Table Of ContentGRUNDZUGE EINER
KONSTITUTIONS
ANATOMIE
VON
PROFESSOR DR. WALTER BRANDT
ABTEILUNGSVORSTEHER AM ANATOMISCHEN INSTITUT
DER UNIVERSITAT KOLN
MIT 135 ABBILDUNGEN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1931
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER UBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
COPYRIGHT 1931 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN.
ISBN 978-3-642-89564-7 ISBN 978-3-642-91420-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-91420-1
Vorwort.
Die Darstellung der Anatomie einer Durchschnittsleiche, welche seit ANDREAS
VESALIUS den Inhalt der anatomischen Lehrbiicher und Atlanten bildet, bedarf
einer wesentlichen biologischen Vertiefung und Verlebendigung. Der Forscher
wie der Arzt sieht nur Individuen, deren gruppenmii.Bige Erfassung und Erfor
schungsmoglichkeit die Konstitutionsforschung der Klinik aufgezeigt hat.
Wenn eine naturwissenschaftliche Disziplin wie die Anatomie des Menschen
das Konstitutionsproblem bearbeiten will, wird sie erst eine biologische Grund
lage schaffen mUssen, auf der iiberhaupt ein umfassendes Lehrgebii.ude auf
gebaut werden kann. Auf diese Weise werden zugleich die recht zahlreichen
Definitionen des Begriffes "Konstitution" durch ein exaktes Wissensgebiet,
durch die praktisch fortschreitende Wissenschaft seIber, ersetzt. Diese bioIo
gisch-naturwissenschaftliche Grundlage fiir den geplanten Ausbau der mensch
lichen Durchschnittsanatomie wird in dem vorliegenden Werke entworfen.
Drei fundamentale Gestaltungsphii.nomene lebendigen Geschehens prii.gen
jeglichen Organismus: Die Formbildung, das Wachstum und die Differenzierung.
Raben die beiden letzten Naturvorgii.nge weitgehende Bearbeitung erfahren,
so ist die Bedeutung des Wesens der Formbildung als solche, welche die Ent
wicklungsmechanik aufgedeckt hat, fiir die Morphologie praktisch kaum recht
gewiirdigt worden. Die Ursache liegt hier in der Entwicklungsmechanik seIber,
welche zur Zeit noch nicht jene Erweiterung zu einer vergleichenden Forschung
vollzogen hat, die einzig ihr Ziel im Verstii.ndnis der werdenden Form des
Mensohen sieht. Der Grundrill einer derartigen Vergleiohenden Entwioklung8-
meohanik wird somit zugleich im vorliegenden Werke zum erstenmal entworfen.
Diesa genannten drei biologischen Gestaltungsphii.nomene werden somit die
Basis geben, auf der einmal eine Allgemeine Konstitutionsanatomie des Mensohen
aufgebaut werden soIl und weiter eine Spezielle Konstitutionsanatomie der SyBteme,
Apparate und Organe der bisherigen Systematik in typologischer Einstellung.
Mein Vorwort mochte ich schlieBen mit dem Ausdruck besonderen Dankes
an den "Verein der Freunde und Forderer der Universitii.t Koln", durch deren
Unterstiitzung die Ausfiihrung mancher Zeichnung und technischen Einzelheit
moglich wurde. Weiter gebiihrt wii.rmBter Dank der Verlagsbuchhandlung
Julius Springer, die bereitwillig fiir die Ausstattung des Buches keine Miihe
gescheut hat und mir in jeder Weise auBerordentlich entgegen kam.
Koln, im Juli 1931.
WALTER BRANDT.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1
a) Der altere Typusbegriff der bisherigen Morphologie . . . . . . . . . . .. 1
b) Der modeme Typusbegriff der Vergleichenden Entwicklungsmechanik (typo
logisches Grundprinzip. BRANDT 1928). . . • . . . . . . . . . . . .. 11
Die drei biologischen Gestaltungsphanomene bei pflanzlichen und
tierischen Organismen 27
I. Entwicklung des Typus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
a) Formbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1. Zeitfaktor der Vergleichenden Entwicklungsmechanik. (Individuelle
Geschwindigkeitskurve der Determination [BRANDT 1923]). . . . . • 27
2. Ramnfaktor der Vergleichenden Entwicklungsmechanik. (Orthotopisches
Potential, BRANDT) • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 39
3. Kondition der Formbildung. Gesetz der spezifischen Induktion (BRANDT
1927) ..... . . . . . . . . . . 82
b) Wachstum .... . . . . . . . . . . . 107
1. Gestaffeltes Wachstum (Polymerisation) . 107
2. Einfaches Wachstum. . • . . . . . . . 131
3. Die Kondition des Wachstums . . . 181
a) Umweltfaktoren • . • . . . . . . . . . . . . • . . 181
(J) Das Endokrinon und die Zeitphasen der Erfolgsorgane . 205
Die SchilddrUse S. 210. - Hypophyse S. 238. - Keimdriise S. 250.
