Table Of ContentHANDBUCH DER LOGIK
VON
DR. N. O. LOSSKIJ
VORM. PROFESSOR AN DER UNIVERSITAT
PETERSBURO
AUTORISIERTE ÜBERSETZUNG NACH DER ZWEITEN,
VERBESSERTEN UND VERMEHRTEN AUFLAGE
VON
PROF. DR. W. SESEMANN
1 927
SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH
ISBN 978-3-663-15359-7 ISBN 978-3-663-15930-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-15930-8
Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1927
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten
VORWORT
Das hier dargelegte System der Logik fußt einerseits auf der
Gnoseologie des In t u i t i v i sm u s, andererseits auf einer i d e a 1-
realistischen Weltanschauung. Die Hauptaufgabe meines
Systems der Logik ist - den Gegensatz von Irr a t ion a 1i sm u s
und Rat ion a li sm u s, von Apo s te rio r i s mus und A p rio r i s -
mus, von Erfahrung und Denken zu überwinden. Der Intuiti
vismus in der Form, wie ich ihn hier vertrete, besagt, daß alle Ge
genstände, die realen wie die idealen, uns in unmittelbarer An
schauung, d. i. in der Erfahrung, gegeben sind. Der Idealrealismus
beruht auf der Einsicht, daß alles Reale von idealen Momenten
durchsetzt ist, von denen einige, sofern sie in das Blickfeld des Be
wußtseins treten, die logische Seite des Urteils und des Schlusses
ergeben. Daher gilt mir auch das primäre Wissen, das bloß die
Daten der sinnlichen Wahrnehmung konstatiert, nicht nur als empi
risch, sondern auch als logisch begründet.
Besonders ist in meinem System der Logik der Begriff des Syn
thetisch-Logischen in den Vordergrund gerückt, der zuerst von Kant
in seiner transzendentalen Logik herausgearbeitet worden ist, aber
bei ihm keine Anwendung auf die Schlußlehre der formalen Logik
gefunden hat. Daher hat Kant auch nicht vermocht, die analytische
Auffassung der formalen Logik, die sich auf die Gesetze der Iden
tität und des Widerspruchs stützt, zu überwinden. Selbst die De
finition betrachte ich als synthetisches Urteil; ebenso suche ich bei
Behandlung der Schlußlehre zu zeigen, daß der Syllogismus ein
synthetisches und nicht ein analytisches System ist.
Die Aufhebung des Gegensatzes von Denken und Erfahrung so
wie die Hervorkehrung in allen logischen Gebilden der synthetisch
logischen Seite, die zugleich eine ontologische Bedeutung hat, führt
zu einer An näh e run g von M a te r i e und F 0 r m und sichert so
die Logik vor einseitigem Formalismus; das kommt besonders in
der Schlußlehre zur Geltung, wo ich neben formal-synthetischen
Schlüssen auch m a t er i e 11-s y n t h e t i s ehe Schlüsse anerkenne; fer
ner auch in der Lehre von der Induktion.
a*
IV Vorwort
Das Kapitel über die Hypothese habe ich so zu behandeln ge
sucht, daß es zeigen soll, wie, trotz des Wechsels der Hypothesen,
trotz ihrer Mannigfaltigkeit und GegeQsätzlichkeit - die Wissen
schaft doch nicht eine nur relativ-gültige, symbolische u. dgl. Kon
struktion des menschlichen Verstandes ist, sondern ein System abso
luten Wissens vom wahrhaften Sein, das zwar noch unvollkommen
und unvollständig ist, aber doch in seiner Entwicklung unentwegt
dem Ideal der absoluten Wahrheit zustrebt.
Das Erscheinen meines Buches in deutscher Sprache freut mich
deswegen ganz besonders, weil meine philosophische Forschung in
engster Fühlung mit der deutschen Philosophie gestanden hat. Ver
gleicht man den intuitivistischen Idealrealismus mit der Phänome
nologie Husserls oder mit der Transzendentalphilosophie unserer
Tage, die sich immer mehr in ontologischer Richtung orientiert, so
weisen diese Strömungen nicht wenige übereinstimmungen und ver
wandte Tendenzen auf. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß der in
tuitivistische Idealrealismus, den ich vertrete, ein Bindeglied zwi
schen dem modernen englisch-amerikanischen Realismus und dem
deutschen transzendentalen Idealismus bildet. Ich hoffe daher, daß
dieses Buch einen ihm geistesverwandten Leserkreis finden wird.
