Table Of ContentHeilen und Bilden
Grundlagen der Erziehungskunst
für Ärzte und Pädagogen
Herausgegeben
VOll
I )r. Alt'red Adl~r nud H1·. Carl Furtmüller
/':weite, nenhPal'beitete und er·weitert.e Auflage
redigiert von
Dr. Erwin Wexberg
Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH I 1922
ISBN 978-3-662-34155-1 ISBN 978-3-662-34425-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-34425-5
Nachdruck verboten.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
©Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1922
Ursprünglich erschienen bei J_ F_ Bergmann, München 1922
Druck der Universitätsdruckerei H. Stiirtl A.. G., Wüuburg.
Geleitwort zur ersten Auflage.
Der vorliegende Band möchte ein Bild geben von der Tätigkeit einer
Arbeitsgemeinschaft von Ärzten und Pädagogen, die sich seit wenigen
Jahren herausgebildet hat. Der Zweck unserer Veröffentlichung ist
es, nicht nur Leser und Zuschauer, sondern vor allem tätige Mitarbeiter
für unsere Bemühungen zu gewinnen. So mag denn zunächst dargelegt
werden - soweit dies geschehen kann, ohne den folgenden Arbeiten
vorzugreifen -, welches die Grundgedanken sind, die uns bei unserem
Werke leiten, und was uns an diesem Handinhandarbeiten von Arzt
und Erzieher als das Neue und Charakteristische erscheint.
Denn daß Ratschläge und Belehrungen des Arztes für den Erzieher
unentbehrlich sind, daß wiederum jeder Arzt auch zur Entfaltung einer
in gewissem Sinne erzieherischen Tätigkeit berufen ist, brauchte nicht
erst entdeckt zu werden. Und die Tätigkeit des Psychotherapeuten
insbesonders ist ja wohl immer, bei dem einen voll bewußt, bei dem
andern mehr oder weniger unbewußt, ihrem innersten Wesen nach eine
erziehliche. Ein Zusammenarbeiten aber, wie wir es vor Augen haben,
wurde erst möglich in dem Augenblick, wo die individual-psychologische
Methode in der Psychotherapie zur Entwicklung gelangte.
Versucht man, logisch zu sondern, was in Wirklichkeit freilich eng
verbunden nebeneinander läuft, so zerfällt nach dieser Methode die
Aufgabe des Nervenarztes in einen praktischen und in einen theoreti
schen Teil. Er muß zunächst das Seelenleben seines Patienten in seinem
innersten Kern zu verstehen suchen, indem er den verborgenen .. Ziel
punkt aufdeckt, nach welchem alle Handlungen und psychischen Auße
rungen des Patienten unbewußt gerichtet sind. So wird vor seinen Augen
in immer klareren Umrissen das Persönlichkeitsideal hervortreten,
dessen Verwirklichung das tiefste Lebensinteresse des Patienten bildet,
und es werden ihm die Leitlinien sichtbar werden, die die Wege be
stimmen, auf denen der Patient diesem Endziel zustrebt. Jetzt muß
er aufspüren, was an diesem festgefügten Lebensplan schief und un
haltbar ist, was den Patienten mit der Realität in unlösbaren Widerspruch
bringen mußte und ihn daher auf Umwege abdrängte, als deren ver
hängnisvollste sich eben die Neurosen und Psychosen darstellen. Zur
Lösung dieser theoretischen Aufgabe wird er die Gabe psychologischer
Intuition mit der Handhabung einer durchgebildeten individualpsycho
logischen Technik verbinden müssen. Der praktische Teil der Arbeit
des Psychotherapeuten wird geleistet sein, wenn er den Patienten dazu
bringt, zu verzichten und an Stelle seines unrealisierbaren Lebensplanes
einen anderen zu setzen, der ihm die Anpassung an die Wirklichkeit
ermöglicht.
