Table Of ContentALLGEMEINER,  TElL 
VIERTER TElL 
BEARBEITET VON 
K. BIRNBAUM-BERLIN· P. NITSCHE-SONNENSTEIN 
W. VORKASTNER-FRANKFURT A. M. 
BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1929
ISBN-13: 978-3-642-88993-6  e-ISBN-13: 978-3-642-90848-4 
DOl: 10.1007/978-3-642-90848-4 
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER t1BERSETZUNG 
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHAJ,TEN. 
COPYRIGHT 1929 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN. 
Softcover reprint of the hardcover 1s t edition 1929
HANDBUCH  DER 
GEISTESKRANKHEITEN 
BEARBEITET VON 
K. BERINGER· K. BIRNBAUM · A. BOSTROEM . E. BRAUN· A. v. BRAUNMUHL 
O. BUMKE . H. BURGER . J. L. ENTRES . G. EWALD· E. GAMPER . F. GEORGI 
H.W.GRUHLE· E.GRUNTHAL· J.HALLERVORDEN· A.HAUPTMANN· A.HOM· 
BURGER· F. JAHNEL .  W. JAHRREISS . A. JAKOB· H. JOSEPHY . V. KAFKA 
E. KAHN· F. KEHRER· B. KlHN . H. KORBSCH . E. KRETSCHMER · E. KUPPERS 
J.LANGE . W.MAYER-GROSS· F.MEGGENDORFER· K.NEUBURGER· P.NITSCHE 
B.PFEIFER· F.PLAUT . M. ROSENFELD· W. RUNGE · H. SCHARFETTER 
K. SCHNEIDER· F. SCHOB . W. SCHOLZ · J. H. SCHULTZ· H. SPATZ· W. SpmL· 
MEYER· J. STEIN· G. STEINER· F. STERN· G. STERTZ . W. STROHMAYER 
R. THIELE· W. VORKASTNER . W. WEIMANN· A. WETZEL· K.WILMANNS . O.WUTH 
HERAUSGEGEBEN VON 
OSWALD  BUMKE 
M{)NCHEN 
VIERTER BAND 
ALLGEMEINER TElL IV 
BERLIN 
VERLAG  VON JULIUS SPRINGER 
1929
Inhaltsverzeichnis. 
Seite 
Allgemeine Therapie nDd  Prophylaxe der Geisteskrankheiten. Von Ober-
medizinalrat Dr. P. NITSCHE, Sonnenstein  1 
Allgemeine Therapie .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ..  1 
I. Psychische Behandlung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ..  3 
Richtlinien fur die Unterweisung der Pfleger und Pflegerinnen in der aktiven 
Psychotherapie der Geisteskrankheiten .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  31 
1. Beschii.ftigung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  37 
2. Pflege des Gemeinschaftslebens  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  38 
3. Kampf gegen die KrankheitsauBerungen zum W ohIe der Kranken .  39 
II. Physikalisch.diatetische Behandlung.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  45 
1. Hydrotherapie .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  46 
2. Die Frage der Absonderung und andere strittige Fragen.  .  .  .  .  .  52 
3. Bettbehandlung. Andere diatetische und physikalische MaBnahmen.  .  .  .  .  57 
4. Die  therapeutische  Unterbrechung  der Schwangerschaft bei  Geisteskrank-
heiten. Therapeutische Kastration und Sterilisierung .  60 
III. Medikamentose und biologische Behandlungsarten .  64 
IV. Die Anstaltsbehandlung. Die Familienpflege.  .  .  78 
V.  Die offene Fursorge fur Geisteskranke .  .  •  .  .  99 
Allgemeine Prophylaxe der Geisteskrankheiten  103 
Literatur.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  128 
ForeDsische BenrteiJung. Von Professor Dr. WILLI VORKASTNER,  Frankfurt a. M.  132 
I. Stellung des Sachverstandigen im Straf- und ZivilprozeB .  132 
1. Deutsches Recht .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  132 
2. Osterreichisches Recht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  150 
Anhang: Die Gebuhrendes Sachverstandigen.  154 
II.  Strafrecht und StrafprozeB .  .  .  .  .  .  156 
A. Das geltende Recht.  .  .  .  .  .  .  .. .  .  .  156 
1. Deutsches Recht.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  156 
a) Kinder und Jugendliche im Strafrecht  156 
b) Taubstumme.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  165 
