Table Of ContentHANDBUCH DER
GEISTESKRANKHEITEN
BEARBEITET YON
K BERINGER· K BIRNBAUM· A. BOSTROEM . K BRAUN· A. v. BRAUNMDHL
O. BUMKE . H. BDRGER . H. CREUTZFELDT . J. L. ENTRES . G. EWALD
E. GAMPER . F. GEORGI· H. GRUHLE . E. GRDNTHAL . J. HALLERYORDEN
A. HAUPTMANN· A. HOMBURGER . F. JAHNEL . W. JAHRREISS . A. JAKOB
H.JOSEPHY·Y.KAFKA·E.KAHN·F.KEHRER·B.KIHN·H.KORBSCH·E.KRETSCH
MER·E.KDPPERS·J.LANGE ·W.MAYER-GROSS ·F.MEGGENDORFER· KNEU
BDRGER . P. NITSCHE· B. PFEIFER· F. PLAUT· M. ROSENFELD· W. RUNGE
H.SCHARFETTER·KSCHNEIDER·F.SCHOB·W.SCHOLZ·J.H.SCHULTZ·H. SPATZ
W. SPIELMEYER· J. STEIN· G. STEINER· G. STERTZ . W. STRORMAYER . R. THIELE
W. YORKASTNER . W. WEIMANN· A. WETZEL· K. WILMANNS . O. WUTH
HERAUSGEGEBEN VON
OSWALD BUlVIKE
MUNCHEN
DRITTER BAND
A LLOEl\iEINER TELL III
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1928
ALLGEMEINER TElL
D RITTER TElL
KORPERLICHE STORUNGEN
BEARBEITET VON
F. GEORGI-BRESLAU . V. KAFKA-HAMBURG
E. KUPPERS-FREIBURG I. BR. . M. ROSENFELD-ROSTOCK
O. WUTH-MUNCHEN-KREUZLINGEN
MIT 77 ABBILDUNGEN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1928
ISBN- 13: 978-3-642-88992-9 e-ISBN- 13: 978-3-642-90847-7
DOl: 10.1007/978-3-642-90847-7
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ttBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
COPYRIGHT 1928 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN.
SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER 1ST EDITION 1928
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Korperbau und seelische Anlage. Von Privatdozent Dr. F. GEORGI, Breslau.
(Mit 23 Abbildungen). ... . . . . . . . . . . . . . . . . .. I
A. Historische Vorbemerkungen . . . . . . . . I
B. Allgemeine Konstitutionsfragen . . . . . . . 6
C. Korperbauuntersuchungen nach KKETSCHMER 9
I. ~Iethodik. . . . . . . 9
II. Korperbau-Typen . . . 17
1. Pyknischer Habitus . 20
2. Leptosomer Habitus. 25
3. Athletischer Habitus. 30
4. Dysplastischer Habitus. 34
a) Der eunuchoide Hoch- und der polyglandulare Fettwuchs 34
b) Hypoplasien (Infantilismen). . . . . . '.' 36
III. KorperbaumaI3e der 3 Konstitutionstypen ... . 37
IV. Korperbau und seelische Anlage ........ . 39
V. Ausbau und Kritik der modernen Korperbaulehre 42
Literatur ............. '.' ...... . 57
Die nenrologischen Storungen bei Geisteskrankheiten.
Von Professor Dr. M. ROSENFELD, Rostock . 62
Einleitung . . . . . . . . . . . . 62
1. Die Storungen der Sprache . 64
2. Die Storungen der Schrift. . 70
3. Rechts- und Linkshandigkeit. 72
4. Die Rechts- Links-Blindheit. 74
5. Motorische Storungen. • . . 75
Motorische Varianten der epileptischen Anfalle 78. - Mitbewegungen 79.
Ticbewegungen 79. - Katalepsie (tonische Perseveration) 80. - Adiadocho
kinese (BABINSKI) 81. - Motorische Riickstandigkeiten 81. - Myoklonie 83.
