Table Of ContentMax L. Baeumer
Heinse-Studien
Mit einer bisher unveröffent-
lichten Schrift Heinses zur
Erfindung der Buchdrucker-
kunst in Mainz
HEINSE-STUDIEN
MAx L. BAEUMER
HEINSE-STUDIEN
MIT EINER BISHER UNVERÖFFENTLICHTEN
SCHRIFT HEINSES ZUR ERFINDUNG DER BUCHDRUCKERKUNST
IN MAINZ
J.B. METZLERSCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART
ISBN 978-3-476-99210-9 ISBN 978-3-476-99209-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-99209-3
© 1966 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen 1966 bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
INHALT
Einleitung: Zum Stand der Heinseforschung . . .
Heinses angebliche Konversion und seine religiöse
Anschauung .............. . 10
Die Insel-Utopie bei Heinse 36
„Eines zu seyn mit Allem" - Heinse und Hölderlin 49
Heinse und Nietzsche - Anfang und Vollendung der diony-
sischen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Wilhelm Heinses unveröffentlichte Schrift zur Erfindung
der Buchdruckerkunst in Mainz . . . . . . . . . . 125
Heinse-Bibliographie 195
Personenregister . . 210
V
EINLEITUNG
ZUM STAND DER HEINSEFORSCHUNG
Das dichterische Werk Wilhelm Heinses ( 17 46-1803) liegt erst
seit 1925 in seiner Gesamtheit vor. In diesem Jahr hatte Albert
Leitzmann mit der fast vollständigen Herausgabe der Tagebücher
die 1902 von Carl Schüddekopf begonnene erste Gesamtausgabe
der Werke Heinses im Insel-Verlag abgeschlossen. Heinses Schrif
ten und Tagebücher wurden also erst 122 Jahre nach seinem Tod
vollständig bekannt, und alle vorhergehenden Arbeiten über ihn,
zu denen nicht der gesamte handschriftliche Nachlaß heran
gezogen wurde, sind unzulänglich. Walther Brechts richtung
weisendes Werk »Heinse und der ästhetische Immoralismus«
(1911) war die erste Untersuchung, die das ganze Werk des Dich
ters zugrunde legte. In geistesgeschichtlicher Zielsetzung wollte
Brecht Heinse „in seiner historischen Gesamtbedeutung erfassen"
(S. VII). Wie der Untertitel seiner Arbeit „Zur Geschichte der
italienischen Renaissance in Deutschland" (für vollständige Lite
raturangaben siehe die Bibliographie am Ende des Bandes) an
deutet, beschäftigte er sich mit Heinses intensiven Studien der
italienischen Renaissance während dessen Italienaufenthalts. Aus
den bis dahin unbeachteten Tagebüchern erkannte und bewies
Brecht, noch mehr als aus dem bekannten Ardinghello-Roman,
daß Heinse als erster in Deutschland Lebensgefühl und Denk
weise des Renaissancemenschen voll erfaßte, dichterisch dar
stellte und sich selbst ihm wesensgleich fühlte. Die Untersuchun
gen von Walther Rehm »Das Werden des Renaissancebildes in der
deutschen Dichtung« (1924), Oskar Weibel »Tiecks Renaissance
dichtung in ihrem Verhältnis zu Heinse und C.F. Meyer« (1925)
und Albert Zippel »WilhelmHeinse und Italien« (1930) haben die
Erforschung der wichtigen Beziehungen Heinses zur Renaissance
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ZUM STAND DER HEINSEFORSCHUNG
abgeschlossen, ohne im einzelnen über Brecht hinauszugehen und
die Tagebücher zu verwerten.
In den folgenden Jahren bis zum zweiten Weltkrieg sind neben
einer Reihe maschinengeschriebener Dissertationen und aus
ländischer Aufsätze einige Arbeiten von Bedeutung entstanden,
die aber nur Teilaspekte seines Werks behandeln. Zu erwähnen
sind Hans R. Sprengel »Naturanschauung und malerisches Emp
finden bei Wilhelm Heinse« (1930), Hans Friedrich Menck über
den Roman »Hildegard von Hohenthal« in seiner Monographie
»Der Musiker im Roman« (1931), Käthe Harnisch »Deutsche
Malererzählungen, Die Art des Sehens bei Heinse, Tieck, Hoff
mann, Stifter und Keller« (1938) und Benno von Wieses Aufsatz
über »Heinses Lebensanschauung im Ardinghello« (1931). Erst
Richard Benz beschäftigte sich nach 1940 eingehender rnit Heinse.