c) Zurechnungsfahigkeit  .  .  .  .  .  .  .  .  166 
d) Die Verbrechen an Geisteskranken .  .  .  .  194 
e) Verfall in Geisteskrankheit und Siechtum .  ..  ..  .  ...... 201 
f)  Der Geisteskranke als Beschuldigter, Angeschuldigter, Angeklagter und 
Verurteilter (StPO.).  .  .  .  .  203 
g) Der Geisteskranke als Zeuge .  209 
2. Osterreichisches Recht  210 
3. Schweizer Recht.  .  .  218 
B. Das kommende Recht.  .  223 
1. Deutsches Recht.  .  .  223 
2. Osterreichisches Recht  257 
3; Schweizer Recht (Entwurf 1918).  257 
III. Burgerliches Recht und ZivilprozeBrecht  265 
1. Deutsches Recht.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  265 
a) Allgemein-Juristisches uber Rechtsgeschafte .  265 
b) Die Rechtsgeschafte der Minderjahrigen.  .  .  .  . .  . 267 
c)  Geschii.ftsfahigkeit und Nichtigkeit der Abgabe von Willenserklarungen bei 
voriibergehenden geistigen Storungen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  269
VI  Inhaltsverzeichnill. 
Selte 
d) Entmiindigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwache .  278 
IX) materiell  •  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  278 
/1) formell  ...........•••  291 
y) Rechtswirkungen der Entmiindigung .  302 
e) Wiederaufhebung der Entmiindigung ..  303 
f) Entmiindigung wegen Trunksucht  .  .  .  306 
IX) materiell  .  .  .  .  •  .  •  .  .  .  .  .  .  306 
/1) formell  .•.................  310 
g) Aufhebung der Entmiindigung wegen Trunksucht .  312 
h) VorIa.ufige Vormundschaft  ........... .  313 
i) Pflegschaft.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  314 
IX) Materielles.  .  .  .  .  .  .  .  .  314 
/1) Formelles und Rechtsfolgen.  319 
k) Testierfahigkeit.  .  .  .  .  .  .  .  320 
I) Ehefa.higkeit .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  •  .  .  325 
IX) Nichtigkeit der Ehe wegen geistiger Storung .  .  .  327 
/1) Anfechtung der Ehe wegen Irrtums und Tii.uschung  328 
y) Scheidung auf Grund des Verschuldensprinzips  343 
~) Ehescheidung wegen Geisteskrankheit .  .  346 
e) Abweisung einer Wiederherstellungsk1age  354 
m) Ehereformvorschla.ge  .......... .  354 
n) Deliktsfli.higkeit.  .  .  .  .  .  •  .  .  •  .  .  .  .  355 
0) ProzeBfli.higkeit.  •  •  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  359 
2. Osterreichisches Zivilrecht.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  359 
3. Schweizer Zivilrecht  .  •  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  369 
IV. Anhang:Die straf- und zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Irren-
arztes. .  .  •  .  .  .  •  .  .  376 
Literatur  ........••........•.... .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 379 
Abkiirzungsverzeichnis.  .  .  .  .  .  •  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ~  .  . 388 
Die  Grenzgebiete der Psychiatrie.  Von Professor Dr. KARL BIRNBAUM, Berlin 390 
1.  Die  wissenschaftstheoretische  Stellung  der  Psychiatrie  und  die 
psychopathologischen Teilgebiete.  .  .  .  390 
II. Die  psychiatrischen  Grenzgebiete .  .  .  .  •  .  .  •  .  •  •  .  393 
1. Allgemeine Kennzeichnung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ..  393 
2. Die einzelnen psychiatrischen Grenzgebiete .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ..  396 
a) Das sozialpsychopathologische Grenzgebiet und seine Untergruppen.  397 
b) Das kulturpsychopathologische Grenzgebiet und seine Untergruppen.  405 
Literatur.  .  .  .  .  .  413 
N amen ver z eichnis  415 
Sachverzeichnis  •  419
Allgemeine Therapie und Prophylaxe der 
Geisteskrankheiten. 
