Table Of ContentAnna Goppel / Corinna Mieth /
Christian Neuhäuser (Hg.)
Handbuch
Gerechtigkeit
Anna Goppel / Corinna Mieth / Christian Neuhäuser (Hg.)
Handbuch Gerechtigkeit
J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Anna Goppel ist Assistenzprofessorin für Praktische  
Philosophie mit Schwerpunkt Politische Philosophie  
an der Universität Bern.
Corinna Mieth ist Professorin für Philosophie an der Ruhr-
Universität Bochum.
Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie 
an der TU Dortmund.
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Inhalt
  I   Der Begriff der Gerechtigkeit   18   Soziale Gerechtigkeit Peter Koller  118
  19   Strafgerechtigkeit Jan C. Joerden  124
  1   Einleitung Anna Goppel / Corinna Mieth /     20   Generationengerechtigkeit  
Christian Neuhäuser  2 Michael Schefczyk  130
  2   Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs:      21   Verfahrensgerechtigkeit Wilfried Hinsch  138
Antike und Mittelalter Christoph Horn  6   22   Ergebnisgerechtigkeit  
  3   Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs:   Stephan Schlothfeldt  143
Neuzeit Peter Koller  14   23   Historische Gerechtigkeit  
  4   Grundpositionen der Gerechtigkeitstheorie  Michael Schefczyk  147
in Neuzeit und Gegenwart Corinna Mieth /     24   Personale Gerechtigkeit  
Christian Neuhäuser / Alessandro Pinzani  20 Alessandro Pinzani  154
  5  R  eligiöse Wurzeln und Perspektiven:     25   Das Differenzprinzip Christine Bratu  158
Buddhismus und Konfuzianismus     26   Chancengleichheit Kirsten Meyer  164
Paulus Kaufmann  30   27  F airness Sonja Dänzer  168
  6  R  eligiöse Wurzeln und Perspektiven: Judentum    28   Gleichheit Stefan Gosepath  173
und Christentum Gerhard Kruip  35
  7   Religiöse Wurzeln und Perspektiven: Islam  
Christine Schirrmacher  41   III   Gerechtigkeits konzeptionen
  8   Inter- und transkulturelle Perspektiven  
Sarhan Dhouib / Franziska Dübgen  47   29   Gerechtigkeit als Tugend  
  9   Ungerechtigkeit   Dagmar Borchers / Svantje Guinebert  182
Oliver Flügel-Martinsen / Franziska    30   Kontraktualistische Gerechtigkeit  
Martinsen  53 Peter Rinderle  191
  10   Kritik am Gerechtigkeitsbegriff     31   Liberale Gerechtigkeit Jörg Schroth  199
Martin Hartmann  60   32   Libertäre Gerechtigkeit Fabian Wendt  205
  33   Sozialistische Gerechtigkeit  
Christoph Henning  211
  II   Gerechtigkeitstypen und Aspekte      34   Utilitaristische Gerechtigkeit  
des Gerechtigkeitsbegriffs Ulla Wessels  217
  35   Kosmopolitische Gerechtigkeit  
  11   Empirische Gerechtigkeitsforschung   Andreas Niederberger  223
Alexander Lenger / Stephan Wolf  68   36   Kommunitaristische Gerechtigkeit  
  12   Distributive Gerechtigkeit   Martin Beckstein  230
Wilfried Hinsch  77   37   Gerechtigkeit in der Diskursethik  
  13   Tauschgerechtigkeit Peter Koller  86 Regina Kreide  236
  14  F eministische Gerechtigkeit Beate Rössler  92   38   Gerechtigkeit in der Kritischen Theorie  
  15   Internationale Gerechtigkeit   Esther Neuhann / Bastian Ronge  241
Steve Schlegel / Christoph Schuck  98   39   Luck Egalitarianism Gabriel Wollner  249
  16  T ransnationale Gerechtigkeit  
Regina Kreide  105
  17   Globale Gerechtigkeit Henning Hahn  111
VI Inhalt
  IV   Gerechtigkeit im Kontext   59   Demokratie und Selbstbestimmung  
