische Entscheiden einerseits und normativen Ansprü-
chenandiesesselbeEntscheidenandererseits .Topik,Rhetorik,Hermeneutik,Sozio-
logie und Sprachphilosophie haben in vielerlei Hinsicht Aufklärungen über das
Recht geliefert, deren normative Verarbeitung der Rechtstheorie und -philosophie
noch nicht gelang .
Nun stellt die Rezeption eines jeden dieser Ansätze besondere praktische Forde-
rungen an Recht und Juristen . Jeder von ihnen verlangt das Bewusstwerden ihrer
Beschreibungen zum Zweck der Ernüchterung gegenüber Rationalitätsansprüchen
und letztlich der Verbesserung der Rechtspraxis . Schon Viehweg sah an der von ihm
entwickelten juristischen Topik ein Verfahren der Problemerörterung, dessen sich die
Rechtswissenschaft „in allen Einzelheiten bewusst zu bleiben [hat], um dieses Ver-
fahren seiner Art entsprechend möglichst klar und übersichtlich zu gestalten .“29
Seitens der juristischen Verarbeitung der philosophischen Hermeneutik wird ver-
langt, dass Gerichte ihren Interpretationsvorgängen mit klarerem Bewusstsein ge-
genüberstehen .30 Im Allgemeinen nimmt der Gedanke des Bewusstwerdens des ei-
genen (unter Umständen konstruktivistischen) Tuns die Fassung eines älteren Prob-
lems an, nämlich der „rationalen“ Rücksichtnahme auf „irrationale“ Faktoren des
Denkens und Handelns31 beziehungsweise der Kompatibilität einer internen nor-
mativen Überzeugung über die Welt mit externen Beschreibungen dieser selben
Welt .32 Soziologisch gesehen führt diese Lage zu einer theoretischen Version einer
„Vielgötterei von Partialrationalitäten“,33 indem diverse Theorien aus ihrer jeweili-
gen partiellen Rationalität normative Anforderungen an das Recht stellen, die even-
tuell übereinstimmend, möglicherweise aber auch widersprüchlich sein können .
Nun muss das Problem auch aus der internen normativen Perspektive des Rechts
herangegangen werden . Es bedarf zusätzlich einer Reflexion, die faktische, das heißt,
zumindest noch nicht normativ formulierte „Entdeckungen“ über juristisches nor-
matives Urteilen mit möglichen Ergebnissen dieses Urteilens in Verbindung bringt .
Mit anderen Worten: Es bedarf einer feineren Abstimmung zwischen rechtstheore-
tischen Erkenntnissen über das juristische Entscheiden (Herstellung des Urteils,
context of discovery) einerseits und normativen Sätzen und Theorien andererseits
(Darstellung, context of justification) .
Um ein Ergebnis vorwegzunehmen: Eine dezidierte Parteinahme für die konst-
ruktivistische Seite des Verhältnisses unter Ausschaltung jegliches kognitivistisch
Vorgegebenen führt zu ungenügenden Ergebnissen . Geht man von einer Verabsolu-
tierungderkreativenTätigkeitdesEntscheidendenausohneZugeständnisseanher-
kömmliche Kriterien der traditionellen Methodenlehre wie der Annahme eines sta-
bilen semantischen Gehaltes von Gesetzestexten, die es zu interpretieren gilt usw .,
29 Viehweg (Fn . 21), 14 .
30 Vgl . Ralph Christensen/Hans Kudlich,Theorie richterlichen Begründens, 2001, 24 .
31 Vgl . z .B . in der Psychologie Marko Novak, The Argument from Psychological Typology for a
Mild Separation Betweenthe Context of Discovery and the Context of Justification, in:Legal
Argumentation Theory: Cross-Disciplinary Perspectives, hg . Von Christian Dahlman/Eveline Feter-
is, 2013, 145–162 .
32 Thomas Nagel,The View from Nowhere, 1986 .
33 Gunter Teubner/Altera Pars Audiatur: Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprü-
che,ARSP-Beiheft 65 (1996), 200 .