- Zitterbewegungen 83. - Seelenlahmung 84.
6. Gleichgewichtsstorungen und Schwindelempfindungen . . . . . . . . . . . 84
7. Die Rhythmik Geisteskranker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
8. Storungen der Pupillenbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 86
Die Storungen der Akkomodation 86. - Die Form der Pupillen 87. - Die
Anisokorie 87. - Die Pupillenweite 87. - Die Konvergenzreaktion der
Pupillen 88. - Das Orbicularisphanomen der Pupille 89. - Der galvanische
Lichtreflex der Pupille 89. - Die Pupillenunruhe und die Psychoreflexe 89.
- Die Pupillen im Schlaf 90. - Der oculopupillare Reflex und die
Schmerzreaktion 90. - Die Angstpupillen 91. - Die willkiirliche Pupillen
erweiterung 91. - Die reflektorische Pupillenstarre (ARGYLL-RoBERTSON)
92. - Die absolute Pupillenstarre 93. - Die paradoxe Pupillenreaktion 94.
- Die katatone Pupillenreaktion 94. - Das vagotonische Pupillenphano
men 95. - Die myotonische Pupillenreaktion 95. - Krampfzustande im
Sphincter pupillae 95. - Der Hirnrindenreflex von HAAB oder der Vo r
stellungsreflex von PILTZ 95. - Hemianopische Pupillenstarre 96.
9. Das Augenzittern (Nystagmus) .................... . 96
10. Die Haut- und Sehnenreflexe und verwandte Phanomene ......... . 97
II. Die Storungen der elektrischen und mechanischen Erregbarkeit der Nerven und
Muskeln ........... . 101
12. Blasen- und Mastdarmstorungen . • 103
13. Sehstorungen ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Augenmuskellahmungen 106.
VI Inhaltsverzeichnis.
Seite
14. Hiirstiirungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 108
15. Geschmacks· und Geruchsstiirungen . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109
16. Sensibilitatsstiirungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Taktile Agnosie und Stereoagnosie 112. - Thalamisch·subcorticale Sensibili
tatsstiirungen 113. - Hysterische Sensibilitatsstiirungen 114.
17. Stirnhirnsyndrome 115
18. Balkensyndrome . 116
19. Ventrikelsyndrome 117
20. Migranesyndrome . 117
Literatur. . . . . . . . 121
PuIs. Blutdruck. Vasomotorische Storungen. Blutverteilung.
Von Professor Dr. E. Kii:PPERS, Freiburg i. Br. (Mit 7 Abbildungen.) . 130
I. Allgemeine Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
II. PuIs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
1. Die Abhangigkeit des Pulses yom seelischen Geschehen im allgemeinen . 132
2. Der PuIs bei Neurosen und Psychosen. . . . . . . . 134
III. Blutdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
1. Blutdruck und psychisches Geschehen im allgemeinen 136
2. Der Blutdruck bei Neurosen und Psychosen . 137
IV. Vasomotorische Stiirungen. . . . . . . . . . . . . . 138
V. Blutverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
1. Blutverteilung und psychlsches Geschehen im allgemeinen . 141
2. Die Blutverteilung bei Psychosen . . . . . . . . . . . 145
Literatur ......................... 152
Korpergewicht. Endokrines System. Stoffwechsel. Von Professor Dr. O. WUTH,
Miinchen-Kreuzlingen. (Mit 17 Abbildungen.) 154
I. Kiirpergewicht . . . . . . . . 154
1. Manisch-depressives Irresein. 155
2. Schizophrenie . . . . . . . 156
3. Epilepsie . . . . . . . . . 157
4. Paralyse. . . . . . . . . . 157
5. Organische Rirnerkrankungen . 159
6. Zusammenfassung 159
II. Endokrines System. . 160
III. Stoffwechsel . . . . . 164
1. Progressive Paralyse 164
2. Schizophrenie . . . 170
3. Manisch-depressives Irresein. 179
4. Epilepsie . . . . . . . . . 191
Literatur ........... . 211
Serologie der Geisteskrankheiten. Von Professor Dr. V. KAFKA, Hamburg-
Friedrichsberg. (Mit 30 Abbildungen) und 10 Tabellen. 218
A. Einleitung ...............•... 218
B. Allgemeines iiber Methoden und Ergebnisse . . . 220
I. Technik der Entnahme der Kiirperfliissigkeiten 220
II. Die Untersuchung selbst. 221
1. Das Blut im ganzen . 221
2. Blutkiirperchen. 221
3. Blutplasma 222
4. Blutserum. . . 223
5. Liquor .... 244
C. Spezielle Humoralpathologie der Psychosen. 272
D. SchluBbetrachtung. 299
Literatur ..... 302
N amenverzelChnis 316
Sachverzeichnis . 326
I{orperbau und seelische Anlage.
