Table Of ContentHandbuch der Kulturwissenschaften
Band 2
Handbuch
der Kulturwissenschaften Band 2
Paradigmen
und Disziplinen
Herausgegeben von Friedrich ]aeger
und ]ürgen Straub
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.ddb.de> abrutbar.
ISBN 978-3-476-01958-5
ISBN 978-3-476-05011-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05011-3
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© 2004 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart2004
www.metzlerverlag.de
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V
Inhalt
Vorwort VII 8.5 Erklären und Verstehen: Tradition, Trans
formation und Aktualität einer klassischen
Kontroverse (Gerhard Schurz) 156
8.6 Quantitative und qualitative Methoden:
Einführung
Methodenpluralismus in den Kultur-
(Friedrich faeger I Jürgen Straub) IX
wissenschaften? (Michael Corsten) 175
7 Kulturwissenschaften und Lebenspraxis 9 Handlungstheoretische Ansätze in den
Kulturwissenschaften
7.1 Stufen der Reflexion: Die Kultur-
wissenschaften in der Kultur 9.1 Die Kulturwissenschaften zwischen
(Hartmut Böhme) 1 Handlungs- und Systemtheorie
7.2 »Praktische Künste« und »kulturelle (Andreas Göbel) 193
Praxis«. Kulturwissenschaftliche 9.2 Handeln in Widerfahrniskontexten. Hand
Reflexionen moderner Sinn-Bildung lungsabsichten, Handlungsbedingungen
(Eckart Pankoke) 16 und Bedingungen von Handlungsabsichten
7.3 Die gesellschaftliche Orientierung der (Werner Greve) 220
Kulturwissenschaften (Elisabeth List) 34 9.3 Sinn, Kultur und »Rational Choice«
7.4 Die Vielfalt der Kulturen und die (H artmut Esser) 249
Methoden des Kulturvergleichs 9.4 Habitus und sozialer Sinn: Der Ansatz
(Jürgen Osterhammel) 50 der Praxistheorie Pierre Bourdieus
7.5 Alltagsweltliche Praxis und Rationalitäts- (Lutz Raphael) 266
ansprüche der Kulturwissenschaften 9.5 Rollen, Rituale und Inszenierungen
(Dietrich Böhler I Micha H. Werner) 69 (Doris Kolesch) 277
9.6 Handeln in Institutionen und handelnde
Institutionen (Uwe Schimank) 293
8 Grundlegende wissenschaftliche 9.7 Kollektives Handeln und kollektive Akteure
Problemstellungen (Frank Adloff) 308
9.8 Die Leiblichkeit des Handeins
8.1 Kultur als Programm - jenseits der Dicho-
(Karl Mertens) 327
tornie von Realismus und Konstruktivismus
(Siegfried J. Schmidt) 85
8.2 Kulturrelativismus der Sprache und
10 Die Kulturwissenschaften und das
Wirklichkeit? (Walter Zitterbarth) 101
Paradigma der Sprache
8.3 Postmoderner Historismus -
Das kollektive Gedächtnis als neues 10.1 Positionen des Verstehens-Hermeneutik
Paradigma der Kulturwissenschaften zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis
(Wulf Kansteiner) 119 (Axel Horstmann) 341
8.4 Geschichten erzählen, Geschichten 10.2 Was ist Neostrukturalismus? Derridas
analysieren. Das narrativistische sprachphilosophische Grundoperation im
Paradigma in den Kulturwissenschaften Ausgang vom klassischen Strukturalismus
(Norbert Meuter) 140 (Manfred Frank) 364
VI Inhalt
10.3 Dekonstruktion - Philosophie? Programm? 11.5 Kultur und Auslegung der Kultur.
Verfahren? (Petra Gehring) 377 Kultursoziologie als sozialwissenschaftliche
10.4 Das Unbewusste als Sprache: Strukturale Hermeneutik
Psychoanalyse (Hans-Georg Soeffner I ]ürgen Raab) 546
(Michael Schödlbauer) 395 11.6 Kulturwissenschaftliche Psychologie
10.5 Wahrheit, Macht, Subjekt. Historische (Jürgen Straub) 568
Kategorien im Werk Michel Foucaults 11.7 Psychoanalyse als Kulturanalyse
(Angelika Epple) 416 (Matthias Kettner) 592
10.6 Perspektiven einer sprachpragmatischen 11.8 Kulturwissenschaftliche Pädagogik
Kulturtheorie (Joachim Renn) 430 (Käte Meyer-Drawe) 602
10.7 Übersetzung als Medium interkultureller 11.9 Kulturwissenschaftliche Ansätze in den