Von 
PAUL NITSCHE 
Sonnenstein. 
Allgemeine  Therapie. 
Die  Voraussetzung  fiir  eine  Heilwirkung therapeutischer MaBnahmen ist, 
daB sie gegen die Entstehungsbedingungen der Krankheit gerichtet sind, daB 
sie den eigentlichen KrankheitsprozeB unmittelbar beeinflussen,  zum Stillstand 
und zur Riickbildung bringen.  Somit ist das arztliche  Bestreben darauf ge 
richtet, fiir jede Krankheit eine kausale Therapie zu finden.  1st das nicht moglich 
- weil die Ursachen oder die Art des die klinischen Symptome bedingendenKrank 
heitsvorganges nicht bekannt sind oder weil es keine Mittel gibt, ihnen beizu 
kommen, so kann die Behandlung nur Linderung, Milderung der Krankheits 
erscheinungen erzielen, nur symptomatisch sein. 
In diesem FaIle befinden wir uns heute noch gegeniiber der groBen Mehrzahl 
der  Geistesstorungen.  Ihre  Behandlung  ist  zur  Zeit  noch  ganz  vorwiegend 
symptomatisch.  Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daB ganz allgemein 
in der Medizin manchmal therapeutische MaBnahmen, die zunachst nur gegen 
ein einzelnes Symptom gerichtet sind,  mittelb ar doch  den Krankheitsvorgang 
selbst angreifen und giinstig beeinflussen.  So ware es immerhin auch denkbar, 
daB  z. B.  bei manischen Erregungszustanden die Dampfung der psychomoto 
rischen Erregung  auf Umwegen  ("Kraft"-Ersparnis,  Schonung  des Herzens, 
Milderung der Affekte und dadurch giinstige Beeinflussung der der Krankheit 
zugrunde liegenden korperlichen Prozesse usw.)  auf den unbekannten eigent 
lichen  Krankheitsvorgang  heilsam  zuriickwirkt,  - ganz  abgesehen  davon, 
daB  die  moderne  symptomatische  Behandlung  z. B.  der  Erregungszustande 
bei heilbaren Krankheitsformen viele Kranke am Leben erhalt und also  zur 
Genesung  bringt,  die  in friiheren  Zeiten infolge  von  unzweckmaBigen  MaB 
nahmen an interkurrenten korperlichen Krankheiten (Pyamie, Infektionskrank-
heiten usw.) in der Psychose zugrunde gingen.  . 
Eine kausale Therapie ist in einer Anzahl von psychiatrischen Krankheits 
fallen moglich, die aber in der Gesamtheit der verschiedenen Formen psychischer 
Krankheit, wie schon erwahnt wurde, zahlenmaBig zuriicktreten.  Wir konnen 
bei toxischen Erkrankungen wie manchen Alkoholpsychosen in gewissem Sinne 
kausal-therapeutisch wirken, wenn es uns gelingt, die Kranken des  Giftes zu 
entwohnen.  Wir konnen es da, wo operative Eingriffe bei groben Hirnerkran 
kungen,  z. B.  bei Hirntumoren, Erfolg versprechen.  Man hat bei Psychosen, 
die im ursachlichen Zusammenhang mit Morbus Basedowii stehen, verschiedent 
lich durch eine gegen dieses  Grundleiden gerichtete Therapie Erfolge erzielt. 