Prag, 15. Oktober 1926.
N. LOSSKIJ
INHAL TSVERZEICHNIS
Seite
Vorwort • .I1I
GNOSEOLOGISCHE EINLEITUNG IN DIE LOGIK
1. Die Gnoseologie als Grundlage der Logik . . . . . . . . . 1
2. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt . . . . . . . . 4
3. Die Struktur des Objektes und des Wissens vom Objekt . . Z1
4. BegriHsbestimmung der Erkenntnispsychologie, der Gnoseologie und
der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
5. Die Logik als theoretische Wissenschaft . . . . . . . . . 69
6. Die Logik als Wissenschaft des Entdedl:ens und Erfindens 71
I. DAS URTEIL. - DER BEGRIFF
1. Die Vorstellung und der Begriff als Elemente des Urteils 76
2. Die logischen Denkgesetze ................. 82
3. Die Begriffstheorien ..................... 108
1. Das Wesen des Begriffs 108. 2. Die ideal-realistische Theorie
des Allgemein begriffs 110. 3. Der Nominalismus 122. 4. Der Kon
zeptualismus 125. 5. Die übereinstimmenden und unterscheidenden
Züge im Nominalismus, Konzeptualismus und Idealismus 131. 6. Die
Abstraktion als Weg zur Ideenerkenntnis 132.
4. Umfang undinhalt des Begriffs. Die Relationen zwischen
Begriffen ............................ 134
5. Die Definition der Begriffe ................. 143
1. Klarheit und Deutlichkeit von BegriHen und Vorstellungen 143.
2. Die Definition 145. 3. Die Nominal- und die Realdefinition, die
kategorische und die hypothetische Definition 147. 4. Die Fehler
in der Definition 149. 5. Die Definition als synthetisdles Urteil 151.
6. Die Division .......................... 163
7. DiE! Form des Urteils ..................... 167
1. Die Quantität des Urteils. Das partikuläre Urteil 167. 2. Die
Qualität des Urteils. Die Relativität der Qualität 175. 3. Die Re
lation des Urteils 181. 4. Die Modalität des Urteils 186. 5. Die
Rl'lationen zwisdlen Urteilen 193.
8. Das nicht-vollentfaltete (unvollständige) Wissen und der
Irrtum . . . . . ....................• 194
9. Eindeutige und mehrdeutige Zusammenhänge im Urteil 199
1. Der Zusammenhang in progressiver und regressiver Richtung 199.
2. Die Mehrdeutigkeit des Zusammenhanges von Prädikat und Ge
genstand 199. 3. Die Unzulänglichkeit der Lehre von der Vielfäl
tigkeit der Ursadlen usw. 201.
VI Inhaltsverzeichnis
11. DER BEWEIS. - DER SCHLUSS
Seite
1. Die unmittelbare Verifizierung der Urteile. . . 207
1. Der Beweis auf Grund unmittelbarer Ansdtauung W. 2. Die in
tellektuelle Ansdlauung (Spekulation) 216. 3. Das Nidlt-vollentlaltet-
sein (die UndiHerenziertheit) der ursprOngIidlen Einzelurteile und
m.
der unmittelbaren Verallgemeinerungen
2. Der Schluß. Die unmittelbaren Schlüsse ......... 233
1. Definition des Sdtlusses 233. 2. Die Sdtlüsse durdl Konversion
in der Darstellung der klassisdlen Logik 234. 3. Die Determiniert-
heit der Termini und Urteile 235. 4. Erklärung der Konversions
regeln 238. 5. Die Fehler in der Konversion 239. 6. Die SdllOsse
durdl Kontraposition 241. 7. Die Lehre der intuitivistisdlen Logik
242. 8. Die Obversion 251. 9. Die Sdllüsse durdt Entgegensetzung
(Opposition) 252. 10. Die Sdllüsse durdl Unterordnung (Subordi
nation) 253.
3. Die Lehre der klassischen Logik vom Syllogismus .... 253
1. Die Struktur und die Figuren des kategorisdlen Syllogismus 253.
2. Die Grundregeln des kategorischen Syllogismus 256. 3. Die all
gemeinen abgeleiteten Regeln des kategorisdlen Syllogismus 259.