Kommunikation und Auseinandersetzung Literaturwissenschaften
(Doris Bachmann-Medick) 449 (Georg Bollenheck I Gerhard Kaiser) 615
11.10 Kunst, Medien, Kultur.
Konjunkturen des Wissens
11 Kulturwissenschaftliche Methoden (Stefan Rieger) 638
und Ansätze in den Disziplinen 11.11 Protestantische Theologie im Horizont
der Kulturwissenschaften
11.1 Cultural studies - Forschungsfelder
und Begriffe (Heidrun Friese) 467 (Petra Bahr) 656
I I.l2 Philosophie als Theorie der Kultur
11.2 Methodenfragen einer kultur
und der Kulturwissenschaften
wissenschaftlichen Politologie
(Frank Nullmeier) 486 (Oswald Schwemmer) 671
11.3 Der cultural turn in der Ethnologie
und der Kulturanthropologie
(Werner Schiffauer) 502
11.4 Historische Kulturwissenschaft
(Friedrich ]aeger) 518 Autorinnen und Autoren 687
VII
Vorwort
Die Kulturwissenschaften befinden sich momentan ditionen kulturwissenschaftlichen Denkens wurden
in einer ambivalenten Lage. Einerseits gewinnen sie bislang in ausreichender Klarheit herausgearbeitet.
zunehmendes Gewicht für die Prozesse der kulturel Infolge dieser unübersichtlichen Diskussionslage
len Deutung und Orientierung gegenwärtiger Gesell droht »Kultur« zu einem Allgemeinplatz zu werden,
schaften, nicht zuletzt im Kontext der interkulturel der keinerlei analytische Trennschärfe mehr besitzt
len Verständigung in einer globalisierten Welt. An und die Fragestellungen, Perspektiven, Methoden,
dererseits ist ihr fachliches, theoretisches und metho Funktionen und Erkenntnisleistungen der mit ihr be
disches Selbstverständnis keineswegs hinreichend fassten Wissenschaften nicht mehr zu bündeln und zu
geklärt. Auch gibt es derzeit keinen Konsens in der begründen vermag. Damit stehen nicht nur der fach
Frage, ob die Kulturwissenschaften im Sinne einer liche Zusammenhang und die Dialogfahigkeit, son
einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob sie dern auch die Legitimität der Kulturwissenschaften als
in der Pluralität teils traditioneller, teils neuer Fach Instanzen der kulturellen Deutung und Orientierung
wissenschaften betrieben werden sollen. Das vorlie auf dem Spiel. Angesichts dieser schwierigen Situation
gende Handbuch plädiert für den zweiten Weg. Dazu möchte das vorliegende Handbuch, das die Kultur
sollen die trans- und interdisziplinären Fragestellun wissenschaften mit ihren bereits erwiesenen Stärken,
gen, die sich bislang erst sehr vereinzelt bemerkbar aber auch mit ihren offenen Fragen vorstellt und auf
machen, stärker vernetzt werden, um sie als kultur einander bezieht, einen überblick über den Stand der
wissenschaftliche Forschungsperspektiven in den Diskussion bieten, der zu weiterer Klärung und Ko
verschiedenen Disziplinen fruchtbar zu machen. Die operation motiviert. Zu diesem Zweck wurden von
se Tendenz zu einer fächerübergreifenden Koope nahezu einhundert Autoren Beiträge erarbeitet, die
ration entspricht zwar einer seit längerem erhobenen einen weit gefacherten Einblick in Grundfragen der
Forderung, hat sich aber in jüngerer Zeit verstärkt kulturwissenschaftlichen Forschung eröffnen.