Nebenniere S. 287.
c) Differenzierung . • • • • . . . 296
Kondition der Differenzierung 336
Literaturverzeichnis 351
1. Formbildung . 351
2. Wachstum . . . 357
3. Differenzierung . . 378
Einleitung.
a) Der altere Typusbegriff der bisherigen l\'[orphologie.
Typologie ist nicht Phylogenie. Das Werden des allgemeinen Grundtypus
einer Form sucht die "Vergleichende Entwicklungsmechanik" zu erforschen,
die besondere gattungs -familiengemaBe, artliche und individuelle Differen
zierung dieser Form wird von der "Vergleichenden Anatomie" beschrieben.
Beiden Disziplinen gemaB ist der anatomische Forschungsweg des Vergleiches,
dessen Endziel das Verstandnis der Morphologie des Menschen darstellt.
Die Probleme der bisherigen zoologisch eingestellten "Entwicklungsmechanik"
schlechthin haben eine ganz andere Einstellung, ihren SchluBfolgerungen fehlt
bisher das Fundament, das durch vergleichende Experimente an zahlreichen
verschiedenen Tierarten und Gattungen iiber ein und denselben Formenwert
geniigend ausgebaut ware.
Immer nur kann fiir die menschliche Anatomie das Endergebnis der Unter
suchungen in der Kritik umfassender Vergleiche gesichert werden; immer nur
ist der menschliche Organismus Endziel der Forschung, und alle Forschungs
ergebnisse an tierischen und pflanzlichen Organismen sind nur Mittel zum
Zweck.
Bei dieser spezifisch anatomischen Einstellung auf vergleichende Forschung
fragt es sich, ob jeder Vergleich a priori phylogenetisch sein muB oder ob es
typisches Geschehen gibt, das selbstandig als biologisches Phanomen der
chromosomal bedingten Artmorphe sich iiberordnet und nun Tierformen auf
eine solche Linie stellt, deren Konstruktion sich durch vergleichende Experi
mente nicht durch vergleichende Praparation ergibt. MuB denn eine "Ver
gleichende Entwicklungsmechanik" zugleich "phylogenetische" Entwicklungs
mechanik sein im Sinne von Roux oder kann sie auch andere Wege gehen, von
anderer Warte aus die phylogenetisch-morphologischen Tatsachen auswerten?
Zur Beantwortung dieser Frage miissen wir etwas weiter ausholen.
Der Gedanke eines einheitlichen allgE;Jmeinen Entwurfes im Bauplan des
gesamten Tierreichs wurde zum erstenmal durch GOETHE gefaBt und wissen
schaftIich erwiesen. Dieser Typusgedanke der Saugetierorganisation IieB GOETHE
den Zwischenkiefer beim Menschen suchen und finden (1784). Der Typusg.edanke
schuf die "Wirbeltheorie des Schadels", die fiir die Hinterhauptsregion heute
wissenschaftliche Bestatigung gefunden. hat, insofern, als diese einen Teil der
Wirbelsaule, drei Halswirbel, darstellt, die im Laufe der phylogenetischen Ent
wicklung in den Schadel allmahIich miteinbezogen wird.
Die Beschaftigung mit der Osteologie, mit den Erscheinungen der "Meta
morphose der Pflanzen" fiihrte GOETHE allmahIich zur scharferen FormuIierung
seiner Vorstellungen. Der anatomische Typus ist ein allgemeines Bild, "worin
die Gestalten samtlicher Tiere der MogIichkeit nach enthalten waren und wo
nach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschriebe". Dieser Typus
miiBte soviel wie moglich in physiologischer Riicksicht aufgestellt sein. Schon
aus der allgemeinen Idee eines Typus folgt, daB kein einzelnes Tier als ein
solcher Vergleichskanon aufgestellt werden konne: Kein einzelnes kann Muster
des Ganzen sein. "Die Klassen, Gattungen, Arten und Individuen verhalten
Brandt, Konstitutions-Ailatomie. 1
2 Einleitung.
sich wie die Falle zum Gesetz; sie sind darin enthalten, aber sie enthalten und
geben es nicht."