Handbuch der Gelsteskrankhelten. IV.  1
2  PAUL NITSCHE: Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten. 
Vielfach  sind  psychische  Storungen  bei  syphilitischer  Hirnerkrankung  einer 
antisyphilitischen  Behandlung  zuganglich;  und  auch  die  neue  Therapie  der 
progressiven Paralyse durch kiinstliche  Erzeugung fieberhafter  Prozesse  darf 
wohl unter die kausalen Behandlungsarten gerechnet werden.  Endlich ist ihnen 
die  Psychotherapie reaktiver,  psychisch  bedingter seelischer  Storungen zuzu 
zahlen, insofern es durch sie vielfach moglich ist, durch Beseitigung oder Aus 
gleich der solche  Storungen auslosenden und unterhaltenden seelischen Span 
nungen und Traumen heilend oder bessernd zu wirken. 
Galli  allgemein  besteht aIle  arztliche  Krankimbehandlung  einmal  in der 
Vornahme therapeutischer Eingriffe irgendwelcher Art - handele es sich nun 
um mechanische Eingriffe (Operationen' usw.), um Anwendung chemischer oder 
biologischer Mittel (Arzneien, Schutzstoffe usw.), um physikalische Prozeduren, 
um psychische Einwirkung oder dergleichen -, zum anderen aber in einer zweck 
maBigen  Regulierung  der  Funktionen  des  erkrankten  Organes  oder  Organ 
systems im Sinne der Schonung oder mung. 
Das gilt im groBen ganzen auch ffir  die psychiatrische Therapie.  Die Re 
gulierung der Funktionen spielt hier eine groBe Rolle.  Auf sie laufen z. B. aIle 
die MaBnahmen hinaus, die die Beziehungen des Kranken zur Umwelt betreffen: 
die zweckmaBige Art, mit ihm umzugehen, seine Entfernung aus dem Berufs 
verhaltnis und aus seiner gewohnlichen Umgebung, seine merfiihrung in eine 
Anstalt u. a. m. 
Bei den Geisteskrankheiten kommt ffir  die Haltung des Arztes gegeniiber 
dem Kranken nun aber noch ein Moment in Betracht, das bei den korperlichen 
Krankheiten nur selten und in eng begrenztem MaBe wirksam ist, - ein Moment, 
welches mit der eigentlichen Therapie nichts zu tun hat, welches die therapeu 
tischen MaBnahmen leider nicht selten erschwert oder durchkreuzt und zu den 
therapeutischen Gesichtspunkten vielfach als ein mitbestimmender Faktor von 
praktischer Bedeutung hinzutritt. 
Durch die Psyche ist der einzelne Mensch ein Glied der Gemeinschaft, der 
er angehort.  Von dieser Gemeinschaft (Familie, Berufskreis, Gemeinde,  Staat 
usw.)  ist er nicht nur abhangig, sondern es gehen auch umgekehrt von ihm 
Wirkungen auf diese  Gemeinschaft aus.  Diese Wirkungen nehmen durch die 
geistige  Storung nicht  selten  einen gemeinschaftsschadigenden  Charakter an. 
Dann hat das. arztliche Handeln nicht lediglich die individuellen Interessen des 
Kranken, sondern auch die der Gesamtheit zu beriicksichtigen.  So riickt gegen 
iiber dem Geisteskranken sehr oft der Gesichtspunkt des Wohles der Allgemein 
heit in den Vordergrund, welcher, wie gesagt, in der somatischen Medizin nur 
in beschranktem MaBe in Betracht kommt (z. B. gegeniiber Dauerausscheidern 
pathogener  Mikroorganismen,  Bazillentragern,  gegeniiber  Individuen,  die  an 
zu epidemischer Ausbreitung neigenden Krankheiten leiden oder einer solchen 
Krankheit verdachtig sind). 