und zeitigt ermutigende Ergebnisse. Im ersten Band »Grundlagen und Schlüsselbegrif
Die Schwierigkeit, das interdisziplinäre Profil der fe« wird die derzeitige Lage der Kulturwissenschaften
Kulturwissenschaften und die Spezifik ihrer jeweiligen anband der theoretischen Leitkategorien Erfahrung,
Erkenntnisleistungen zu bestimmen, hat nicht zuletzt Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Ge
mit der wachsenden Internationalität der Diskussion schichte sondiert. Dabei werden diese Begriffe stets
zu tun. Sie hat dazu geführt, dass eine Verständigung auch mit ihrem Gegenstand konfrontiert: mit der
über disziplinäre Strukturen und Abgrenzungen, über »gelebten Kultur« und mit den lebenspraktischen
methodische Konzepte und Forschungsstrategien so Herausforderungen, die sie beinhaltet. Die Konzep
wie schließlich über praktische Aufgabenfelder und tion des Bandes ist von der Oberzeugung geleitet,
Funktionsbestimmungen der Kulturwissenschaften dass die Kulturwissenschaften sich nicht selbst genü
komplexer geworden ist. »Kulturwissenschaften« im gen. Vielmehr sollen sie die dem kulturellen Leben
Sinne deutscher Traditionen des frühen 20. Jahrhun selber inhärenten Ansprüche, Herausforderungen,
derts meinen offensichtlich etwas anderes als die Probleme und Aporien zur Sprache bringen. Ob
»Cultural Studies« britischer und amerikanischer Prä das bislang wirklich in angemessener Weise gesche
gung oder als die aus der Annales-Tradition, der hen ist, wird ausdrücklich zur Diskussion gestellt. In
Phänomenologie oder dem Poststrukturalismus her diesem Sinne präsentieren die Beiträge nicht etwa
vorgegangenen französischen Strömungen kulturwis einen letzten Erkenntnisstand, sondern sollen die
senschaftlichen Denkens. Weder die Verwandtschaf kulturwissenschaftliche Arbeit neu inspirieren.
ten und Gemeinsamkeiten noch die Unterschiede Im hier nun vorliegenden zweiten Band geht
und Divergenzen zwischen diesen verschiedenen Tra- es unter dem Titel »Paradigmen und Disziplinen«
VIII Vorwort
um die epistemologischen, methodologischen und Vielfalt von Positionen, Zugriffen und Disziplinen
fachlichen Grundlagen der Kulturwissenschaften in dokumentiert und ein Beitrag zur Klärung ihres
einem weiten Sinne. Die Hauptthemen sind der Verhältnisses zueinander geleistet werden. Zugleich
Zusammenhang von methodischer Rationalität geht es darum, diese Vielfalt der kulturwissenschaft
und Lebenspraxis, die grundlegenden wissenschaftc lichen Forschung auf übergreifende Fragen und
liehen Problemstellungen, einflussreiche theoreti Problemstellungen hin zu beziehen. Daher wurden
sche Ansätze wie Handlungs- und Systemtheorie, die einzelnen Bände, Kapitel und Artikel des Pro
Sprachptagmatik, strukturalistische und poststruk jekts so weit wie möglich aufeinander abgestimmt,
turalistische Konzeptionen oder allgemein relevante um die Verzahnung der Grundbegriffe, Methoden
Methodenkonzepte. Schließlich werden zahlreiche und Themen der Kulturwissenschaften transparent
traditionelle Disziplinen - teilweise gegen den werden zu lassen.
Strich ihres jeweils dominierenden Selbstverständ Realisiertwerden konnte das Unternehmen allein
nisses - als Kulturwissenschaften präsentiert, wobei aufgrund der engagierten Mitwirkung seiner Auto
sowohl historische Rekonstruktionen als auch sys rinnen und Autoren. Ihnen sei dafür an erster Stelle
tematische Reflexionen angestellt werden. herzlich gedankt. Nur in wenigen Fällen konnten
Im dritten Band »Themen und Tendenzen« liegt ursprünglich vorgesehene Artikel und Themen kei
der Schwerpunkt auf den in den Kulturwissenschaf ne Berücksichtigung finden, da ihre Bearbeiter die
ten gegenwärtig favorisierten und augewandten In zugesagten Beiträge nicht fertig gestellt haben.