In seinen geisteswissenschaftlichen Werken und Aufsätzen hat er
Heinses einheitliches und sinnenfreudiges Lebensgefühl aus spä
tem Barock und italienischer Opernkultur des 18. Jahrhunderts
deutlich werden lassen und verweist auf seine dionysische Grie
chenverehrung und seine Kunst- und Weltschau jenseits aller
Einschränkung in die üblichen Grenzen von Aufklärung, Sturm
und Drang, Klassik und Romantik. Besonderes Verdienst hat sich
Benz mit einer Anthologie „aus Briefen, Werken, Tagebüchern"
Heinses erworben, die er in seiner ersten Ausgabe von 1943 tref
fend unter dem Titel »Vom großen Leben« zusammenfaßt. Hier
werden wesentliche Niederschriften aus der Isolierung und ver
wirrenden Unordnung der Leitzmannschen Ausgabe der Tage
bücher herausgelöst zu einem ersten, wenn auch noch unvoll
ständigen Gesamtbild des dichterischen Werks Heinses und seiner
Weltanschauung. In der Einleitung zur zweiten und letzten Aus
gabe von 1958 weist Benz darauf hin, daß „Heinse noch keine
rechte Deutlichkeit gewinnen konnte, noch keine wirkliche Ein
ordnung in unsre Geistesgeschichte fand" (S. 5).
Nicht nur die mangelnde Kenntnis des Gesamtwerks Heinses ist
schuld an den Schwierigkeiten, seine Stellung und Bedeutung im
Geistesleben zu bestimmen, sondern auch das durch vage Vor
urteile verzerrte Bild der Persönlichkeit des Dichters und die bis-
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ZUM STAND DER HEINSEFORSCHUNG
herige unzulängliche Erforschung seines Lebens. Arthur Schurigs
Untersuchung von 1910, »Der junge Heinse und seine Entwick
lung bis 1774 «, ist die erste eingehende biographische Arbeit, die
sich auf die gesamten Schriften und den Nachlaß Heinses stützt.
Hier wird zwar Heinses Verhältnis zu Wieland und Gleim behan
delt, ausgeschlossen aber bleibt schon das erste wichtige Stadium
seiner eigentlichen individuellen Entwicklung in den Jahren des
ersten Zusammenlebens mit Georg und besonders mit Friedrich
Heinrich Jacobi von 177 4 bis 1780 in Düsseldorf. Die ersten Tage
bücher aus dieser Zeit, die Heinses freie Naturauffassung und vor
allem die sinnlich erlebte Kunstanschauung seiner Gemäldebriefe
enthalten, sind noch nicht in ihrer Bedeutung für seine persön
liche Entwicklung ausgewertet. Die erwähnten Arbeiten von
Brecht, Rehm und Zippel über Heinses dreijährigen Italienauf
enthalt lassen eine hinreichende Untersuchung dieser Zeit ver
missen, die Heinse selbst als die bedeutendste seines Lebens be
zeichnet hat. Ebenso sind die Jahre der zweiten Hausgemein
schaft mit Friedrich Heinrich Jacobi von 1783 bis 1786 bisher
noch nicht näher erforscht. Daß Heinse neun Jahre mit Jacobi
zusammen lebte und sich ihr Briefwechsel bis zu seinem Tod
erstreckte, sollte eine eingehendere Untersuchung des Verhält
nisses von Heinse und Jacobi rechtfertigen. In dem Heinse-Höl
derlin-Aufsatz dieses Bandes wird erstmalig Heinses Stellung
nahme zum „Pantheismusstreit" um Spinoza behandelt, den er
als Hausgenosse Jacobis persönlich miterlebte. Von Schurigs aus
gezeichneter Arbeit über den jungen Heinse abgesehen fehlt jede
zusammenhängende und genauere Biographie Heinses. Die frü
hen Untersuchungen von Johann Schober (1882) und Richard
Rödel (1892) mit dem gleichen Titel »Johann Jakob Wilhelm
Heinse, Sein Leben und seine Werke« sind völlig unzulänglich,
da beiden weder die gesamten Werke und Briefe Heinses noch
seine Tagebücher und der übrige Nachlaß bekannt waren. Die
wertvolle Sammlung Leitzmanns von 1938 »Wilhelm Heinse in
Zeugnissen seiner Zeitgenossen« bringt eine erste Korrektur des
bis dahin verzeichneten Heinsebildes als eines skrupellosen Ge
nießers zugunsten eines in seinem wirklichen Leben zurück-
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ZUM STAND DER HEINSEFORSCHUNG
gezogenen, von der Natur wenig begünstigten und schüchternen
Sonderlings und Stubengelehrten, der im Wunschbild seines
dichterischen Schaffens ein dionysisches Leben der Lust, Macht
und Schönheit genießt.