. Aus diesem ganzen Sachverhalt ergeben sich Komplikationen ffir das arzt 
liche Handeln und Schwierigkeiten, wie sie in diesem l\laBe nur der Irrenheil 
kunde eigentiimlich sind. 
Dazu kommt noch etwas anderes.  Die Geisteskranken sind in einer groBen 
Zahl der FaIle nicht Patienten, welche das Gefiihl der Hilfsbediirftigkeit und die 
Einsicht ,in die Notwendigkeit arztlichen Beistandes haben.  Diese Hilfe muB 
ihnen vielfach gegen ihren Willen zuteil werden. Dann laBt sich eine Beschran 
kung der personlichen Freiheit vielfach nicht umgehen.  Damit erhalt das arzt 
liche Handeln in den Augen des Patienten den Anschein von gegen ihn, gegen 
sein Interesse gerichteten MaBnahmen.  Aber nicht nur dem Kranken gegeniiber 
kommt der Arzt auf diese Weise in ein falsches Licht.  Die Tatsachen, welche
.Allgemeine Therapie.  Psychische Behandlung.  3 
zu solchen Eingriffen in die personliche Freiheit eines Geisteskranken notigen 
und berechtigen, liegen vielfach nicht fiir jedermann ohne weiteres erkennbar 
zutage.  Die krankhaften Erscheinungen zeigen sich oft nicht so sehr am Patien 
ten, wie er dem Beurteiler in einem gegebenen Zeitpunkte unmittelbar gegeniiber 
tritt, sondern in seinen Handlungen im Leben; Wahnideen halten sich inhaltlich 
nicht selten im Rahmen des Moglichen und konnen dann nur bei genauer Kennt 
nis der Lebensbeziehungen des Kranken und auf Grund psychiatrischen Wissens 
als krankhaft erkannt werden; die Patienten fassen das,  was mit ihnen vor 
genommen wird,  haufig falsch  auf oder bewahren daran eine unrichtige Er 
innerung, geben dann nicht zutreffende Schilderungen davon u. a. m. 
Alles das bildet Quellen des MiBverstandnisses und von Irrtiimern.  Rechts 
fragen spielen in die Praxis des Irrenwesens fortwahrend hinein.  So breitet sich 
um das arztliche Handeln am Geisteskranken eine Sphare der Unsicherheit der 
Beurteilung und der MiBdeutungsmoglichkeiten aus, die der Stellung der Irren 
heilkunde im offentlichen Leben ein besonderes  Geprage verleiht.  Jedenfalls 
aber bedeutet die Tatsache, daB der Psychiater bei seinem arztlichen Handeln 
auBer den rein therapeutischen Zielen oft auch das der Sicherung im Auge haben 
muB und daB nicht selten die aus diesen beiden Gesichtspunkten sich ergebenden 
Folgerungen einander in gewissem MaBe widerstreiten, eine besondere Eigentiim 
lichkeit und eine besondere Schwierigkeit der praktischen Irrenheilkunde. 
Da die  Behandlung  der  Geisteskrankheiten,  wie  gesagt,  heute noch  vor 
wiegend symptomatisch ist,  so  macht  das,  was  die  allgemeine psychiatrische 
Therapie zu lehren hat, einen sehr wesentlichen Teil des therapeutischen Appa 
rates iiberhaupt aus.  1m groBen ganzen ergeben sich fiir die Behandlung der 
einzelnen  psychischen  Krankheiten  nur  Abwandlungen  der  allgemeinen  Be 
handlungsgrundsatze. 
Dem Zwecke eines Handbuches gemaB solI im folgenden das, was seit langem 
fester  Besitz und allgemein anerkannt ist,  kurz  behandelt werden,  wahrend 
neuere  Fragen und Methoden ausfiihrlicher  zu  erortern  sein werden.  Dabei 
sollen auch solche neueren Verfahren und therapeutischen Versuche zur Sprache 
kommen,  iiber die noch keine geniigenden  Erfahrungen vorliegen,  sofern sie 
aus  dem  oder  jenem  Grunde  wichtig  und beachtlich  erscheinen.  Eigentlich 
organisatorische,  anstaltstechnische  und  bauliche  Fragen  scheiden  als  nicht 
in den Rahmen dieses Abschnittes gehorend aus und werden nur da, wo es un 
bedingt notig ist, gestreift. 