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160 André Ferreira Leite de Paula
das heißt, ohne vorgegebenes Recht entweder ontologisch oder zumindest als Denk-
form anzunehmen,34 so geht jeder Anspruch auf Richtigkeit, auf Entscheidungdem
Recht gemäß, verloren – die Stabilität des Rechts in der Zeit ist Voraussetzung für
dessen Befolgung . Materiell würde das Recht so zugunsten anderer – politischer,
moralischer, wirtschaftlicher – Normativitäten aufgegeben . Strukturell bedeutete es
das Verfallen in Aporien wie beispielsweise das in der gegenwärtigen Rechtstheorie
immer wiederkehrende Motiv des „als ob“ rechtlicher Geltung . In radikal konstruk-
tivistischer Fassung heißt es, Rechtsfälle sollen so behandelt werden, als ob rechtli-
che Geltung bereits zum Zeitpunkt der zur Diskussion stehenden Handlungen vor-
handen gewesen wäre .35 Die Rückwärtsgewandtheit rechtlicher Verantwortlichkeit
– etwa dass ein Angeklagter hätte anders handeln können und sollen – bliebe somit im
Reich des Fiktiven . Schließlich führt der radikale Konstruktivismus zum Gedanken,
dass Normanwendungen überhaupt aufgrund einer unüberwindbaren Kluft zwischen
Herstellung und Darstellung der Entscheidung Fiktionscharakter zukäme .36 Ver-
langt man von der Darstellung der Entscheidung eine treue Wiedergabe des empiri-
schen Geschehens im Entscheidungsprozess – also weniger als eine rationale Rekon-
struktion einer überzeugenden Begründung -, so erscheint Subsumtion als eine
„Entstehungslegende“, eine „musterhaft platzierte Darstellung des textentstehenden
Geschehens“, die nicht Wahrheit, sondern Plausibilität stiftet .37
Spätestens in der Praxis, wenn das Ergebnis einer normativen Überlegung als
rechtswissenschaftliche oder gerichtliche Begründung öffentlich präsentiert werden
soll, stellt sich für den radikalen Konstruktivismus das Problem der Begründbarkeit
konstruktivistischer normativer Ergebnisse . Soll der des Konstruktivismus überzeugte
Jurist auch öffentlich zugestehen, dass seine Position nicht mit dem Recht entspricht,
weil es nichts rückwärtsgewandt Rechtliches zu erkennen gebe, sondern nur vorwärts-
gewandt zu Konstruierendes? Oder soll er die epistemologische conditio seines Tuns
verschleiern, um ein sozial akzeptables Urteil zu treffen und somit den performativen
Widerspruch latent belassen? Jedenfalls scheint die Annahme radikal konstruktivisti-
scher Rechtskonzeptionen tendenziell auf das Motiv der Invisibilisierung von Entste-
hungsbedingungenhinauszulaufen,demgemäß„bestimmteVoraussetzungenderPro-
duktion von Recht invisibilisiert und durch eine sich selbst instituierende, nicht argu-
mentativ begründende Verkettung von Entscheidungen fraglos gestellt werden .“38
Noch größer wäre die zu überwindende Kluft zwischen konstruktivistischer
Rechtsepistemologie und Anwendungsparadigma in Bezug auf das Selbstverständ-
nis der Rechtsdogmatik . Es heißt beispielsweise im Zivilverfahrensrecht, der Richter
hat das Gesetz auszulegen, die Tatsachen festzustellen und zu bewerten, um anschlie-
ßend eineSubsumtion durchzuführen, die durch obere Gerichtsinstanzenkontrollier-
34 Vgl . Neumann (Fn . 2) .
35 Wie etwa vonLadeur(Fn . 23)vertreten . AuskonstruktivistischerSichtauch Ino Augsberg,Die
Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie, 2009, 49 .
36 Sabine Müller-Mall,Performative Rechtserzeugung, 2012, 274 .
37 Gräfin von Schlieffen (Fn . 28), 383 .
38 Vgl .Ladeur(Fn .23),467 .Hiersollmanimmerhinzweiähnliche,abernichtidentischeProbleme
auseinanderhalten . Die Frage, ob es zu erkennendes Recht gibt oder ob der radikale Konstruk-
tivismus zutrifft, betrifft die Objektebene des Rechts . Deren Beantwortung ist unabhängig von
der praktischen Frage, mit welchem Anspruch der Richter einen Urteilsspruch erlassen soll .