Dieser Teil der Behandlung stellt sich also als eine besonders tief
greifende und unter besonders schwierigen Verhältnissen zu leistende
IV Geleitwort zur ersten Auflage.
pädagogische Tätigkeit dar. Und doch wurzelt das Wesentliche, daH
die Ärzte und Pädagogen um;eres Kreises vereint, vor allem im theo
retischen Gebiet. Der Psychotherapeut, der die Persönlichkeit seines
Patienten verstehen will, muß die Geschichte dieser Per::;önlichkeit
Ktudieren. Er muß sich rückschauend klar machen, wie gegebene körper
liche Veranlagung und die daraus entspringenden psychischen Reak
tionen, wie die Stellung zu Eltem und Geschwistern, zu Kameraden
und Lehrem daR Kind.allmählich zu einer immer klarf'f hervortretenden,
für das Individuum cluJrakteristischen Stellungnahme zur Welt gedrängt
haben. So begegnen sich Psychotherapeut und Pädagog in
dem gemeinsamen lnteresse für die Psychologie des Kindes.
Aber zu diesem materialen Moment kommt ein formales von vielleicht
noch größerer Bedeutsamkeit. Die Schaffung der individualpsycho
logischen Methode der Psychotherapie war ja nur dadurch möglich
geworden, daß der Psychotherapeut weit über die ursprünglichen Grenzen
seines Arbeitsgebiets hinausgriff, daß er die Grundlagen zu einer allge
meinen Individualpsychologie legte. Hatte die bisherige Psycho
logie sich vorzugsweise mit den seelischen Erscheinungen beschäftigt,
die an der Peripherie der Persönlichkeit liegen, und hatte sie höchstens
schüchtem und zögernd den Versuch unternommen, sich von hier aus
ein wenig dem Zentrum zu nähem, so wurde es jetzt zum methodischen
Grundsatz, daß man sich erst des Kems der Persönlichkeit bemächtigt
haben müsse, um die peripheren Äußerungen überhaupt verstehen und
richtig einschätzen zu können. Dem schulgemäßen Psychologen muß
es Mühe machen, sich in diese neue Anschauung einzuleben, die seine
gewohnte Arbeitsweise geradezu auf den Kopf stellt. Der Pädagog aber
war immer den lebendigen Persönlichkeiten .. seiner Schüler gegenüber
gestanden, er hatte sich immer bemüht, ihre Außerungen nicht gesondert
zu beurteilen, sondem sie auf das Ganze ihres Wesens zu beziehen. Nur
soweit ihm dies gelang, konnte er ja wirklich individualisieren. Wandte
er sich an die Psychologie um Rat, so konnte er von ihr eine Fülle des
Wissenswerten erfahren; nur darüber, was ihm das Hauptproblem war,
fand er nichts: in die Tiefen der Einzelpersönlichkeit wurde er nicht
geführt. Nun begreift man, welche frohe Zuversicht, ja Erhebung den
Suchenden in dem Augenblick erfüllen muß, da ihm die Möglichkeit
einer wissenschaftlichen Individualpsychologie entgegentritt. So e n t
wickelt sich beim Pädagogen wie beim Psychotherapeuten
aus praktischen Bedürfnissen heraus ein neues theoretisches
Interesse, das sie verbindet. Die Psychologie erscheint ihnen nicht
mehr als eine Hilfswissenschaft, der sie rezeptiv gegenüberstehen, sondern
sie fühlen sich berufen, an dem Aufbau und der Weiterentwick
lung einer Individualpsychologie produktiv mitzuarbeiten.
Dabei kommen die unmittelbar praktischen Bedürfnisse deR Päda
gogen nicht zu kurz. Indem er das Kind besser verstehen lemt, lernt
er auch den oft gewissermaßen unterirdischen Einfluß seiner erzieheri
schen Maßregeln besser abschätzen, um so mehr, als ihm durch des
Psychotherapeuten Krankengeschichten und durch eigene Beobachtung
der Blick dafür aufgeht, inwieweit und in welcher Weise solche Eingriffe
der Erzieher im Erwachsenen nachwirken. Man wird vielleicht meinen,
daß in diesem Bande die Stellungnahme zu konkreten Erziehungspro
blemen nicht genug betont ist. Nun werden ja dem aufmerksamen Leser
die zahlreichen pädagogischen Winke und Hinweise nicht entgehen,
fieleitwort zur zwcitt>n Auflagt>, V
die in dem Buche verHtreut sind. Aber freilich, wer ein Przieht•risclws
Programm zu finden erwartet, wird enttäuscht sein. Wir haben davon
bewußt abgesehen, weil solche allgmneinen Formulierungen allzu leicht
zum Schematisieren verleiten. Wir begnügen uns damit, in unserer
psychologischen Arbeit fortzufahren und die pädagogischen Einsichten
zu verzeichnen, die uns dabei als reife Früchte vom Baume fallen. Den
Hauptnutzen aber, den der Pädagog aus der Beschäftigung mit der In
dividualpsychologie ziehen kann, erblicken wir darin, daß sie sein mensch
liches Interesse für den einzelnen )/;ögling erhöht, daß sie ihn zu kritischer
Vorsicht seiner eigenen 'l'ätigkeit gegenüber ermahnt, daß Hio soiiwn
psycholo1,rischen Instinkt verschärft und seinen pädagogischen 'l'akt
verfeinert.