I. Psychische Behandlung.
1 
Das  Gebiet,  auf dem die Psychotherapie ihre groBten Erfolge erzielt,  ist 
bekanntlich das der Neurosen.  Hier ist sie in allen ihren einzelnen Formen die 
vornehmste, sich unmittelbar aus der Pathogenese der Krankheiten ergebende 
Behandlungsart. 
Es folgt schon aus der ganz andersartigen Entstehungsart der iiberwiegenden 
Mehrzahl der eigentlichen Geisteskrankheiten, daB  diese keinen so dankbaren 
Gegenstand fiir die psychische .B  ehandlung bilden konnen.  Zudem fehlen bei 
ihnen, wie SCHULTZ sagt, meistens die fiir die Anwendung der Psychotherapie 
so notwendigen Voraussetzungen der Einsicht und Bildsamkeit. 
Dennoch ware es ein Irrtum, den Wert einer Psychotherapie der Geistes 
krankheiten zu unterschatzen.  Genau  betrachtet,  spielte  die· psychische. Be 
handlung ja schon immer eine Rolle in der Irrenheilkunde; allerdings weniger 
in der Form der "direkten", aktiven Methoden,  die die Neurosenbehandlung 
1  Vgl. hierzu auch die Ausfiihrungen S. 71£f. und 82ff. 
1*
4  PAUL NITSCHE: Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten. 
beherrschen,  als  in  Gestalt  mittelbaren,  indirekten  Verfahrens.  FaBt  man, 
von einer solchen Betrachtungsweise ausgehend, den Begriff der Psychotherapie 
weit genug, so weit wie es notig und richtig ist, so muB man ihm sogar eine grund 
legende  Bedeutung  in  der  Behandlung  der  Geisteskrankheiten  zuerkennen. 
Neuerdings findet diese Tatsache immer mehr Beachtung.  Wir sehen, wie von 
verschiedenen Seiten her zielbewuBte Versuche eines aktiveren psychotherapeu 
tischen Verfahrens aufgenommen worden sind.  Unleugbar sind auch selbst bei 
den endogenen Geistesstorungen beachtliche symptomatische Erfolge festzustellen. 
Halt man sich die ja eigentlich ganz banale Tatsache vor Augen, daB alles, 
was wir erleben, auf unsere Psyche zuriickwirkt, unser Seelenleben irgendwie 
beeinfluBt  - Erleben ist eben solche Riickwirkung  oder Wechselwirkung -, 
so  muB  man feststelIen,  daB  auch aIle von auBen angeregten Erlebnisse der 
Geisteskranken, soweit bei diesen noch irgendeine Verbindung mit der AuBen 
welt besteht, auf ihren Seelenzustand einwirken miissen,  - bald mehr,  bald 
weniger stark, nachhaltig und deutlich.  Daher gehort es zu den therapeutischen 
Aufgaben, die Erlebnisse der Kranken moglichst zweckmaBig zu gestalten, und 
so hat alles, was der Arzt mit ihnen vornimmt, eine unter psychotherapeutischem 
Gesichtspunkt  beachtliche  Seite,  nur  daB  der  psychotherapeutische  Erfolg 
nach Art und Grad ganz verschieden  sein kann je nach der Art  des krank 
haften Zustandes und nach der Art des Erlebnisses oder der Einwirkung.  Die 
Hyoscin-Injektion z. B., durch die ich eine psychische Erregung fiir einige Zeit 
unterdriicke und die diese Wirkung auf rein chemischem Wege erzielt, ist fiir den 
Kranken zugleich ein psychischer Reiz, den er je nach den in seinem Zustande 
gegebenen Bedingungen verschieden verarbeiten wird: er kann durch die In 
jektion in Angst versetzt werden, er kann ihr zornig widerstreben; er kann durch 
die Erinnerung an gewisse unangenehme subjektive Nebenwirkungen des Mittels 
veranlaBt werden, sich hinsichtlich der .xuBerungen seiner Mfekte Hemmungen 
aufzuerlegen,  um eine  abermalige  Injektion zu vermeiden u. a. m.  Die  ziel 
bewuBte Versetzung eines Geisteskranken in eine bestimmte Umgebung ist ein 
psychotherapeutischer Akt.  Der richtige Umgang mit den Kranken ist Psycho 