Von
F. GEORGI
Breslau.
Mit 23 Abbildungen.
Das Problem "Korperbau und seelische Anlage" gehort zu den Fragen, die
seit dem AltertumArzte, Philosophen und Laien mehr als aile anderen im Rahmen
dieses Handbuchs besprochenen Gebiete beschaftigt haben. Kaum ein anderes
medizinisches Problem ist im Laufe der Jahrhunderte so wie dieses immer
wieder in den Mittelpunkt des Interesses geruckt, hat zeitweise uber die engeren
Fachgenossen hinaus in allen Kreisen Interesse erregt, um nach mehr oder weniger
langerer Zeit wieder in vollige Vergessenheit zu geraten. Man darf dem im
ubrigen nicht mit Unrecht viel geschmahten LAVATER darin wenigstens bei
stimmen, wenn er fur die Popularitat der Korperbaufrage den Umstand ver
antwortlich macht, "daB die Physiognomik alle Menschen taglich leitet, daB,
wie SULZER sagt, jeder Mensch, er mag es wissen oder nicht, etwas von der
Physiognomik versteht, daB nicht ein lebelldiges Wesell ist, welches nicht aus
dem AuBeren auf das Innere, wenigstens nach seiner Art, Schlusse macht, nicht
von dem, was in die Sinne fallt, das beurteiIt, was nicht in die Sinne fallen kann. "
Auch heute stehen wir in der Gesamtmedizin unverkennbar in dem Zeichen
einer solchen Phase, in der unter neuen Gesichtspunkten im Rahmen der Kon
stitutionsforschung der Habitus in ursachliche Beziehung zu Krankheiten ver
schiedenster Art gesetzt wird. In der Psychiatrie speziell war es KRETSCHMER,
der 1921 als erster umfassend die Beziehungen des Korperbaues zu psychisch
.abnormen Reaktionsweisen studierte, um dann auf Grund der Befunde bei
Geisteskranken in neuer, pragnanter Form die Bedeutung des Korperbauesfur
die seelische Anlage ganz allgemein darzutun.
Bei dem Schiffbruch, den bisher aIle Deutungen eines psychophysischen
Parallelismus erlitten, soweit sie besonders Habitusmerkmale als Symbol fur
.seelische Eigenart aufzustellen suchten, ist es ohne weiteres verstandlich, daB
auch der modernen "Typendiagnostik" von psychiatrischer wie internistischer
Seite starkes MiBtrauen entgegengebracht wird. Da wir noch mitten im Kampf
der Meinungen stehen, erscheint eine abschlieBende lehrbuchmaBige Darstellung
dieses Fragekomplexes kaum moglich. Es wird vieImehr auf. Grund einer Gegen
uberstellung alter und neuer Lehren darzustellen sein, inwiefern sich die heutigen
Anschauungen, von Spekulationen und Phantastereien fruherer Lehren befreit,
bei anfanglich intuitiver Erfassung, auf wissenschaftlicher Grundlage aufbauen.