Zur praktischen Anwendung bei Forschungen muB im GOETHEschen Sinne
die Idee iiber dem Ganzen walten und auf eine genetische Weise das allgemeine
Bild abziehen. In dieser ungeheuren Synthese der Mannigfaltigkeiten der
Organismen wird innner das Ganze der Wissenschaft im V ordergrund stehen,
so daB man nicht mehr Tier und Tier oder besondere Teile, Organe, Systeme
miteinander vergleicht und einzeln beschreibt, sondern nach dem einheitlich
aufgebauten Typus werden die einzelnen Tierarten beschrieben und eine Ver
gleichung macht sich dann ganz von selbst. Nehmen wir z. B. einen osteo
logischen Typus, so unterliegt dieser der verschiedenartigsten Pragung nach
Einschrankung und Ausbreitung, nach der Verschiedenheit des gegenseitigen
Verwachsens, Verschiedenheit der Grenzen, der Zahl, der GroBe, der Form.
An diese Einzelheiten hat GOETHE in besonderen Kapiteln ausfiihrlich erortert.
Ein ganz bestimmtes Korrelationsgesetz scheint sich hier zu enthiillen, welches
der Ausdehnung der einzelnen Teile eines morphologischen Bildes, das sich
um den Grundtypus kristallisiert, bestimmte Grenzen weist. "So sind z. B.
Hals und Extremitaten auf Kosten des Korpers bei der Giraffe begiinstigt,
dagegen beim Maulwurf das umgekehrte stattfindet." In dieser allgemein
geregelten, korrelativen Massenverteilung wiirde der Natur gewissermaBen ein
bestimmter Radius gezogen sein, iiber den hinaus eine Massenentfaltung eines
bestimmten Teils nicht mehr moglich ist. Hier ist nun die Aufstellung eines
generellen Grundgesetzes, "wonach lebendige, aus sich selbst wirkende, abge
sonderte Wesen gebildet werden", unbedingt erforderlich. Dies generell-morpho
genetische, iibergeordnete Prinzip, nach dem eine typologische Ordnung moglich
ist, wird nun nicht nur fiir die Organismen seIber, sondern auch fiir ihre
anatomischen Teile Geltung haben miissen; wird weiter, da GOETHE selbst den
physiologischen Gesichtspunkt ausdriicklich betonte, auch auf den "lebendigen,
wechselseitigen EinfluB, auf Abhangigkeit und Wirkung" achten. Wieder tritt
hier der korrelative Gedanke in physiologischer Betonung in den Vordergrund;
denn da die einzelnen Teile standig in wechselseitigen, unaufhorlichen Wirkungen
zueinander stehen, ihre Wertung nur in dieser Voraussetzung moglich ist, so
kann eben auch die Bildung selbst in ihrer Grundbestimmung wie in ihrer Ab
weichung "nur durch einen wechselseitigen EinfluB determiniert werden".
In dem Kapitel iiber die Organisation entwirft GOETHE die Grundziige der
Metamorphosenlehre der Pflanzen: Blatter und Blumen, Staubfaden und
Stempel, die verschiedensten Hiillen sind alles identische Organe, deren Ver
anderungen das eigentliche Organ vollig zudecken. Dieser Grundtypus der
identischen ;Qrgane, seine virtuelle Einheit manifestiert sich in mannigfaltiger
Metamorphose als zusammengesetztes Blatt, als Stipula, Tragknospe oder
unfruchtbarer Zweig; der Kelch kann, "indem er sich iibereilt", zur Krone
werden.
GOETHES Metamorphosenlehre ist keine Differenzierungslehre, keine Lehre
von der sichtbaren Abwandlung und Umwandlung, sondern eine Wirkungs
lehre, auf Grund deren die Moglichkeit gegeben ist, daB ein und dasselbe Organ
sich so mannigfaltig verandern kann.