Ein flüchtiger Blick auf das Inhaltsverzeichnis dieses Bandes lehrt
Hchon, daß derselbe sich gewissermaßen in zwei Teile scheidet. Der
Prste bringt Arbeiten Alfred Adlers aus den Jahren 1904 bis 1913 und
r,ri bt so ein geschlossenes Bild der Entwicklung der von ihm geschaffenen
individualpsychologischen Methode. Der zweite Teil zeigt Mitglieder
unseres Kreises an der Arbeit, sich mit Hilfe der Individualpsychologie
der mannigfachsten Probleme zu bemächtigen. Wir hoffen. in nicht zu
ferner Zeit mit einem bedeutend erweiterten Kreis von Mitarbeitern
neuerliah vor die Öffentlichkeit treten zu können. Es braucht wohl
nicht erst hervorgehoben zu werden, daß wir die Bedingung der Mit
arbeiterschaft nicht in der Teilung unserer konkreten Anschauungen,
sondern einzig und allein in der Anwendung des individualpsychologi
~chen Gesichtspunktes erblicken.
nr. Carl ~"'nrtmüller.
Geleitwort zur zweiten Auflage.
Dm· Weltkrieg, der nicht nur die internationalen wissenschaftlichen
Beziehungen, sondern vielfach auch das Interesse.an ruhiger Forschungs
arbeit in den Ländern Europas lähmte, mag der ersten Auflage von
"Heilen und Bilden" zum Teil jenen Widerhall entzogen haben, den das
Werk sonst geweckt hätte. Daß jedoch kurz nach dem lhiedensschlui3
die erste Auflage vergriffen war, beweist, daß Idee und Anlage des Buches
auf ein Publikum rechnen durften, das für neue Wege und Anregungen
auf dem Gebiete der ärztlichen und pädagogischen Psychologie empfäng
lich ist. So können wir jetzt, acht Jahre nach d-em Erscheinen der ersten
Auflage, unser im Geleitwort gegebenes Versprechen einlösen un.d ver
mehrt um einen Kreis neuer Mitarbeiter zum zweiten Male vor die Öffent
lichkeit treten.
Die Zeit ist an unserer Lehre nicht spurlos vorübergegangen. Manches,
was damals nur unsicher empfunden oder kaum geahnt wurde, hat feste
Form angenommen; andere Teile unserer Anschauungen, die uns heute
wie Eierschalen einer embryonalen Entwicklung erscheinen, wurden ganz
fallen gelassen. So kam es, daß einzelne Arbeiten ausgeschieden, die
meisten ander'n einer gründlichen Neubearbeitung unterzogen und neue
Beiträge aufgenommen wurden. Es ist kein Zufall, daß das Wort und
der Begriff der Psychoanalyse, die in der ersten Auflage noch eine be
trächtliche Rolle spielten, in der neuen Gestalt von "Heilen und Bilden"
VI Geleitwort zur zweiten Auflage.
eigentlich nur mehr als eine Art historischer Reminiszenz auftreten.