Robin Celikates  368
  40   Menschenwürde Peter Schaber  256   60   Enhancement Jan-Christoph Heilinger  373
  41   Moral Ludwig Siep  262   61   Familie Magdalena Hoffmann  375
  42   Gutes Leben Eva Weber-Guskar  268   62   Geschlecht Franziska Martinsen  380
  43   Grundgüter und Fähigkeiten     63   Gesundheit Stefan Huster  386
Jan-Hendrik Heinrichs  274   64   Gewalt und Krieg Johannes Müller-Salo /  
  44   Moralische Rechte Markus Stepanians  280 Reinold Schmücker  392
  45   Menschenrechte und Grundrechte     65   Institutionen und Organisationen  
Arnd Pollmann  287 Cord Schmelzle  400
  46   Verantwortung und Pflicht     66   Klima und Umwelt Dominic Roser  406
Corinna Mieth / Christian Neuhäuser  295   67   Konsum Daniel Saar  413
  47   Positives Recht und Völkerrecht     68   Lohn und Leistung Carsten Köllmann  417
Andreas Fischer-Lescano / Johan Horst  301   69   Migration Andreas Cassee  423
  48   Staat Francis Cheneval  305   70   Politische Zugehörigkeit Anna Goppel  429
  49  M  ensch, Bürger, moralische Person     71   Ressourcen Eugen Pissarskoi  434
Bernd Ladwig  309   72   Risiko Klaus Steigleder  438
  50   Politik und Demokratie     73   Soziale Ungleichheit und Sozialwesen  
Robin Celikates  316 Gottfried Schweiger  443
  51   Gesellschaft und Kultur     74   Sprache Hannes Kuch  447
Maria-Sibylla Lotter  323   75   Steuern Felix Koch  451
  52   Anerkennung und Toleranz     76   Strafe und Strafvollzug  
Susanne Schmetkamp  328 Thomas Hoffmann  456
  53   Macht Katrin Meyer / Martin Saar  334   77   Tiere Johann S. Ach  462
  78   Unternehmen Jens Schnitker  467
  79   Weltwirtschaft und Finanzmärkte  
  V   Anwendungsfragen Klaus Steigleder  472
  80   Zukünftige Generationen Sabine Hohl  478
  54   Alter Mark Schweda  340
  55   Arbeit und Einkommen  
Walter  Pfannkuche  344   VI   Anhang
  56   Armut Valentin Beck  350
  57   Behinderung Franziska Felder  358 Autorinnen und Autoren  486
  58   Bildung Kirsten Meyer  363 Personenregister  489
I    Der Begriff  
der Gerechtigkeit
A. Goppel et al. (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, DOI 10.1007/978-3-476-05345-9_1,
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2016
1     Einleitung zeichnen in den obigen Beispielen etwa die Entschei-
dung des Schiedsrichters als ungerecht. Ebenso kann 
In seiner Theorie der Gerechtigkeit baut John Rawls  man eine Gesellschaft als ungerecht bezeichnen, die 
darauf, dass Menschen normalerweise über einen Ge- manchen Kindern gleiche Chancen vorenthält. Wenn-
rechtigkeitssinn verfügen. Es spricht einiges dafür,  gleich unterschiedliche Güter betroffen sind, geht es 
dass dies auf die allermeisten Menschen zutrifft und  im Beispiel des Kindergeburtstags wie im Beispiel der 
Gerechtigkeit in unserem Leben und unserer Wahr- Schulbildung um die gerechte Verteilung von Chan-
nehmung eine wichtige Rolle spielt. Das zeigen nicht  cen, d. h. um Verteilungsgerechtigkeit. Im Beispiel des 
nur die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung,  Richters hingegen ist die Strafgerechtigkeit betroffen, 
die auch über Kulturen hinweg die große Bedeutung  d. h. die Bestrafung ist Gegenstand der Gerechtigkeits-
des Gerechtigkeitsdenkens bestätigen. Das zeigt auch  überlegungen. Im Falle der unterschiedlichen Bezah-