Es ist bedeutsam sich klar zu machen, daB die gesamte Erscheinungskette
der Insektenmetamorphose, Raupe oder Larve, Puppe, Schmetterling in Analogie
mit der aufgezahlten Veranderungsmoglichkeit des pflanzlichen Organismus
eine determinativ bedingte Umschlagsreaktion darstellt, deren Entstehungs
moglichkeiten im reversiblen Reaktionsradius, im "Bildungskreis" des grund
legenden "identischen" Organs, eben des Typus, gelegen sind. Diese Neben
einanderstellung der soeben gestreiften typologischen, vergleichend-entwick-
Der altere Typusbegriff der bisherigen Morphologie. 3
lungsmechanischen Probleme mit dem GOETHEschen . Gedankenkreis wird sich,
wie wir spater zeigen werden, als ungemein fruchtbares, ganz neues Forschungs
gebiet erschlieBen lassen.
Durch die verschiedenartigen sichtbaren Differenzierungen der einzelnen
Pflanzenteile ist der pflanzliche Organismus ein vielfaches, d. h. die einzelnen
Konstituenten haben sich im Laufe der allmahlichen Entwicklung derartig
verselbstandigt, daB Pflanzen in viele Teile getrennt sind, als ob so vieles schein
bar Ganzes aus der Erde hervorsproBt. Beim Insektenkorper hingegen bedingt
die gegenseitige Subordination der einzelnen Teile, der Organe, ein "Indivi
duum", innerhalb dessen kein Teil mehr an die Stelle eines anderen treten kann.
Bei weiteren Vergleichen der Metamorphosen zwischen Pflanzen und Insekt
kommt GOETHE zu jenen genialen, synthetischen V orstellungen, welche das
Naturganze in einer einheitlichen Schau umfassen. Typologisches Geschehen
verkniipft das scheinbar Verschiedenartigste durch die beiden generellen Fak
toren Raum- und Zeitfaktor. Die eigentlichen Entwicklungsstufen der Zustande
konnen raumlich unmittelbar nebeneinander liegen oder aber auch weit von
einander getrennt sein; die erste Moglichkeit charakterisiert die Pflanze, die
zweite das Insekt. Die Sukzessionen der Zustande bei der Pflanze, die Ent
wicklung der Bliiten, das ZeugungsgeschMt, das Weitersprossen der Vegeta
tionspunkte, das &eifen des Samens sind raumlich in einen einheitlichen Orga
nismus zusammengelegt, beim Insekt ist jeder Zustand, der Raupe, der Puppe,
des Schmetterlings von den vorhergehenden als Individuum getrennt, so daB'
sich der ganze Schmetterling eben nur aus der ganzen Raupe entwickeln kann,
die Blume aber an der Pflanze selbst.
Diese Vorstellung der "sukzessiven Verwandlung identischer Teile neben
oder nacheinander", welche der Metamorphosenlehre zugrunde liegt, schlieBt
zugleich das wechselvolle Bild samtlicher Tierarten und Gattungen in sich
ein, die aIle nur aus der Versabilitat eines Typus sich erklaren. Der Typus
des Nagergeschlechtes z. B. ist "von innen determiniert", ergeht sich aber
nach auBen ziigellos und verandert sich durch Umgestaltung auf das Vielfachste.
An dieser Stelle sei nun eingeschaltet, daB dieser GOETHESche Nagertyp,
sein Urnagetier, keineswegs identisch ist mit einem phylogenetischen Proroden
tier. GOETHES Typologie ist nicht Phylogenie. Sein Vergleich ist das Abbild abso
luter Entwicklung ohne konstruktive Bindung. Der Vergleich homologer Organe
in GOETHEScher Schau hat aIle Entdeckungen der Vergleichenden Anatomie
moglich gemacht und aIle ihre groBen grundlegenden Theorien. Erst die spatere
Zeit seit DARWIN hat dann formal Gleichwertiges als voneinander abstammend
bezeichnet (LuBoscH 1919). Wir schlieBen uns hier durchaus an VALENTIN
HAECKER (1927) an, der den GOETHESchen Typusbegriff mit modernen Vor
stellungen verkniipft und darauf hinweist, daB dieser Begriff nicht nur die
Eigenschaften umfaBt, die tatsachlich manifest werden, sondern zugleich auch
alle jenen "Virtuellen Potenzen oder Entwicklungsmoglichkeiten", welche diese
Urform in inaktivem, latentem Zustand besessen haben muB. Ja, wir konnen
sagen, daB die Analyse der "prospektiven Potenzen" gerade ein Teilgebiet der
Entwicklungsmechanik ist und die Synthese zu Formreihen Aufgabe der "Ver
gleichenden Entwicklungsmechanik".