Ohne die mannigfache Anregung und Befruchtung, die die moderne
Psychologie der Psychoanalyse verdankt, und ohne vor allem den histori
schen Ursprung der Individualpsychologie aus der Psychoanalyse zu
verkennen, sind wir uns doch dariiber klar geworden, daß im Verlaufe
der weiteren Entwicklung die Divergenz zwischen der psychoanalyti·
sehen und der individual-psychologischen Theorie und Praxis zu groß
geworden ist, als daß nicht eine reinliche Scheidung im beiderseitigen
Interesse und im Interesse des wissenschaftlichen Publikums gelegen
wäre. So wenig wir die Individualpsychologie mit jenen Teilen der
Psychoanalyse, die wir für Fehler und Irrwege halten, identifiziert wissen
wollen - und es gibt kaum eine Lehrmeinung Freuds, die wir auch
heute noch zu der unsrigen machen möchten -, so wenig wollen wir
die psychoanalytische Schule mit der Verantwortung für Erkenntnisse
belasten, die ihr als ketzerisch erscheinen müssen. Einmal muß es doch
gelingen, auch dem wissenschaftlichen Publikum diese Scheidung zwischen
Psychoanalyse und Individualpsychologie zum Bewußtsein zu bringen.
Die Gedanken der Individualpsychologie sind längst über den engen
Kreis der Mitarbeiter und Freunde Alfred Adlers hinausgedrungen. Lang
sam, aber sicher erwirbt sie sich jene internationale Beachtung, auf die
wir von Anbeginn rechnen durften. Und so können wir heute mit viel
größerer Zuver:;icht als vor acht Jahren das Versprechen erneuern, das
wir der ersten Auflage vorausschickten: wir kommen wieder, wenn unsere
Reihen sich von neuem verstärkt, wenn sich am Baum unserer Erkenntnis
neue Jahresringe gebildet haben.
Wien, im Mai 1922.
Dr. Erwin Wexberg.
Inhalt.
Belte
Geleitwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . I
Geleitwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . V
Der Arzt als Erzieher. Von Dr. Alfred Adler. . . .... 1
Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung fl\r Philosophie
und Psychologie. Von Dr. Alfred Adler .......... . !J
Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. Von Dr. Alfred Adler 18
Entwicklungsfehler des Kindes. Von Dr. Alfred Adler ...... . 26
'Ober Vererbung von Krankheiten. Von Dr. Al fr e d A dIe r 32
Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Von Dr. Alfred Adler. 39
'Ober neurotische Disposition. Von Dr. Alfred Adler .... 42
Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Von Dr.
Alfred Adler. . . . . .............. . 57
Trotz und Gehorsam. Von Dr. Alfred Adler . . . . . .. . 65
Zur Kritik der Fraudsehen Sexualtheorie des Seelenlebens. Vortrag, gehalten
in Frauds .Psychoanalytischem Verein" im Januar 1911. Von Dr. Alfred
Adler ................. . 72
Zur Erziehung der Eltern. Von Dr. Alfred Adler . 88
Organdialekt. Von Dr. Alfred Adler ..... . 99
Der nerytise Charakter. Von Dr. Alfred Adler 107
Wo soll der Kampf gegen die Verwahrlosung einsetzen? Von Dr. A 1f red
Adler ................ . 116
Erziehungsberatungsstellen. Yon Dr. Alfred Adler .. 119
Kränkung und Verwahrlosung. Von I da L ti w y . . . . 122
Rousseau und die Ethik. Von Dr. Erwin Wexberg .. 127
Fortschritte der Stottererbehandlung. Von A 1f re d A p p e 1 t 142
Die "Störung des Perstinlichkeitsgefühls" in der Neurose.. Von Dr. EIse
Sumpf .................. . 161
Erziehung zur Grausamkeit. Von Prof. Felix Asnaourow 170
Verzogene Kinder. Von Dr. Erwin Wexberg ..... 173
Der Kampf der Geschwister Von Dr. Aline Furtmüller 178
Ängstliche Kinder. Von Dr. Erwin Wexberg .... . 182
Mut machen! Von Richard Bayer ...... . 189
Selbsterfundene Märchen. Von Dr. Carl Furtmüller . . . . . 194
Zur Entwicklung der Individualpsychologie. Von Dr. Ca r 1 Furt m ü II er und
Dr. Erwin Wexberg .................. . 215
Unterricht in der Philosophie des Lebens, begründet in der Individual-Psycho-
logie. Von Dr. Honorio F. Delgado ........... . 229
Die Individuen der Geschichte und Philosophie. Von Dr. Ru d o lf Pick 233
Über Eigenliebe und Eitelkeit. Von Dr. Leonhard Seif ...... . 240
A~torität und Erziehung. Von Dr. Leonhard Seif ...... : .. 245
Die Jugendbewegung als neurotisches Phänomen. Von Dr. Folkert W!lken 251
Der Kampf des Kindes gegen Autorität. Von Dr. Friedrich Lint ... 265
Drei B.eiträge zum Problem des Schülerselbstmords. Von Dr. E. 0 p p e n-
heim, Dr. Airred Adler, Dr. Carl Furtmüller ....... . 270
Kindliche Phantasien über Berufswahl. Von Dr. J o s e f Krame r . . 294
Ein Beitrag zur Psychologie der ärztlichen Berufswahl. Von Dr. Alfred
Adler ........................ . 306
Warum ich ein Bub werden wollte. Von Margarete Minor. 310
Der liebe Niemand. Von Hedwig Schulhof ..... . 314
Kindheitserinnerungen einer ehemals Nervösen 323
Schlußwort . • . . . . . . . . . . . 330
Der Arzt als Erzieher.