4. Charakteristik der ersten und zweiten Figur des Syllogismus 260.
5. Die Regeln der ersten Figur des Syllogismus und ihre Modi 262.
6. Die Regeln der zweiten Figur des Syllogismus und ihre Modi
266. 7. Die Regeln der dritten Figur des Syllogismus und ihre
Modi 268. 8. Die Regeln der vierten Figur des Syllogismus und ihre
Modi 269. 9. Die formalen Fehler in den kategorisdlen Syllogismen
272. 10. Die Reduktion der syllogistisdlen Figuren 275. 11. Der
mnemonisdle Vers der sdlolastisdlen Logik 278. 12. Die hypothe
tisdlen und disjunktiven SyllogilDlen 279. 13. Der hypothetisdl
kategorisdle Syllogismus 280.
4. Die Lehre der intuitivistischen Logik vom Syllogismus. 285
1. Der hypothetisdt-kategorisdle Syllogismus 285. 2. Der disjunk
tiv-kategorisdle Syllogismus 'MI. 3. Der kategorisdle Syllogismus
290. 4. Die problematisdlen SdllOsse. Die Analogie 303.
5. Die Theorien des Syllogismus . . . . . . .. . .., ... 3ffl
1. Die synthetisdle Theorie des Syllogismus. Das Prinzip des Syl
logismus nadl intuitivistisdler Lehre~. 2. Die Lehren vom Prin-
zip des Syllogismus. Die analytisdlen Theorien des Syllogismus
309. 3. MiIIs Lehre vom Syllogismus 332.
6. Die materiell-synthetischen SchlQsse ........... 337
7. Die induktiven Schlüsse ..................• 351
1. Die Methode der Ähnlidlkeit 351. 2. Die DiHerenzmethode (Me
thode des Unterschiedes) 359. 3. Die Methode der einander beglei
tenden Veränderungen 362. 4. Die prinzipiellen Orundlagen der
InduktfonsschlQsse 363. 5. Die Fehler in den InduktionssdllQssen
368. 6. Die Gewißheit der Induktion. Die zusammengesetzten In
duktionsmethoden 370. 7. Die Induktion durdl einfadle Aufzählung
373. 8. Die volle Induktion 375. 9. Die mathematisdle Induktion
:rn.
10. Die Induktion und die Deduktion 384.
8. Die Hypothese ........................ 387
Inhaltsverzeichnis VII
Seite
9. Die Lehre vom Beweis ................... 395
1. Form und Materie des Beweises 395. 2. Der direkte Beweis.
Die Erklärung 396. 3. Der indirekte (apagogische) Beweis 403.
4. Die Widerlegung 405. 5. Die Fehler im Beweise 406.
10. Die logischen Systeme des ideal-realistischen Intuiti
vismus, des individualistischen Empirismus und des
Kantischen Apriorismus . . . . . ......... 411
1. Das logische System des ideal-realistischen Intuitivismus 411.
2. Das oberste Kriterium der Wahrheit 414. 3. Das logische Sy
stem des individualistischen Empirismus 422. 4. Das logische
System des Kantischen Apriorismus 435.
Namenverzeichnis . . . . . . . . . " ............. 446
GNOSEOLOGISCHE EINLEITUNG IN DIE LOGIK
1. DIE GNOSEOLOGIE ALS GRUNDLAGE DER LOGIK
§ 1. In der Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft" spricht Kant
die Meinung aus, daß die Logik, die lediglich "die formalen Regeln
jeglichen Denkens" untersucht, eine Wissenschaft ist, welche allem
Anschein nach in sich abgeschlossen und vollendet sei: "Seit dem
Aristoteles hat sie keinen Schritt rückwärts tun dürfen, aber bis jetzt
hat sie auch keinen Schritt vorwärts tun können." 1)
Nimmt man einen der zahlreichen elementaren Leitfaden de·r
Logik, die heutzutage im Umlauf sind, zur Hand, so könnte man
meinen, die Bemerkung Kants habe auch bis jetzt ihre Geltung be
halten. Kommen doch in diesen logischen Handbüchern meistens
solche Lehren zur Darstellung, die bereits über zwei Jahrtausende
zählen, wie z. B. die Lehre von der Struktur des Syllogismus. Wenn
aber Kant heute auferstünde und sich mit den modernen philoso
phischen Untersuchungen über die Probleme der Logik bekannt
machte, so würde er seine Meinung wohl ändern müssen. Der Ein
fluß der Gnoseologie, der auf dem Gebiete der formalen Logik zur
Geltung gekommen ist, hat diese Wissenschaft wesentlich vertieft,
zugleich aber auch zu einem Zwiespalt der Meinungen, zu einem
Kampf der verschiedenartigsten logischen Theorien geführt.