die schiere Anzahl der Themenfelder, mit Blick auf die  lung der Nationalspielerinnen besteht die Ungerech-
sich Menschen immer wieder darüber auseinander- tigkeit in der Ungleichbehandlung. Dabei können in 
setzen, was gerecht ist und was nicht. Bezug auf alle drei Beispiele auf den ersten Blick be-
Schon in der Alltagssprache kommt der empörte  stimmte Regeln oder Verfahren gerecht oder unge-
Vorwurf ›das ist ungerecht‹ oder ›das ist unfair‹ sehr  recht sein oder auch das Ergebnis als ungerecht be-
oft vor. Wenn Bayern gegen Dortmund spielt und der  zeichnet werden. Was den Maßstab der Verteilung an-
Schiedsrichter für ein Foul eines Dortmunder Spielers  geht, ist hinsichtlich der Verteilung von Gütern wohl 
eine Rote Karte zückt, aber in einer vergleichbaren Si- unsere erste Alltagsintuition, dass Gleichverteilung ge-
tuation den Bayern-Spieler nur verwarnt, so werden  recht ist: Beim Kindergeburtstag sollte jedes Kind ein 
viele diese Ungleichbehandlung als Ungerechtigkeit  ähnlich großes Stück vom Kuchen erhalten. Doch es 
anprangern. Ebenso könnten die deutschen National- kann Gründe geben, von einer Gleichverteilung von 
spielerinnen es als ungerecht empfinden, dass sie we- Gütern abzusehen; etwa, wenn ein Kind beim Backen 
niger verdienen als ihre männlichen Counterparts.  geholfen hat, könnte ihm im Sinne der Leistungs-
Wenn ein Kind auf einem Kindergeburtstag kein  gerechtigkeit mehr zustehen, oder wenn ein Kind zwei 
Stück des Geburtstagskuchens bekommt oder aber ein  Stücke braucht, weil es den ganzen Tag noch nichts ge-
deutlich kleineres als die anderen Kinder, wird es sich  gessen hat, könnte es aufgrund der Idee der Bedarfs-
ungerecht behandelt fühlen. Ein Strafrichter, der für  gerechtigkeit gerechterweise mehr erhalten als die an-
Bagatelldelikte Gefängnisstrafen verhängt, ist dem  deren Kinder. Da verschiedene Verteilungsregeln (z. B. 
Vorwurf der Ungerechtigkeit ausgesetzt. Der derzei- Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit) mit-
tige  Ressourcenverbrauch  wird  als  ungerecht  ge- einander konkurrieren können, müssen wir auch die 
genüber zukünftigen Generationen bezeichnet. Und  Frage nach der Rechtfertigung dieser Ansprüche stel-
schließlich prägen ungerechte Benachteiligungen be- len: Welche Verteilungsregeln können mit welcher Be-
stimmter Gruppen unseren Alltag: z. B. dass der er- gründung Akzeptanz durch diejenigen, die ihnen un-
worbene Schulabschluss von Kindern in vielen Län- terworfen sind, beanspruchen? Wird eine bestehende 
dern statistisch signifikant vom Bildungsniveau ihrer  Güterverteilung verletzt, z. B. durch einen Diebstahl, 
Eltern abhängt. so tritt die korrektive Gerechtigkeit auf den Plan: Die 
Alltagssprachlich meist generell als ›ungerecht‹ be- ursprüngliche Güterordnung muss wiederhergestellt 
zeichnet, illustrieren die angeführten Beispiele unter- werden. Sowohl hinsichtlich des Gegenstands als auch 
schiedliche Aspekte von Gerechtigkeit bzw. Ungerech- hinsichtlich des Maßstabs der Gerechtigkeitsbeurtei-
tigkeit und werfen unterschiedliche Fragen und Pro- lung illustrieren die Beispiele also wesentliche Unter-
bleme auf. Die Begriffe ›Gerechtigkeit‹ und ›Ungerech- schiede und beleuchten unterschiedliche Typen und 
tigkeit‹ können wir – wie dies auch in der Antike im  Aspekte von Gerechtigkeit.