Der erste, der in zwei wichtigen Teiluntersuchungen Licht in
Heinses späteres Leben und ·wirken als Bibliothekar am Hof des
Mainzer Kurfürsten und Erzbischofs von 1786 bis zu seinem Tod
brachte, ist Erich Hock mit seiner Schrift von 1949 über Hölder
lins Reise nach Bad Driburg mit Heinse und Diotima, »Dort
drüben in Westfalen«, und mit seiner Arbeit von 1952 »Wilhelm
Heinse und der Mainzer Kurstaat«. Die erste Schrift, zusammen
mit weiteren Aufsätzen im Hölderlin-Jahrbuch 1948 und 1950,
befaßt sich mit den persönlichen und literarischen Beziehungen
zwischen Heinse und Hölderlin, während die zweite Unter
suchung die politische Auffassung Heinses und seine Einstellung
zur gleichzeitigen französischen Revolution darlegt. In einem
begleitenden Nachwort zu der neuesten, 1962 vom Insel-Verlag
besorgten Ausgabe des »Ardinghello« befaßt sich Hock, Heinses
Tagebücher einbeziehend, mit dessen Kunst-, Musik-und Lebens
anschauung, in der Sinnliches und Geistiges identisch geworden
sind. In einer der Universität von Kansas (USA) 1964 vorgelegten
Dissertation »Die Tagebücher Wilhelm Heinses«, die in Kürze im
Druck erscheinen soll, hat Erna M. Moore die bisherigen Teil
veröffentlichungen der Tagebücher kritisch untersucht und ihre
Bedeutung für die neuere Heinseforschung hervorgehoben. Sie
kommt zu der Schlußfolgerung, daß die Tagebücher, bisher nur
uneinheitlich, unvollständig und ohne Kommentar von Leitz
mann veröffentlicht, die zentrale Mitte des Heinseschen Werks
bilden, daß in ihnen seine sehr individuelle und zugleich univer
sale Weltanschauung deutlich zutage tritt und seine Romane und
Reisebriefe ihre Quellen haben. Auf die Tagebücher im besonde
ren stützt sich auch die letzte, das ganze Werk umfassende Unter
suchung »Das Dionysische in den ·werken Wilhelm Heinses« von
1964; in dieser Arbeit kam es mir darauf an, jenen Grundzug des
Heinseschen Wesens herauszuarbeiten, auf dem seine sinnlich
lustvolle Ästhetik, seine Auffassung vom großartigen Menschen,
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ZUM STAND DER HEINSEFORSCHUNG
sein Immoralismus und die dynamisch-ekstatische Gewalt seiner
Sprache beruhen und worin sein Einfluß auf die Romantik be
sonders sichtbar wird.
Der hier vorgelegte Band von Heinse-Studien hat seine
Berechtigung einmal in der Tatsache, daß er die bisherige Heinse
forschung bewußt fortsetzt und grundsätzliche Themen behan
delt, die bis heute vernachlässigt worden waren. Die ersten bei
den Aufsätze befassen sich mit dem Dichter selbst, mit seiner
religiösen Anschauung und der utopischen Auffassung in seinen
Werken. Einfluß und Bedeutung Heinses wollen die beiden fol
genden Studien herausstellen, die den Dichter in seinen Bezie
hungen zu Hölderlin und seiner Vorwegnahme von Nietzsches
Ästhetik erforschen. Im zweiten Teil wird eine neu entdeckte
Schrift Heinses aus seiner Aschaffenburger Zeit veröffentlicht
und kommentiert, die seine letzten Jahre als Bibliothekar des
Kurfürsten von Mainz in neuem Licht erscheinen läßt. Die wei
tere Bedeutung des Bandes liegt darin, daß alle Arbeiten, mit
Ausnahme der zweiten Studie, die sich auf das gesamte Werk
bezieht, um die letzten zwanzig Jahre des Dichters und besonders
um seine Mainzer und Aschaffenburger Zeit kreisen, über die bis
her Dunkelheit und falsche Vorstellungen herrschten. Schüdde
kopf meinte in seiner Einleitung zur Gesamtausgabe Heinses, daß
dieser in Mainz und Aschaffenburg in Resignation verstummte,
und Benz bemerkt noch 1958 in der Einführung zu seiner Heinse
Antho]ogie: ,,Aber seltsam: in dem Augenblick, da er im geistigen
Leben der Zeit zu kurzer Wirkung und Berühmtheit aufleuchtet
gleich einem Meteor, scheint uns sein Leben immer mehr in
einem Dunkel zu versinken, das es bis zu seinem Tode fast gleich
mäßig umhüllt" (S. 34). Von den weniger bedeutenden Jugend
schriften abgesehen hat aber Heinse gerade in diesen Jahren seine
Romane vollendet: 1787 »Ardinghello und die g]ückseeligen
Inseln«, die reiche Frucht seiner Italienreise und den ersten
Künstler- und Renaissanceroman aus deutscher Feder, von dem
stärkste literarische Wirkungen ausgingen; 1795/96 »Hildegard
von Hohenthal«, die einzige deutsche Darstellung der großen
italienischen Opernmusik des Spätbarocks; und 1803 »Anastasia
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