Es genügt, bloß etwa auf das "System der Logik" von Mill
hinzuweisen und daneben auf die "Logischen Untersuchungen" von
Husserl, oder auf so verschiedene Systeme, wie es die von Lipps,
Schuppe und Sigwart 2) sind, oder endlich in der russischen Lite
ratur auf A. I. Wwedenskis "Logik als Teil der Erkenntnislehre"
und M. I. Karinskis "Klassifikation der Schlußfolgerungen". Ein
Anfänger dürfte in Verzweiflung geraten, wenn er sich voreilig
mit all diesen Werken zugleich befassen wollte. Er würde außer
stande sein, sich durch den Wirrwarr ankämpfender Strömungen
1) K a n t, Kritik der reinen Vernunft, S. 14. (Hartenstein 1853.)
2) T h. Li P ps, Grundsätze der Logik. 3. Auf!. Leipzig 1923. Sc hup p e,
Erkenntnistheoretische Logik; ders.: Logik und Erkenntnistheorie. Si g
wart, Logik.
Lo8klj, Logik 1
2 Gnoseologische Einleitung in die Logik
durchzudringen und die nötige Richtlinie für ein erfolgreiches Vor
wärtskommen zu finden; gleichzeitig würde er mit Entsetzen gewahr
werden, daß sein früherer, aus den elementaren Lehrbüchern der
Logik stammender Wissensbesitz vollkommen erschüttert ist; hat
doch die philosophische Forschung der Gegenwart in alten tausend
jährigen logischen Lehren Fehler und Lücken aufgedeckt, die dem
eigenen Wesen dieser Lehren widersprechen, und mit Evidenz nach
gewiesen, daß selbst die Regeln der formalen Logik (z. B. die Re
geln des Syllogismus), sowohl was ihre Zahl als auch was ihre
Form betrifft, anders darzulegen sind, als es dem Herkommen nach
üblich ist.
Es ist bemerkenswert, daß als eigentlicher Urheber dieses revo
lutionären Zustandes der modernen Logik Kant zu bezeichnen ist,
und zwar insbesondere dasjenige seiner Werke ("Kritik der reinen
Vernunft"), in dessen Vorrede er die formale Logik eine "geschlos
sene und vollendete" Wissenschaft nennt. Es ist dies ein höchst
charakteristisches Beispiel dafür, wie ein großer Denker sich oft
selbst nicht all der Keime einer weiteren Entwicklung bewußt ist.
die in seinen eigenen Entdeckungen schlummern.
Wie ist nun angesichts des in der modernen Logik herrschenden
bellum omnium contra omnes der Inhalt dieser W!ssenschaft dar
zustellen'/ Gewiß nicht so, daß die Divergenzen der verschiedenen
Richtungen dabei vertuscht werden; es gilt im Gegenteil eine der füh
renden Richtungen deutlich herauszuheben, sie mit den an der e n
Richtungen zu vergleichen und ihnen derart gegen
übe r z u s tell e n, daß dem Leser sowohl die kritische Analyse wie
auch die Entscheidung für die eine oder die andere erleichtert wird_
Natürlich ist dabei an eine Darstellung all der zahlreichen vorhan
denen Richtungen in ihrer Gesamtheit nicht zu denken. Ein der
artiger Versuch würde dem harmonischen Aufbau des allgemeinen
Systems der Logik Abbruch tun. In dem vorliegenden Werke soll
ein System der Logik, das in der Erkenntnislehre des Intuitivis
mus 1) begründet ist, zur Darstellung kommen und dabei besonders
der herkömmlichen klassischen Logik gegenübergestellt, zugleich
aber auch mit zwei anderen Richtungen konfrontiert werden, und
zwar einerseits mit der logischen Theorie, die sich auf die Erkennt
nislehre des individualistischen E m pi r i s mus stützt, andererseits
mit derjenigen, die auf dem Kr it i z i s mus Kants beruht. Als Bei-
1) Siehe meine Schriften: "Die Grundlegung des Intuitivismus" und
"Einleitung in die Philosophie", Teil I (in russischer Sprache).