GOETHES Typologie und DARWINS Deszendenztheorie sind zwei vollig ver
schiedene Ideenkreise, deren selbstandiger Charakter in der bisherigen Natur
forschung langst nicht geniigend gewiirdigt worden ist. Es bedeutet eine vollige
Verkennung des Typusbegriffes, in GOETHE einen "Vorlaufer DARWINs" sehen
zu wollen.
Stellen wir die Systeme, Anlagen, Raumkomplexe schlechthin eines Organis
mus in den Vordergrund der Betrachtung, so beobachten wir haufig ein isoliertes
1*
4 EinIeitung.
Entwicklungstempo bestimmter Systeme innerhalb einer Tierart gegeniiber
einer anderen. Die endgiiltige Manifestation der anatomischen Systeme ist
biologisch am einfachsten in der Fixierung eines bestimmten Entwicklungs
tempos gegeben (Raumzeitfaktor, BRANDT 1925), die innerhalb der einzelnen
Arten durchaus selbstandig ist. Wiirde man hier dies Entwicklungstempo
phylogenetisch deuten wollen, so kame man zu der absurden Vorstellung, daB
ein und dieselbe Tierart nach den DARWIN-HAECKELschen Vorstellungen beziig
lich des einen Systems phylogenetisch hoch, beziiglich eines anderen phylo
genetisch tief stiinde. Typologisches Geschehen und phylogenetisches Geschehen
sind zwei vollig getrennte Phanomene, deren Kombination nur in einer Zu
sammenarbeit der "Vergleichenden Entwicklungsmechanik" mit der "Ver
gleichenden Anatomie" gelost werden kalll. V. HAECKER gibt auch hinsichtlich
dieser rein morphologischen Betrachtung ein sehr instruktives Beispiel aus der
Vergleichenden Anatomie: Bei einigen in der Gegenwart lebenden niederen
Fischen, den Seekatzen, Holozephalen, den Knorpel- und Knochenganoiden,
bei den Quastenflossern, Crossopterygiern und Lungenfischen Dipnoern kommen
sowohl primitive Charaktere vor, die den Haien eigen sind, als auch speziali
sierte der Knochenfische. Polypterus hat Rippen der Haifischkategorie, aber
eine paarige Schwimmblase wie die Lungenfische und eine machtige doppel
seitige Kleinhirnfalte wie einige Knochenfische. Leider hat nun die bisherige
Forschung die Erklarung ffir diese Erscheinungen auch wieder nur im phylo
genetischen, d. h. Darwinistischen Sinne gegeben. V. HAECKER gibt als Ursache
dieser mannigfach verteilten, zusammengewiirfelten Charaktere eine selbstandige
polyphyletische Entwicklung an auf Grund von Entwicklungsmoglichkeiten,
die schon in der gemeinsamen Urform vorhanden waren. Die Deutung zahl
reicher anderer Forscher hat in diesen Erscheinungen lediglich sekundare
Anpassungen an neue Milienverhaltnisse gesehen auf Darwinistischer Deutungs
basis. Die moderne Typologie aber, deren Forschungsgebiet das Experiment
der "Vergleichenden Entwicklungsmechanik" darstellt, sucht ohne vorgefaBte
Doktrin die Gesetze der Formbildung als solche zu erschlieBen und steht in der
Gedankenwelt GOETREs.
Die groBe Synthese dieser beiden fundamentalen Auffassungen wird eine
der Hauptaufgaben zukiinftiger anatomischer Forschung darstellen, eine Syn
these zwischen Formbildung und Dijjerenzierung, zwischen Typus und Artcharak
ter, zwischen Plasma und Kern.
In der GOETHEschen Metamorphosenlehre konnen die sichtbaren Umwand
lungs- und Ubergangsformen, di8" "Heteromorphosen" und "Monstrositaten"
der modernen Terminologie nicht fehlen. An einer durchwachsenen Rose zeigte
GOETHE die innigen Zusammenhange zwischen Kelch und Krone, zwischen
Vegetationspunkten mit roten und griinen Blattchen und Spuren von Antheren;
Blattbildungen also, deren flieBende Ubergangsstadien manifest werden. Ahn
liche Beobachtungen folgen bei der Gattung Canna und bei Calendula.