A. Historische Vorbemerkungen.
Ullabhangig von den Unterlagen, die jedem Jahrhundert zur wissenschaft
lichen Bearbeitung der Frage nach den Beziehungen zwischen Korperbau und
seelischer Art zur Verfugung standen, konnen wir ganz allgemein 3 Epochen
Handbuoh der Geisteskrankheiten. III. 1
2 F. GEORGI: Korperbau und seelische Anlage.
unterscheiden. In der ersten - etwa bis 500 v. Chr. -liegt das Hauptinteresse
auf dem Seelischen, das Korperliche wird als Ausdruck zu seiner Ergriindung
herangezogen. Schon die alten Inder glaubten das Gefiihlsleben auf Grund
auBerlicher Merkmale erkennen zu konnen. Sie achteten nicht nur auf die Art
des Knochengeriists, des Korperumfanges usw., sondern bereits auf GroBe der
Genitalien, auf Beschaffenheit von Haar und Stimme und unterschieden danach
z. B. bei Mannern 3 Typen, die sie symbolisch "den Hasen, den Ochsen und
das Pferd" benannten. Auch bei den Arabern scheint (s. WEICHBRODT) der
Habitus als Ausdruck seelischen Verhaltens weitgehend beriicksichtigt worden
zu sein. Nicht anders ist wohl z. B. eine tJberlieferung zu verstehen, nach
der ein Araberkonig durch Abgesandte ein Bild von Moses malen lieB, urn aus
diesem durch seine Weisen den Charakter zu ergriinden. DaB eine "Fehl
diagnose", also die falsche Beurteilung des Charakters auf Grund des hergestellten
Bildes den Konig iiberraschte, diirfte wohl darauf hinweisen, wie eingewurzelt
die Idee eines "psychophysischen Parallelismus" schon zu jenen Zeiten war.
Auch in der Kunst der alten Agypter finden sich nach CARUS vor allem in der
variierenden Darstellung des Schadels Anzeichen, die auf die Bedeutung hin
weisen, die man derartigen Abweichungen als Ausdruck eines besonderen Wesens,
einer besonders gearteten Personlichkeit zuschrieb.