terpretationsmodellen von Kultur, Wirtschaft, Ge Der Arbeit der Autorinnen und Autoren gingen
sellschaft, Politik und Recht. In ihm ziehen die jedoch mehrere Schritte voraus, die für die Reali
Autoren eine Zwischenbilanz aktueller Forschungs sierung dieses Handbuchs ebenfalls wichtig waren:
trends und präsentieren wichtige Ergebnisse der Hervorgegangen ist es aus Diskussionen, die seit
empirisch -analytischen Arbeit. 1997 innerhalb der Studiengruppe »Sinnkonzepte
Diese Gliederung soll die Diskussion darüber, was als Iebens- und handlungsleitende Orientierungs
Kulturwissenschaft ist, zusammenfassen und einen systeme« und seit Oktober 1999 zusätzlich in der
überblick bieten, der mehr als nur eine Bestands Studiengruppe »Lebensformen im Widerstreit.
aufnahme darstellt. Sie versucht eine Ordnung in die Identität und Moral unter dem Druck gesellschaft
Debatte zu bringen, die sie einen Schritt weiterführt licher Desintegration« am Kulturwissenschaftlichen
zu einer systematischen Reflexion von Grundlagen, Institut in Essen geführt worden sind. Allen Wis
Kategorien und Erkenntnisfeldern, von transdiszipli senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich
nären Voraussetzungen, Implikationen und Funk entweder als Mitglieder oder als Gäste dieser beiden
tionen des kulturwissenschaftlichen Denkens, von Studiengruppen an der Vorbereitung des Unter
interdisziplinären Konstellationen, Verflechtungen nehmens beteiligt haben, gilt unser Dank.
und Überschneidungen. Schließlich werden mit aus Neben ihnen danken wir den Mitarbeiterinnen
gewählten Forschungsparadigmen auch Praktiken und Mitarbeitern des Kulturwissenschaftlichen Insti
der kulturwissenschaftlichen Erkenntnisarbeit prä tuts in Verwaltung und Bibliothek für ihre Hilfe bei
sentiert. Theoretische Grundlagenreflexion, metho der Durchführung dieses Unternehmens, vor allem
dologische Selbstvergewisserung und forschungs Ursula Sanders für die Sorgfalt und Kompetenz, mit
praktische Erfahrungen werden in ein systematisches der sie für die formale Gestaltung und Vereinheitli
Verhältnis zueinander gesetzt. Dadurch soll die De chung aller Manuskripte gesorgt hat sowie Kerstin
batte um den cultural turn in den Humanwissen Nethövel und Annelie Rammsbrock für ihre Unter
schaften angeregt, erweitert und vertieft werden, - stützung bei der Endkontrolle des Textes. Bernd Lutz
ein Überblick über das Ganze, das dem Einzelnen vom Verlag T.B. Metzler danken wir schließlich für
zugute kommen kann und weitere Erkenntnisfort die verlegerische Betreuung des Handbuchs.
schritte stimulieren soll.
Essen im März 2003
Andererseits soll mit diesem Handbuch kein be
stimmtes Verständnis von Kultur und Kulturwis Friedrich Taeger I Burkhard LiebschI Törn Rüsen I
senschaft festgeschrieben werden. Vielmehr soll die Türgen Straub
IX
Einführung
Friedrich ]aeger I ]ürgen Straub
Der zweite Band dieses Handbuchs der Kulturwis Begriffsbildung und Darstellung verpflichtet sind,
senschaften weist die Kulturwissenschaften als ln die die Entwicklung theoretischer Begriffe und Re
stanzen der methodischen Erforschung und Refle präsentationsformen an die vorwissenschaftliche
xion derjenigen »Kultur« aus, die im ersten Band Praxis bindet, wobei sie durchaus konzedieren
entlang kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe ab mag, dass diese Praxis von wissenschaftlichen, sys
gesteckt worden ist. Er ist dabei im Einzelnen den tematisch-methodischen Bemühungen um Er
lebenspraktischen Kontexten, den paradigmati kenntnis unterschieden bleibt.