Von Dr. Alfred Adler.
Das Problem der Erziehung, wie es die Eltern und Lehrer auf ihrem
Wege vorfinden, wird leicht unterschätzt. Man sollte meinen, daß die
J"ahrtausende menschlicher Kultur die strittigen Fragen längst gelöst
haben müßten, daß eigentlich jeder, der lange Jahre Objekt der Erziehung
gewesen ist, das Erlernte auch an andere weitergeben und in klarer Er
kenntnis der vorhandenen Kräfte und Ziele fruchtbar wirken könnte.
Welch ein Trugschluß wäre das! Denn nirgendwo fällt uns so deutlich
in die Augen, wie durchaus subjektiv unsere Anschauungsweise und wie
unser Denken und Trachten, unsere ganze Lebensführung vom innersten
Willen beseelt ist. Ein nahezu unüberwindlicher Drang leitet den Er
.zieher Schritt für Schritt, das Kind auf die eigene Bahn herüber zu ziehen,
~s dem Erzieher gleichzumachen, unterzuordnen, und das nicht nur
im Handeln, sondern auch in der Anschauungsweise und im Temperament.
Nach einem Muster oder zu einem Muster das Kind zu erziehen war
vielfach und ist auch heute noch oft der oberste Leitstern der Eltern.
Mit Unrecht natürlich! Aber diesem Zwang erliegen alle, die sich des
Zwangs nicht bewußt werden.
Ein flüchtiger Blick belehrt uns über die überraschende Mannig
faltigkeit persönlicher Anlagen. Kein Kind ist dem andern gleich, und
bei jedem sind die Spuren seiner Anlage bis ins höchste Alter zu ver
iolgen. Ja, alles was wir an einem Menschen erblicken, bewundern oder
hassen, ist nichts anderes als die Summe seiner Anlagen und die Art,
wie er sie der Außenwelt gegenüber geltend macht. Bei einer derartigen
Auffassung der Verhältnisse ist es klar, daß von einer völligen Vernichtung
ursprünglicher Anlagen, ob sie nun dem Erzieher passen oder nicht, keine
Rede sein kann. Was der Erziehungskunst möglich ist, läßt sich dahin
.zusammenfassen, daß wir imstande sind, eine Anlage zu fördern oder
ihre Entwicklung zu hemmen, oder-und dies ist leichter praktikabel
~ine Anlage auf kulturelle Ziele hinzulenken, die ohne Erziehung oder
bei falschen Methoden nicht erreicht werden können.
Daraus geht aber auch hervor, daß die Rolle des Erziehers keines
wegs für jeden paßt. Anlage und Entwicklung sind auch für ihn und
seine Bedeutung ausschlaggebend. Er muß ausgezeichnet sein durch
die Fähigkeit ruhiger Erwägung, ein Kenner der Höhen und Tiefen der
Menschenseele muß er mit einem Späherauge seine eigenen wie die
ireroden Anlagen und ihr Wachstum erfassen. Er muß die Kraft besitzen,
unter Hintansetzung seiner eigenen persönlichen Neigungen sich in die
Adler·Furtmüller, Heilen und Bilden. Zweite Auflage. I
2 Der Arzt als Erzieher.
Persönlichkeit des <tnueren zu vertiefen und aus dem Schachte emer
fremden Seele herauszuholen, was dort etwa geringes Wachstum zeigt.