Mit dem Einsetzen der hellenistischen Epoche sehen wir einen Wandel in
den Anschauungen eintreten. Das Psychische trat in den Hintergrund, die
Krasenlehre, die neuentdeckte Humoralpathologie beherrschte jahrhunderte
lang aIle Kreise; eine Temperamentenlehre konnte sich nur in ihrem Schlepptau
bewegen - dem individuellen Korperbau wurde wenig Beachtung geschenkt,
das Primare und Wichtigste war die Saftemischung. So entstand auf Grund
einer Dyskrasie, einer falschen Siiftemischung durch tjberfluB an gelber Galle
das cholerische, durch schwarze Galle das melancholische, durch Oberwiegen
von Blut das sanguinische und durch das Vorherrschen von Schleim das phleg
matische Temperament. Beziehungen dieser Dyskrasien und Temperamente zur
auBeren Konfiguration wurden zunachst vernachlassigt. Erst GALEN schlieBt
den Ring, indem er den 4 Temperamenten als weiteren Ausdruck andeutungs
weise verschiedene Korperbautypen zuordnet. Beim Oberwiegen der gelben Galle
spricht er von einem straffen Korperbau, von lebhafter Durchblutung, bei
schwarzer Galle von Hagerkeit, einer dunklen Haut und einem diisteren Blick,
beirn Vorherrschen des "Blutes" von einem frischen Aussehen, wahrend dem
4. Typ (Schleim) ein stumpf-blaB-aufgeschwemmtes Aussehen zukommen soIl.
Derartigen Auffassungen begegnen wir noch weit ins Mittelalter hinein,
soweit nicht noch primitivere Vorstellungen Platz greifen. Dazu sind
die Anschauungen eines BARTHOLOMAUS COCLITUS VON BONONIEN (1530)
zu rechnen, der dickes groBes Haar auf dem Haupt als ein untriigliches soma
tisches Kennzeichen eines unkeuschen Menschen mit gutem Gedachtnis, Tragheit
und Wunderlichkeit anspricht. Er iibertrifft damit an Naivitat sogar noch die
Diktion des vielfach als Urvater der Konstitutionsforschung angesprochenen
ARISTOTELES, der u. a. Menschen mit rauhem Haar als mutig pries, da ja auch
der Lowe rauhes Haar habe. Ahnlich groteske Beispiele liellen sich beliebig
vermehren. Immerhin fallt seit dem Mittelalter trotz der haufig abnormen und
mit wunderlichstem Aberglauben durchsetzten Vorstellungen von angeblichen
Beziehungen zwischen Korperbaugestaltung und seelischem Verhalten ein ncuer
Umschwung auf, der das Seelische wieder in den Mittelpunkt riickt. So ist
esnicht verwunderlich, daB nach den Ausfiihrungen, wie sie u. a. durch den
Theologen THOMAS VON AQUINO verbreitet wurden, der "die ernahrende und
wachstumbedingende Tatigkeit des Korpers ebenso der Seele wie die bewegende,
Historische Vorbemerkungen. 3
auffassende und erkennende zuwies", die Idee allmahlich Platz griff, daB das
Individuelle jeder seelischen Anlage sich in einer besonderen Gestaltung des
Karpel's kund tun mlisse. Abel' auch diesel' Gedanke wurde nicht konsequent
verfolgt, sondeI'll lieferte im allgemeinen lediglich einen Deckmantel flir Aber
glauben, Wahrsagekunst u. a. Unternehmungen, wie sie sich als Physiognomik
del' Hand, del' Chiromantie namentlich im 15. und 16. Jahrhundert ungehindert
ausbreiten konnten. Es fehIte immerhin schon damals nicht an wal'llenden
Stimmen, die wie LEONARDO DA VINCI ein derart pseudowissenschaftliches
Treiben als "Chimare", die jedes "wissenschaftlichen Fundaments ermangele",
bezeichneten.
Nach den Anfzeichnungen von CARUS, libel' dessen Schriften noch eingehender
zu berichten ist, scheint yom Mittelalter bis ans Ende des 18. Jahrhunderts nur
ein Gelehrter, del' sich mitPhysiognomik beschaftigt, del' Neapolitaner JOHANN
BAPTISTA PORTA (16. Jahrhundert) el'llstlich erwahnenswert, da er seine physio
gnomischen Studien auf den gesamten Bau des Menschen ausdehnte. "Erwahnt
man (nach CARUS) seine wenn auch in dunkler Zeit mit vielem Wunderlich en
und Irrigen vermischten Betrachtungen, erkennt man, wie er von del' Gesamt
bildung ausgeht und die Bedeutung deren verschiedener Verhaltnisse bespricht
und sieht man dann, wie nichts seiner Betrachtung entgeht, wie er bemliht ist,
in allem eine gewisse seelische Bedeutung nachzuweisen, wie er yom Kopf und
Kopfhaar anfangt, dann aIle Teile des Antlitzes, des Stammes, del' Glieder
(usw.) durchgeht, so bekommt man eine wahre Achtung VOl' einem Geiste, welcher
in einer im aIlgemeinen so wenig wissenschaftlichen Zeit einen groBen Gedanken
edassen, vedolgen nnd in diesel' Weise aussprechen konnte."
Entfacht durch den Enthusiasmus des Zliricher Predigers JOHANN KASPAR
LAVATER, wird die Physiognomik am Ende des 18. Jahrhunderts wieder im
wahrstenSinne des Wortes popular. In 4 Banden - physiognomische Frag
mente - schildert LAVATER in rascher Folge (1775-1778) die Seele, wie er sie
aus dem AuBeren des Menschen, aus Kopfform und Gesicht intuitiv erkennt.