schen Methodenkonzepten sowie den disziplinären Ein wesentliches Ziel von Kapitel 7 ist es, die
Ausprägungen der gegenwärtigen Kulturwissen kulturwissenschaftliche Erfahrungs-und Erkenntnis
schaften gewidmet: Kapitel 7 behandelt zunächst bildung als ein Unternehmen darzulegen, das sich in
Grundfragen des Verhältnisses zwischen Kulturwis vielen Hinsichten nur graduell von anderen Formen
senschaften und Lebenspraxis; Kapitel 8 widmet kulturellen Wissens und kultureller Orientierung un
sich in fächerübergreifender Perspektive zentralen terscheidet. Verwandtschaften mit lebensweltlichen
Problemstellungen und Ansätzen kulturwissen Ve rfahren der Reflexion von Sinnstrukturen sind
schaftlicher Arbeit; Kapitel 9 und 10 zielen jeweils nicht zuletzt in genetischen Beziehungen begründet,
auf die handlungs-oder sprachtheoretische Grund ist doch die wissenschaftliche Erkenntnis in der kul
struktur kulturwissenschaftlichen Wissens; in Kapi turellen Praxis der Lebenswelt verwurzelt und dieser
tel 11 steht schließlich seine disziplinäre Verfasst letztlich auch unter pragmatischen Aspekten ver
heit im Vordergrund, so dass der Band auch eine pflichtet. Daran ändert auch die Tatsache, dass die
exemplarisch gehaltene übersieht über fachspezi methodischen Operationen kulturwissenschaftlicher
fische Methoden und Zugriffsweisen der einschlä Forschung in (weitgehend) handlungsentlasteten Si
gigen Disziplinen bietet. Der überblick berücksich tuationen erfolgen und nicht unmittelbar unter Ent
tigt jene Disziplinen, die dem cultural turn der scheidungsdruck und Handlungszwängen vollzogen
letzten Jahre seine wesentlichen Konturen verliehen werden, nichts Entscheidendes. Die Kulturwissen
haben, aber auch solche, die erst allmählich ins schaften haben ihren Ort nicht außerhalb, sondern
Einflussfeld dieser komplex angelegten »Wende<< innerhalb der Kultur.
geraten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage
Epistemologische, methodologische und metho nach den lebenspraktischen Funktionen der Kultur
dische Reflexionen, wie sie in diesem Band ange wissenschaften. Gegenwärtig wird diesen Disziplinen
stellt werden, tragen nicht zuletzt der Tatsache von verschiedenen Seiten eine gewichtige Rolle im
Rechnung, dass »Kultur<< nicht als etwas schlechter kulturellen Haushalt moderner Gesellschaften zuge
dings Vorfindbares, als factum brutum zum Gegen sprochen. Ihre öffentlich erörterten Aufgaben um
stand kulturwissenschaftlicher Erkenntnis werden fassen empirische Forschungen, interpretative Ana
kann, sondern stets im Zuge theoretischer Konzep lysen und politische Aufklärung sowie Kritik und
tualisierungen und methodisch-empirischer Zu Orientierungshilfe (teilweise sogar bis hin zur Poli
gänge thematisch wird. Dies gilt selbst dann, wenn tikberatung) in Konflikt- oder Krisensituationen,
die empirische Arbeit in den Kulturwissenschaften wie sie für moderne, multikulturelle Gesellschaften
den Ansprüchen lebensweltlicher, nicht schon wis und ihr Verhältnis zu ihren Umwehen typisch ge
senschaftlich-methodisch ausgewiesener Erfahrun worden sind. Die gewiss legitimen Ansprüche, die an
gen gerecht zu werden und an diese anzuschließen die Kulturwissenschaften im Sinne des Aufgreifens
sucht. Dies ist etwa. dort der Fall, wo sinnverstehen praktischer Orientierungs-, Verständigungs-und In
de Methoden einer Logik kulturwissenschaftlicher teraktionsprobleme gestellt werden, bergen freilich
X Einführung
auch eine Gefahr in sich. Diese besteht darin, dass Differenzen Möglichkeiten rationaler, nicht von
die Kulturwissenschaften {sukzessiv) ihrer wissen vornherein am starren Maßstab des jeweils »Eige
schaftsspezifischen Autonomie beraubt und einseitig nen« ausgerichteter Kulturvergleiche offen stehen.
für lebenspraktische Interessen in Dienst genommen Wie solche vergleichenden Untersuchungen metho
werden. Dem entgegenzuwirken gehört zu den Auf dologisch konzipiert und methodisch durchgeführt
gaben der heutigen Kulturwissenschaften. Diese werden können, ist eine der wichtigen und keines
müssen in einem Kontliktfeld, in dem sich berech wegs abschließend beantworteten Fragen heutiger
tigte, in der Öffentlichkeit erhobene Legitimations Kulturwissenschaften, die ebenfalls zum Unter
ansprüche allzu leicht in Faktoren der Instrumenta suchungsgegenstand dieses Kapitels gehört.