Mittelpunkt stand – zum einen auf Personen und ihre  Naheliegenderweise stehen darüber hinaus sub-
Handlungen beziehen. Zum anderen können speziell  stanziell andere Fragen auf dem Spiel, will man für die 
Institutionen in den Blick genommen werden. Wir be- genannten Beispiele eine gerechte Lösung finden. Im
1 Einleitung 3
Bereich der Strafe stellt sich beispielsweise die Frage,  für die meisten Menschen eine wichtige Rolle spielt, es 
wann eine Strafzumessung gerecht ist. Dies betrifft zu- aber  weder  in  alltäglichen  Auseinandersetzungen 
nächst die Verhältnismäßigkeit der Strafe. Jemanden  noch in der philosophischen Debatte vollständige Ei-
für einen Ladendiebstahl lebenslänglich einzusperren,  nigkeit darüber gibt, was als gerecht zu gelten hat. Für 
ist ungerecht. Ferner gilt der Gleichbehandlungsgrund- diese Uneinigkeit lassen sich mindestens zwei Gründe 
satz, wonach die Strafe für die Tat und unabhängig von  anführen. Vor allem alltagssprachliche Vorstellungen 
der Person festzulegen ist. Es wäre beispielsweise un- von Gerechtigkeit basieren häufig auf ganz unter-
angemessen, Frauen anders als Männer oder Aka- schiedlichen historischen und religiösen Wurzeln. 
demikerinnen anders als Handwerkerinnen zu bestra- Und im gegenwärtigen philosophischen Diskurs exis-
fen. Gleichzeitig gilt jedoch, dass die Strafe vom Aus- tieren – wie bereits an den verschiedenen Beispielen 
maß des persönlichen Verschuldens abhängen sollte.  möglicher Grundlagen der Güterverteilung deutlich 
Dafür ist es wiederum notwendig, sich die zu bestra- geworden ist – darüber hinaus sehr verschiedene Aus-
fende Person, ihre Fähigkeiten und Eigenschaften ganz  arbeitungen der Gerechtigkeitsidee, die die Vielfalt 
genau anzuschauen. Weiterhin muss bestimmt wer- vor allem gegenwärtiger westlicher Gerechtigkeits-
den, welche Strafformen sich überhaupt rechtfertigen  vorstellungen in unseren Gesellschaften widerspie-
lassen. Üblich sind in Ländern wie Deutschland haupt- geln. Wie unterschiedlich die Wurzeln sind, zeigt sich 
sächlich Freiheits- und Geldstrafen. Körperliche Stra- beispielsweise, wenn man antike und buddhistische 
fen und vor allem die Todesstrafe sind verboten. Doch  Gerechtigkeitsvorstellungen betrachtet. Wie groß die 
viele andere Länder strafen noch körperlich, beispiels- Unterschiede  zwischen  gegenwärtigen  westlichen 
weise mit Stockschlägen, und zahlreiche Länder voll- Vorstellungen sind, zeigt ein Vergleich libertärer und 
strecken die Todesstrafe. Ist das ungerecht? Bezieht  sozialistischer Gerechtigkeitsvorstellungen.
sich die Gerechtigkeitsfrage nur darauf, ob das Straf- In der Antike beispielsweise wurde eine viel engere 
maß im Verhältnis zur Tat steht, oder auch darauf, ob  Verbindung zwischen dem gerechten und dem guten 
bestimmte Strafformen zu grausam sind? Hier können  Staat einerseits und dem gerechten und dem guten 
wir Fragen der ausgleichenden Gerechtigkeit von Fra- Menschen andererseits hergestellt, als dies in heutigen 
gen der Rechtfertigung trennen. Gerechtigkeitsvorstellungen in Europa und Nordame-
Im Themenfeld der Bildungsgerechtigkeit geht es  rika der Fall ist. Außerdem spielte die Idee der kos-
vor allem darum, wie sich im Bildungssystem mehr  mischen Gerechtigkeit in Form eines Gleichgewichts, 
Chancengleichheit herstellen lässt. Doch was bedeutet  das es zu wahren gilt, eine wichtige Rolle. Deswegen 
Chancengleichheit überhaupt? Müssen nur soziale  war etwa die vergeltende Strafe eine Angelegenheit 
oder  auch  natürliche  Unterschiede  zwischen  den  der Gerechtigkeit, denn sie stellte die kosmische Ord-
Menschen ausgeglichen werden? Und auf welche Wei- nung wieder her. Außerdem wurde Gerechtigkeit vor 
se dürfen Unterschiede ausgeglichen werden, um für  allem personal und nicht institutionell verstanden. Es 
eine größere Gleichverteilung der Chancen zu sorgen?  ging darum, dass erst die Menschen und dann die po-
Ist es sogar rechtfertigbar, Unterschiede durch leis- litischen Institutionen gerecht sind, weil sich in der 
tungsverbessernde Medikamente auszugleichen? Wie  antiken Vorstellung das Zweite aus dem Ersten ergibt.