"Das Gesicht ist del' Spiegel del' Seele." "So widersprechend die Urteile libel'
ein und dieselbe Gestalt seien, so gebe es doch gewisse Extreme (gewisse Ge
stalten, Physiognomien usf.), von den en aIle Menschen, die nicht augenscheinlich
toll seien, dasselbe Urteil fallten." In seiner temperamentvollen unkritischen
Art sehieBt LAVATER weit libel'S Ziel, richtet auf intuitiv eda13tem Anschauungs
material ohne sachliche Argumente ein Gebaude auf, das nach anfanglicher
Begeisterung bald das Gespatt seiner Mitwelt wurde. So erachtet SCHILLER, trotz
dem er eine organische Grundlage del' ganzen Physiognomik fUr m6glich halt,
LAVATER flir einen leeren Schwarmer, nnd GOETHE, del' ihn zunachst als das
"gra13te, weiseste, iunigste aller sterblichen und unsterblichen Wesen", das er
kannte, bezeichnet, spricht als 39jahriger ein nicht mi13zuverstehendes cavete aus.
Auch den um17 Jahre jlingeren GALL (1758-1828) trifft ein gleiches Schicksal,
obwohl er zunachst mit mehr Kritik und wissenschaftlich weit besseren Unter
lagen· ans Werk geht, wie sein Vorganger. Schon als SchUler ein schader und
kritischer Beobachter, vergleicht er Schadelbau und geistige Verfassung seiner
Mitschliler. Nach anatomischen Studien )vurden dann die Beziehungen und
Auswirkungen des Gehirns und dessen Form auf den knachel'llen Schadel unter
sucht. Bei dem Bestreben, libel' diese sachlichen Feststellungen hinaus eine
Organologie (von GALLS SchUler SPURZHEIM Phrenologie benannt) in gr613tem
Ausma13 zu schaffen, verfiel auch GALL del' leeren Spekulation. Zunachst wird
noch vorsichtig einer bestimmten seelischen Veranlagung eine festumrissene
Korperbeschaffenheit zugeschrieben; so zeichnet sich del' Choleriker, del' Tatige,
Lebhafte, Reizbare u. a. durch ma13ige Flille, schade ausdrucksvolle Zlige,
1*
4 F. GEORGI: Korperbau und seelische Anlage.
schwarzes Haar, dunkle Augen und gelbbraune Haut aus, wahrend der Melan
choliker kleine Muskeln, feine Zuge, ein blasses und weiches Gesicht und zarte
Haut besitzt; der Phlegmatiker wird durch eine groBe UnterleibshOhle, schlaffe
Haut und helles Haar charakterisiert, der Sanguiniker endIich besitzt bei all
gemein ausgesprochenen Korperformen vor allem eine groBe Btusthohle, massige
Korperfulle, rostbraune Haare und ein frisches Gesicht. Mag hier bei intuitiver
Erfassung neben vielen Irrtiimern manch guter Kern stecken - besonders werm
wir in Rechnung ziehen, daB im allgemeinen noch die griechische Temperamenten
lehre iibernommen ist - so geht im folgenden, z. B. der willkurlichen Einteilung
des Gehirns in Quadrate und Kreise mit Abteilungen fur KindesIiebe, Diebes
sinn, Gewissen usf., jeder amlehmbare MaBstab verloren.
Eine groBe "Reihe unkritischer SchUler und Dilettantensorgten in der Folge
dafur, daB der letzte Rest der GALLschen Leitidee, soweit sie uberhaupt aus
dem Wust von phantastischer Spekulation noch ersichtIich war, begraben
wurde.