Diese befindet sich auf der Metaebene; sie betrifft den Diskurs über Recht .
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Herausforderungen rechtlicher Begründungstätigkeit 161
bar sein soll . Verfahrensrechtler verstehen hier Subsumtion im logischen elementa-
ren Sinne, nämlich als eine „Kongruenzprüfung zwischen dem durch Auslegung
ermittelten Norminhalt und den festgestellten Tatsachen .“39 Die Prozessordnungen
gehen von der Möglichkeit der Trennung von Tat- und Rechtsfragen ebenso von
Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung aus .40 Sowohl die Zivil- als auch die
Strafprozessordnung sind im Lichte des verfassungsrechtlichen Prinzips der Geset-
zesbindung anzuwenden und sehen falsche Normanwendung als Revisionsgrund
vor .41 Die Praxis der Rechtsanwendung kommt ohne Differenzierungen von Sach-
verhalt,Tatbestand,SubsumtionundRechtslagenichtaus .DiePraxisdesRechtsist
hinsichtlich der begrifflichen Systematik, der logischen Operationen und der Wie-
derholbarkeit des Ergebnisses oft der Mathematik ähnlicher als hochdifferenzierten
postmodernen Gesellschaftstheorien . Deswegen sind aktuelle Projekte im Bereich
Recht, Logik und künstlicher Intelligenz (artificial intelligence), die eine partielle
Übergabe ausgewählter Rechtsoperationen an automatisierte Verfahren anstreben,
nicht ganz unrealistisch .42 So vehement postmoderne Ansätze die Möglichkeit jeg-
licher stabilen Regelbefolgung auch ablehnen, so klar und wirkungsmächtig istdoch
die Rechtspraxis, die dem Regelskeptizismus rücksichtslos widerspricht und durch-
aus Ableitungen und Regelanwendungen im trivialsten Sinne dieser Wörter kennt .
III. phIlosophIsche hermeneutIk und rechtlIche normatIvItät
Die philosophische Hermeneutik hat einen wichtigen Anteil an der Verabschiedung
eineseinheitlichenMethodenverständnisses .DieEntdeckungdeshermeneutischen
Zirkels, der Allgegenwart von Vorverständnissen und anderer hermeneutischer Ge-
setzmäßigkeiten als Bedingungen eines jeglichen Verstehens wird in vielerlei Hin-
sicht in der Rechtswissenschaft rezipiert . Im Folgenden wird kurz auf die philosophi-
sche Hermeneutik und auf einige Aspekte des Umgangs mit hermeneutischen Mo-
tiven in der rechtlichen Begründungstätigkeit eingegangen .
1.dieherMeneuTischeerschüTTerungeinesvereinheiTlichendensTandpunkTes
Die Hermeneutik hat eine Wende von einer „geschlossenen“, textzentrierten Fas-
sung hin zu einer „offenen“, holistischen Philosophie vollzogen .43 Der ursprünglich
herrschende Schwerpunkt, den im Text vorhandenen Sinn zu erschließen, wurde
39 Artur May,Die Revision in den zivil- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren, Köln u .a . 1997, Kap .VI,
Rn . 265 .
40 AaO ., Kap . VI, Rn . 270 .
41 §§545,546ZPO;§337StPO .Vgl .auchLutzMeyer-Großner,Strafprozessordnung mit GVG und
Nebengesetzen, 55 . Auflage, München 2012, §337 Rn . 33 undKommentar zur Zivilprozessordnung
mit Gerichtsverfassungsgesetz, hg . von Hans-Joachim Musielak, 2013, §546 Rn . 3 .
42 Vgl . Samuel Meira Brasil/Berilhes Borges Garcia, Modelling Legal Reasoning in a Mathematical
Environment through Model Theoretic Semantics,Proceedings of the 9th International Conference
on Artificial Intelligence and Law, ICAIL 2003, Juni 2003; Vgl . auch Katsumi Nitta/Hajime Yoshi-
no, Artificial Intellgence and Law, Bd . 5, Nr . 1–2, 1997 .
43 Vgl . Jacques Bouveresse,Herméneutique et linguistique suivi de Wittgenstein et la philosophie du lan-
gage, Édition de l’éclat 1991, 21ff .
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