stark darf der Staat in die Erziehung der Eltern ein- Auch im Buddhismus herrscht die Idee einer kos-
greifen, um für mehr Chancengleichheit bei den Kin- mischen Ordnung. Diese stellt sich, so die Vorstel-
dern zu sorgen? Müssen Schulen auch erziehen oder  lung, allerdings selbst immer wieder neu her, indem 
nur bilden? So gibt es beispielsweise einen Streit zu der  alle Wesen gemäß ihrem Karma, also der Balance ih-
Frage, ob die Bildungsmöglichkeiten für Kinder unge- rer guten und schlechten Taten, so lange wiedergebo-
fähr gleich gut sein müssen oder ob es reicht, wenn al- ren werden, bis sie Erleuchtung erreichen. Selbst die 
le Kinder hinreichend gute Bildungsmöglichkeiten  körperliche Verfassung und der soziale Status bestim-
besitzen. Davon hängt auch ab, was die konkreten  men sich über ihr Karma, so dass auf sehr differenzier-
Maßnahmen und Institutionen sind, die für mehr Bil- te Weise Lohn und Strafe über die Zeit hinweg gerecht 
dungsgerechtigkeit benötigt werden. Sorgt etwa eine  verteilt werden. Gerechtes Handeln bedeutet dem-
Gesamtschule für mehr Bildungsgleichheit und ist sie  nach ganz allgemein, das moralisch Richtige zu tun, 
daher aus Gerechtigkeitsperspektive zu fordern? und stellt stets eine gute Investition in die Zukunft dar. 
Wenn man eine Weile über die genannten Beispiele  Moderne Buddhisten betonen darüber hinaus die 
nachdenkt und andere Menschen nach ihrer Meinung  wichtige Rolle der Demokratie und der Ehrfurcht vor 
fragt, dann zeigt sich bereits, dass Gerechtigkeit zwar  der Natur als Erfordernisse der Gerechtigkeit, denn
4 I Der Begriff der Gerechtigkeit 
beide leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, mehr  nehmen. Auch das Verhältnis von Gerechtigkeit zu 
Menschen die Möglichkeit zu geben, das Leiden der  anderen wichtigen normativen Konzepten lässt sich 
Wiedergeburt zu überwinden. aufgrund dieser Problematik der Pluralität nur schwer 
In der gegenwärtigen philosophischen Debatte ist  bestimmen. Dennoch sind allgemeine Antworten auf 
für die libertäre Gerechtigkeitstheorie die Idee ent- Fragen wie die folgenden möglich: Was hat Gerechtig-
scheidend, dass die Menschen im Naturzustand sich  keit mit dem guten Leben zu tun? Wie verhalten sich 
selbst besitzen und dadurch auch ein natürliches  Gerechtigkeit und Demokratie zueinander?
Recht am Privatbesitz äußerer Gegenstände erwerben  In Bezug auf die Theorie des guten Lebens werden 
können. Gerechtigkeit herrscht dann, wenn dieser na- gegenwärtig drei Theoriegruppen unterschieden: He-
türliche Besitz respektiert wird. Das muss auch die  donistische Theorien, Wunschtheorien und objekti-
freie Übertragung dieses Besitzes ermöglichen. Unge- vistische Theorien. Hedonistischen Theorien zufolge 
rechter Erwerb oder ungerechte Übertragung sind  ist ein Leben gut, wenn es besonders viel Lust und we-
hingegen auf gerechte Weise auszugleichen. Darüber  nig Leid mit sich bringt. Wunschtheorien gemäß ist 
hinaus gibt es keine Gerechtigkeitsansprüche. Man  ein Leben gut, wenn sich die subjektiven Wünsche ei-
kann die Gerechtigkeit einer Gesellschaft also nicht  nes Menschen erfüllen. Bei objektivistischen Theorien 
daran bemessen, wie gleich oder ungleich die Güter zu  hängt das gute Leben an der Verwirklichung objektiv 
einem bestimmten Zeitpunkt verteilt sind. wichtiger Werte. Aus Gerechtigkeitsperspektive lässt 
Ganz anders stellt sich die Lage aus einer sozialisti- sich bei allen drei Theorien danach fragen, ob die 