therapie. Die Behandlung des Patienten in einer Anstalt, in der aIle Einrichtungen 
dem Zustande geisteskranker Menschen angemessen sind, ist zum groBen Teil, 
auch ohne daB bestimmte "direkte" psychotherapeutische Methoden angewandt 
werden, seelische Behandlung; sie ist es schon allein durch die Art der Umwelt 
gestaltung in der Anstalt, durch das Verhalten des Arztes und des geschulten 
Pflegepersonals, durch die Fernhaltung der Reize des taglichen Lebens, durch 
die Unterbrechung der Berufstatigkeit und vieles andere mehr.  Akte seelischer 
Behandlung sind aber z. B. auch die Entlassung aus der Anstalt zur richtigen 
Zeit,  die  Vermittlung  einer  geeigneten  Erwerbstatigkeit,  die  Versetzung  in 
Familienpflege. 
Eine so  weite Fassung des  Begriffes  der  Psychotherapie richtet die Auf 
merksamkeit auf die Wichtigkeit aller auBeren Einfliisse und Erlebnisse fiir das 
Befinden und das Verhalten der Geisteskranken nachdriicklich hin.  Sie hat den 
Vorteil, das Auge und das Gewissen des Arztes fiir jene, lange Zeit nicht bewuBt 
genug ins Auge gefaBte Tatsache zu scharfen, daB wir in allen Umwelteinfliissen 
Reize zu erblicken haben, die auf das Verhalten der Geisteskranken und damit 
innerhalb gewisser Grenzen auf ihren Zustand einwirken, die, je nachdem wir 
diese Umwelteinfliisse zweckmaBig gestalten oder zweckwidrig sein lassen, von 
giinstiger oder ungiinstiger Wirkung sind. 
Freilich  kann seelische  Behandlung eigentlich  kausal und damit wirklich 
tiefer greifend oder gar heilend nur bei psychisch bedingten seelischen Anoma 
lien wirken.  Doch  darf ihre lindernde,  mildernde  und bessernde  Bedeutung
.Allgemeine Therapie.  Psychische Behandlung.  5 
auch  fiir  die endogenen und organischen Psychosen  keineswegs unterschatzt 
werden.  Die giinstige Anderung, die der Zustand der Kranken auch bei diesen 
letzteren Krankheitsformen durch die Vberfiihrung der Patienten in eine gute 
Anstalt oft bald erfahrt, ist allein schon ein Beweis hierfiir.  Handelt es sich bei 
dieser psychotherapeutischen Beeinflussung der schweren  Geistesstorungen im 
wesentlichen also nur um symptomatische Erfolge, so ist doch die Vermutung 
nicht von der Hand zu weisen, daB, wenigstens bei zur Heilung neigenden Fallen, 
eine gewisse Einwirkung auf den KrankheitsprozeB dabei bisweilen statthaben 
kann.  Dieser Meinung ist z. B. KRAEPELIN, wenn er in bezug auf die zweckmaBige 
Art des Umganges mit den Kranken sagt:  "Vielleicht sind alle diese kleinen 
taglichen  Bemiihungen,  die  psychischen  Spannungen auszugleichen,  doch  bis 
zu einem gewissen Grade geeignet,  den natiirlichen Heilungsvorgang zu unter 
stiitzen.  Wir diirfen das wenigstens schlieBen aus der Erfahrung, daB verkehrte 
psychische Behandlung, wie sie bisweilen durch Angehorig~, schlechtes Personal 
oder andere Kranke geiibt wird,  ohne jeden Zweifel  die Krankheitszustande 
nachhaltig verschlimmern kann."  Und F. KEHRER  sagt geradezu, im Lichte 
der uralten Beobachtung iiber die Beeinflussung von gewohnlich dem bewuBten 
Denken und Wollen entzogenen korperlichen Apparaten durch auBere Sinnes 
und  Gemiitseindriicke gewinne  der  Gedanke greifbarere  Gestalt,  "daB durch 
geschickte systematische Kombinierungen verschiedenartiger, u. U. fortgesetzter 
Mfekterregungen bei  allen moglichen Krankheitszustanden Umstimmungen des 
neurovegetativen Apparates herbeizufiihren seien,  die ihrerseits einen giinstigen 
Boden fiir  andersartige seelische Einwirkungen schaffen." 