Erst von dem der Leipziger Fakultat angehorenden vergleichenden Anatomen
und Physiologen KARL GUSTAV CARUS (1789-1869) wurde das Leib-Seele
Problem einem fur diese Zeit kritischen Studium unterzogen. In seinem 1856
erschienenen Buche: "Symbolikder menschIichen Gestalt" halt CARUS nach
historisch-kritischer Wurdigung seiner Vorganger selbst den Zeitpunkt fUr ge
kommen, wo es, "da das Material der naturhistorischen und physiologischen
Beobachtung des Menschen so ins Ungeheure sich gehauft hatte, als eine emp
findliche Lucke erscheinen muBte, daB es immer noch an einem wirklichen
Gesamtwerke uber die menschliche Gestalt fehlte; an einem Werke, welches
von allgemeinen Proportionen der verschiedenen menschlichen Individualitaten
ausging, welches selbst die Substanz des Organismus in Anschlag brachte und
welches ehdlich aIle besonderen Gegenden des menschIichen Wunderbaues hin
reichend in Betrachtung nehme, um auszusprechen und darzulegen, was irgendwie
uber die psychische Bedeutung aller seiner Abweichungen und Besonderheiten
genugende Auskunft zu bieten imstande war". Damit hatte CARUS nicht nur
seine eigene Fragestellung umrissen, sondern er hielt auch seine Versprechungen
in ganz auBergewohnlicher Weise.
Wollte man CARUS in gleichem Atem mit LAVATER, GALL und ihren An
hangern nennen, SO wiirde dies fast dem Gleichsetzen moderner konstitutioneller
Forschungsergebnisse mit den in unseren Augen von phantastischen Speku
lationen durchsetzten Bemuhungen der Phrenologen entsprechen. CARUS selbst
trennt seine Ergebnisse scharf von allen seinen Vorgangern, wenn er schreibt,
daB "aIle fruheren physiognomischen Versuche von ARISTOTELES bis auf PORTA
und GALL.. . sich keines groBen Resultates versehen konnten, da von einer
wissenschaftlichen Entwicklungsgeschichte, einer begrundeten physiologischen
Symbolik so gut wie keine Ahnung bestand". Seine "Symbolik" schrieb CARUS
am Ende seiner wissenschaftIichen Laufbahn, die durch eine Reihe ernster
anatomischer, vergleichend anatomischer und vergleichend pathologischer Stu
dien ausgezeichnet war. Dementsprechend grundete sich seine Temperamenten
lehre nicht auf einer illtuitiven Erfassung der Korperbauverhaltnisse, sondern
fuBte auf umfangreichen Studien uber die MaBverhaltnisse des menschlichell
Skeletts. Bemerkenswert ist, daB CARUS, ahnlich den Bestrebungen einer Reihe
moderner Konstitutionsforscher (vgl. FLORSCHUTZ, RAUTMANN, 1. BAUER,
BRUGSCH u. a.), die "Normalwerte" fur GroBe, Gewicht, Brustumfang, Herz
groBe usf. aufzustellen suchten, als erste Aufgabe nach Feststellung gewisser
Proportionen innerhalb des Skelettbaues eine "rein mittlere, sozusagen abstrakt
menschliche Bildung" in Erwahnung zog und dann erst auf "die wesentlichsten
Historische Vorbemerkungen. 5
Bildungsabweichungen von dieser Mitte, d. h. auf individuelle menschliche Ge
stalten und deren symbolische Bedeutung fUr jegliche Art von Konstitution,
Temperament und geistige Anlage ... ausging".