lisierung verwandeln, das Verhältnis zwischen Wis
senschaft und Lebenspraxis in eigener Regie zu be Eine Erörterung des Verhältnisses von Kulturwis
stimmen suchen. senschaft und Lebenspraxis wäre unvollständig,
wenn nicht auch die Spezifik kulturwissenschaftli
Der innere Zusammenhang zwischen der immanen cher Geltungsansprüche thematisiert würde. Zwar
ten Reflexivität praktischer Lebensvollzüge auf der partizipieren die Kulturwissenschaften an einer im
einen Seite und der methodengeleiteten Reflexion mer schon existierenden inneren Selbstreflexivität
der Kulturwissenschaften auf der anderen legt es der Lebenspraxis und der in ihr präsenten kulturel
ferner nahe, die Kulturwissenschaften als Prob len Sinnkonzepte. Jedoch realisieren und steigern
lemwissenschaften zu charakterisieren: Sie begreifen sie diese Reflexivität auf eine besondere Weise:
kulturelle Konflikte, Krisenerfahrungen und Orien nämlich im Rückgriff auf explizite Theorieannah
tierungsprobleme als Herausforderungen und be men und methodische Verfahren. Sie sind es, die
schreiben bzw. interpretieren sie im Rahmen ihrer den Kulturwissenschaften ein Maß an Reflexivität
methodischen Arbeit. Eine interessante und bislang verleihen, das ihnen einen besonderen Ort im Ge
allenfalls in Ansätzen beantwortete Frage lautet, ob füge einer kulturell immer schon reflektierten Le
sich zwischen dem Wandellebenspraktischer Krisen benspraxis zuweist. Der Frage nach dieser spezifisch
erfahrungen oder Orientierungsprobleme und der methodischen Rationalität der Kulturwissenschaf
Entwicklung der Kulturwissenschaften ein Zusam ten wird vornehmlich im letzten Beitrag dieses Ka
menhang nachweisen lässt. Eine wissenschafts pitels nachgegangen.
geschichtlich informierte Methodologie, die diesen
Zusammenhang zumindest an exemplarischen Fällen Kapitel 8 widmet sich fundamentalen Problemstel
zu rekonstruieren hätte, ließe sich als eine Art kul lungen, die in den aktuellen Debatten einen heraus
turwissenschaftliche »F undamentalheuristik« aus ragenden Stellenwert besitzen und in der Methodo
weisen. Auch zu deren Explikation versuchen die logie, Methodik und Praxis empirischer Forschung
Beiträge dieses Kapitels einen Beitrag zu leisten. ihre Spuren hinterlassen haben. Zu ihnen gehört
etwa der alte, aber bis in die Gegenwart andauernde
Eine besondere Schwierigkeit im Verhältnis zwi Streit darum, ob die Wissenschaften ihren Gegen
schen Kulturwissenschaften und Lebenspraxis hängt stand zumindest partiell erst durch spezifische
mit der Tatsache zusammen, dass Kulturwissen Handlungen, Operationen und Verfahren konstitu
schaften nicht nur disziplinär, theoretisch und me ieren und ob diese wissenschaftlichen Konstituti
thodisch plural strukturiert sind, sondern auch mit ons~ oder Konstruktionsleistungen die Ansprüche
verschiedenen Kulturen und deren Vergleich befasst realistischer Epistemologien und Methodologien
sind. Neben historisch konstituierten Differenzen untergraben. Mit dieser Frage steht nicht zuletzt
finden in jüngerer Zeit verstärkt die Unterschiede der Empiriebegriff selbst auf dem Prüfstand.
synchron existierender Kulturen und ihrer Lebens
formen Beachtung. Im Zentrum steht dabei die Fra· Nicht nur dort, wo eine nomologische Wissen
ge, ob verschiedene Kulturen als heterogene, prinzi schaftsauffassung vorherrschend ist, gehört der
piell inkommensurable Wirklichkeiten aufgefasst Universalismus zu den stillschweigenden metatheo
werden müssen, oder ob trotz aller beobachtbaren retischen Grundannahmen, die die Ziele, die Me-