Die psychische Behandlung der Geisteskranken fangt also an mit der rich 
tigen Art, mit ihnen umzugehen.  Von so groBer Bedeutung diese ist, so kann man 
doch rein theoretisch allgemeine Regeln dafiir bekanntlich nur in groBen Um 
rissen aufstellen; und da ist die grundlegende Forderung die, daB jede getiihl.s 
maf3ig zurechnende, moralisierende Stellungnahme unterbleibe. Wenn SIMON mit 
Recht  sagt,  man  solIe  auch  den Geisteskranken im Rahmen psychotherapeu 
tischer Erziehung nicht als schlechthin unverantwortlich betrachten, so wider 
streitet das jener Forderung keineswegs.  Denn  eben  nur das gefiihlsmaBig 
instinktive, reaktive, nicht das planmaBig erzieherische Zurechnen in arztlicher 
Absicht ist verpont.  Die Einstellung des Menschen zur AuBenwelt ist grundsatz 
lich wertend. Wie wir die Wirkungen, die die "AuBendinge" auf unseren Wahr 
nehmungsapparat ausiiben, ihnen als "Eigenschaften" zuschreiben, so verlegen wir 
auch die Reflexe des Verhaltens unserer Mitmenschen auf unsere personliche Sphare 
als Wesensqualitaten in sie hinein, wobei besonders unser subjektives "Interesse" 
richtunggebend ist.  Das uns Forderliche und FreundHche am Verhalten des an 
dern beantworten wir, indem wir ihm "Giite" zuschreiben und, was das Wesent 
liche ist, mit Gefiihlen der Zuneigung und des W ohlwollens ihm gegeniiber reagie 
ren,  wahrend wir auf beeintrachtigende  Einwirkungen des Mitmenschen  mit 
entgegengesetzter Stellungnahme und mit Abwehrtendenzen antworten.  Diese 
instinktive Reaktionsweise, die bei den verschiedenen Menschen in ganz ver 
schiedenen Graden tief verankert ist, muB dem Geisteskranken gegeniiber vor 
alIem auBer Funktion gesetzt werden.  Manche Menschen sind dazu nicht fahig, 
und sie sind daher auch ungeeignet zur Behandlung und Pflege psychisch Kran 
ker.  Viele konnen diese Ausschaltung primitiver Regungen bis zu einem ge 
wissen Grade erlernen, wenigstens insoweit, daB sie den gewohnlichen beruflichen 
Anforderungen der Irrenbehandlung und -Pflege geniigen.  Zu einer souveranen 
Beherrschung alIer der Krafte aber, die im zweckmaBigen Umgange mit den 
Geisteskranken wirksam werden konnen, wird nur der gelangen, dem die beson 
dere Fahigkeit dazu angeboren ist.  Es handelt sich dabei ja keineswegs nur um