:Findet sich solch eine Individualität einmal, unter Tausenden einmal,
mit dieser ursprünglichen Finderfähigkeit au~gestattet: das ist ein Er
zieher.
Nicht viel anders wird unser Urteil lauten, wenn wir über jene An
lagen und FähigkeitPn zu Gericht sitzen, die den guten Arzt ausmachen.
Auch ihn muß die Eigenschaft ruhiger Überlegung auszeichnen. Die
menschliche Seele sei ihm ein vertrautes Instrument, und wie der Er
zieher muß er es vermeiden, an der Oberfläche der Erscheinungen seine
Kraft zu erschöpfen. Mit immer wachem Interesse schafft er an den
Wurzeln und Triebkräften jeder anormalen Gestaltung und versteht es,
einzudringen in die Bahn, die vom Symptom zum Krankheitsherd führt.
Frei von übermächtigen Selbsttäuschungen, denn er muß sein Wesen
kennen und meistern wie der Erzieher, soll er in fruchtbarer Logik und
Intuition die heilenden Kräfte im Kranken erschließen, wecken und
fördern.
Die erzieherische Kraft der Ärzte und der medizinischen Wissen
schaft ist eine ungeheure. Auf allen Gebieten der Prophylaxe gräbt
sie unvergängliche Spuren und bewegt die Besten des Volkes zur tätigen
Mitarbeit. Wir stellen die vordersten Reihen im Kampf gegen den Alko
holismus und gegen Infektionskrankheiten. Von den Ärzten ging der
Notschrei aus gegen die Erdrückung der Volkskraft durch die Geschlechts
krankheiten. Der Ansturm der Tuberkulose findet einzig nur Widerstand
an den stetigen Belehrungen und Ermahnungen der Ärzte, solange nicht
materielle Hilfe naht. Das gräßliche Säuglingssterben, durch Jahrzehnte
geheiligter Mord und Barbarei, ist durch die leuchtenden Strahlen der
Wissenschaft erhellt und in das Zentrum des Kampfes gerückt. Schon
harrt die Schulhygiene auf den Beginn ihrer fruchtbaren Tätigkeit und
entwindet sich den ehernen Klammern engherziger Verwaltungen. Eine
Fülle uneigennütziger, wertvoller Ratschläge und Lehren strömt Tag
für Tag in die Volksseele über, und wenn nicht viele Früchte reifen, so
deshalb, weil Aufklärungsdienst und materielle Wohlfahrt des Volkes
nicht in den Händen der Ärzte liegen.
In der Frage der körperlichen Erziehung des Kindes ist die oberste
Instanz des Arztes unanfechtbar. Das Ausmaß und die Art der Er
nährung, Einteilung von Arbeit, Erholung und Spiel, Übung und Aus
bildung der Körperkraft soll i~:mer vom Arzt, muß von ihm im Falle
der Not geregelt werden. Die Uberwachung der körperli~~en Entwick
lung des Kindes, die sofortige Behebung auftauchender Ubelstände ist
eine der wichtigsten Berufspflichten des Arztes. Nicht erkrankte Kinder
zu behandeln und zu heilen, sondern gesunde vor der Krankheit zu
schützen ist die konsequente, erhabene Forderung der medizinischen
Wissenschaft.
Von der körperlichen Erziehung ist die geistige nicht zu trennen.
In der letzteren mitzureden ist dem Arzte nicht allzu häufig Gelegen
heit geboten, obgleich gerade er aus dem reichen Borne seiner Erfahrung
kraft seiner Objektivität und Gründlichkeit wertvolle Schätze schöpft.
Preyers Buch über "Die Seele des Kindes" 1) fördert eine Unzahl fun
damentaler Tatsachen zutage, die jedem Erzieher bekannt sein sollten.
1) 4. Auflage. Leipzig, Th. Griebens Verlag.