Aber die MaBe sind ihm nicht die einzige Handhabe zur "symbolischen
Betrachtung", er griindet seine Anschauung vielmehr auf die Resultate dreier
verschiedener Untersuchungsmethoden, die an sich heterogen zum gleichen
SchluB fiihren sollen, "indem er einmal messend verfahrt (Organoskopie), indem
er ein anderes Mal die Oberflache genau, je nach dem Charakter der ihr eigen
tiimlichen ,Modellierung' beschreibt (Physiognomik) und endlich, indem er die
jenigen Umstimmungen der auBeren Form, welche nicht von urspriinglicher
Bildung, sondern von der Art der Lebensfiihrung abhangen, besonders ihrer
Bedeutung nach beriicksichtigt (Pathognomik)". Man glaubt KRETSCHMER zu
horen, wenn CARDS treffend weiterhin bemerkt, "daB auch eine solche wissen
schaftliche Symbolik in ihrer Anwendung nie eines richtig vermittelnden Ge
fiihls, eines feineren Takts, welcher selbst angeboren sein muB, ermangeln kann,
kurz, daB sie wie viele Wisilenschaften in ihrer Anwendung gewissermaBen zu
gIeich. zur Kunst werden miisse. Der organische Bau des Menschen enthalt
neben der groBen Macht des Rationalen so viel ganz unerlaBliches Irrationales,
daB nicht Wagen, Messen und Zahlen allein ausreichen. Nur eine gewisse Uber
sicht und allgemeine Erwagung, nur eine feinere Fiihlung des Ubereinstimmenden
und Nichtiibereinstimmenden, das Mehr und Weniger wird es sein, wodurch die
wirkliche Anwendung der Grundsatze wissenschaftlicher Symbolik zu einer
wahren Geltung gelangen kann, wodurch sie aber auch dann imstande sein wird,
der Grundpfeiler dessen zu werden, was dem Menschen zu seinem Weltleben
das Unentbehrlichste bleibt, der Menschenkenntnis." Bemerkenswert, wie CARDS
vor Aufstellung seiner 5 Konstitutionsgruppen (I. cerebrale, sensible und athle
tische Konstitution, II. phlegmatisch-asthenische Konstitution, III. plethorische
[arterielle, venose}, bootische, pneumatische, cholerische Konstitution, IV. chlo
rotische, phthisische, atrophische und lymphatische Konstitution, V. laszive und
sterile Konstitution), denen er 6 Temperamentsanlagen (I. cholerisches oder
energisches Temperament, II. phlegmatisches, III. sanguinisches, IV. melancho
lisches, V. psychisches und VI. elementares Temperament) in fiir uns noch in
vieler Hinsicht unbefriedigender Weise gegeniiberstellt, bereits Einwanden von
selbst Rechnung tragt, die gerade heute stark umstritten sind. Nach der schon
von ihm erkannten Tatsache, daB Frauen weit schwieriger als Manner in kon
stitutionell-typologischer Beziehung zu klassifizieren sind, meint er, daB es
"iibrigens am Tage liege, daB bei Beurteilung der Typen das Alter mit in An
schlag gebracht werden miisse, da mit jedem spateren zunehmenden Jahre das
Widersprechende der Bildung immer mehr sioh steigere". In gewissem Gegensatz
auch zur gegenwartigen Auffassung steht ein von CARDS angefiihrtes Beispiel
des Erscheinungswechsels von Korperkonstitution und Temperamentsanlage:
"einen solohen Ubergang zeigte z. B. Napoleon, von der Eigentiimlichkeit des
jungen femininen Korsen zum Embonpoint, des ruhigeren, aber despotischen
Kaisers bis zur kranken und triiben Aufgedunsenheit des Verbannten auf St. He
lena". Obwohl wir innerhalb der von CARDS aufgestellten Konstitutionstypen
die spater zu besprechenden Typen KRETSCHMERS unschwer erkennen konnen,
kann namentlich, wie erwahnt, in der Zuordnung der Temperamente seiner
Lehre in vielen Einzelheiten heute keine Gefolgschaft mehr geleistet werden.
Eine Reihe von Beobachtungen und die ganze Einstellung zu dem Problem
sind, wie auch folgende Beispiele im Vergleich mit den spateren Erorterungen
zeigen sollen, aber doch derart treffend, daB CARUS ohne Ubertreibung als der
wissenscha/tliche Begrunder der Lehre von Korperbau und seelisoher Anlage