schen Gerechtigkeitsposition heraus dar. Die auf Marx  Chancen auf ein gutes Leben gleich verteilt sind. Aus 
zurückgehende Formel ›Jeder nach seinen Fähigkei- Sicht der Theorie des guten Lebens ist der Wert der 
ten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹ verlangt zwar  Gerechtigkeit selbst jedoch unterschiedlich zu beur-
keine absolute Gleichverteilung von Gütern, aber im- teilen. Für hedonistische Theorien ist Gerechtigkeit 
merhin eine Verteilung, die den verschiedenen Be- nur dann ein wichtiger Bestandteil des guten Lebens, 
dürfnissen der Menschen zu jedem Zeitpunkt glei- wenn sie zur Steigerung von Lust und Vermeidung 
chermaßen gerecht wird. Verdienst bestimmt sich in  von Leid führt. Für Wunschtheorien ist Gerechtigkeit 
dieser sozialistischen Vorstellung nicht aus der Ar- nur relevant, wenn sich ein Mensch auch Gerechtig-
beitsleistung, sondern aus den individuellen Bedürf- keit bzw. ein gerechtes Leben wünscht. Allein die ob-
nissen. Eine schwangere Frau beispielsweise hat bei  jektivistischen Theorien sehen in der Gerechtigkeit 
einem höheren Bedarf auch mehr Nahrungsmittel als  üblicherweise einen zwingenden Bestandteil des gu-
eine andere Frau verdient, ganz unabhängig davon, ob  ten Lebens. Wer sich nicht um Gerechtigkeit bemüht, 
sie arbeitet oder nicht. Ihr stehen beispielsweise so  verfehlt demnach, um was es im Leben geht.
viele Nahrungsmittel zu, wie sie braucht, um ein ge- Wie verhält es sich mit Demokratie und Gerechtig-
sundes Kind zur Welt zu bringen. Was der Schwange- keit? Sie stehen in einem gewissen Spannungsverhält-
ren zusteht, bemisst sich an ihren Bedürfnissen und  nis zueinander. Einerseits ergeben sich gerechte Ge-
nicht, wie in der libertären Theorie, an ihrem Ein- setze unmittelbar aus vernünftigen Überlegungen da-
kommen oder ihrem Besitz. Durch die Bemessung  rüber, was gerecht und was ungerecht ist. Andererseits 
der Bedürfnisse lässt sich der sozialistischen Position  sollen in einer Demokratie die Gesetze in demokrati-
gemäß an der Güterverteilung zu einem bestimmten  schen Verfahren bestimmt werden. Dabei ist nicht 
Zeitpunkt feststellen, wie gerecht oder ungerecht die  selbstverständlich, dass sich die politische Mehrheit in 
Gesellschaft ist. Gerecht ist die Gesellschaft, wenn  der Gesetzgebung auch an Gerechtigkeit und nicht an 
die Güterverteilung sich an den Grundbedürfnissen  ihren Gruppeninteressen orientiert. Gleichzeitig ist es 
der Menschen ausrichtet, also etwa niemand Armut  jedoch so, dass die Einrichtung eines demokratischen 
leidet. Staatswesens selbst als Erfordernis der Gerechtigkeit 
Es gibt selbstverständlich noch viel mehr als diese  erscheint. Denn erstens sind demokratische Staaten 
zwei  dargestellten  philosophischen  Gerechtigkeits- besser als andere in der Lage, für Gerechtigkeit zu sor-
konzeptionen und ebenfalls noch viele verschiedene  gen, indem sie besser als andere Systeme Kriege und 
historische und religiöse Ausgangspunkte für die Ge- Hunger vermeiden sowie für Wohlstand und seine 
nese verschiedener Gerechtigkeitsvorstellungen. Des- breite Verteilung sorgen. Zweitens lässt sich argumen-
wegen ist es nicht leicht, abstrakt viel dazu zu sagen,  tieren, dass die möglichst gleiche und weitreichende 
was Gerechtigkeit überhaupt ist, ohne auf die eine  Beteiligung aller Bürger_innen an der kollektiven 
oder andere dieser Positionen unmittelbar Bezug zu  Selbstbestimmung  selbst  einen  Gerechtigkeits-