Diese Formenketten sind durch die Beobachtungen der modernen Forschung
wesentlich erweitert, aber beziiglich ihrer Genese kaum einheitlich erklart
worden. Genannt sei GOEBELS "Umbildungstheorie", erlautert z. B. an der
Umbildung der Knospenschuppen des Spitzahorns Acer platanoides zu einer
Lau b blat tanlage; die "Heteromorphosenlehre" LEBEDINSKYS ; die Lehre der
"formativen Reize" von HERBST, erlautert an der Extremitatenbildung an
Stelle von Antennen und endlich die Auffassung der "Pluripotenzerscheinungen"
von V. HAECKER.
Die Tatsache aber, die besonders HABERLANDT betont, daB GOETHE in
seiner ganzen Auffassung der lebendigen Natur entwicklungsmechanisch ein-
Der altere Typusbegriff der bisherigen Morphologie. 5
gestellt ware, kann wohl unter Hinweis auf die bereits erwahnten Zusammen
hange nicht mehr bezweifelt werden.
GOETHE unterscheidet zwischen "erster Anlage" und "spaterer Umbildung".
Del' erste Begriff umfaBt "die innere und urspriingliche Gemeinschaft" aller
Organisation, die spatere Umbildung abel' vollzieht sich in den notwendigen
Beziehungsverhaltnissen zur AuBenwelt.
Del' Begriff del' "Anlage" ist heute von del' entwicklungsmechanischen
Terminologie iibernommen worden, ohne abel' je seinem inneren Gehalte nach,
im GOETHEschen Sinne abgewogen zu werden.
Es mag wegen del' V ollstandigkeit des hier entworfenen Bildes noch kurz
die spateI' von CUYlER ausgebaute "Bauplanlehre" Erwahnung finden. Diese
"Bauplane" sind abel' Entwiirfe, GrundriBskizzen realer Erscheinungen, sie
sollten die vergleichende Formenkunde, also die wirkliche vergleichende Mor
phologie "auf allgemeine Regeln und auf Gesetze zuriickfiihren, die deren
allgemeinsten Ausdruck enthalten sollen" (Cuvier regne animal). Als zoolo
gischem Systematiker lagen CUVIER Erwagungen iiber Entwicklungsmoglich
keiten und Metamorphoseerscheinungen vollig fern. Sein natiirliches Tier
system soil die Modelle aufzeigen, nach denen die unzahligen Tiere konstruiert
worden sind. Zusammenhange sind ihm nicht "genetische" im GOETHEschen
Sinne, sondern lediglich Konstruktionszusammenhange. Die Tiere sind ihm
iiberhaupt Konstruktionen, die nach dem Prinzip del' Subordination gegliedert
werden. Die reale Forderung del' Klassifikation erforderte daher zur Diagnose
einer Art die spezifischen Konstruktionszusammenhange; finden sich Merkmale,
welche mehreren Arten gemeinsam sind, so ist ein neuer Bauplan einer iiber
geordneten Gruppe aufzustellen, welchem die betreffenden Arten subordiniert
werden.
JACOBSHAGEN hat in seinem Werke iiber "die Reform del' allgemeinen ver
gleichenden Formenlehre del' Tiere" 1927 das wesentliche des CUYIERSchen
Denkens zusammengefaBt. Nach ihm sind die CUYIERSchen Typen "Modelle,
deren Konstruktion in del' Keimentwicklung iiberall im Tierreich aufs Schnellste
angestrebt und erreicht wird". CUYIEB8 Typuscharaktere sind reine morpho
logische Charaktere von unabanderlicher Konstanz; Ubergange von einem
Typus zum andern gibt es nicht. In diesel' Fassung tritt vielleicht am scharfsten
die Gegensatzlichkeit del' Typologien GOETHES und CUYIERS zutage; eine Gegen
satzlichkeit, welche in unserer Auffassung jegliche entwicklungsmechanische
Deutungsmoglichkeit aus del' "Bauplanlehre" verbannt. Abel' selbst die CUYIER
sche Gedankenwelt konnte, als reine morphologische Wissenschaft, in del'
Betonung konstruktiver Zusammenhange das modernere phylogenetische ver
gleichend-anatomische Naturbild wesentlich erweitern, zumal in del' Ein
beziehung del' Homologienforschung.
"Organe, die in einem Bauplan odeI' dessen Grundformteilen denselben
Bestandteil verkorpern, nennen wir, unbekiimmert urn etwaige Form- und
Funktionsunterschiede homolog" (JACOBSHAGEN 1924). Kann man diese
Homologa schon aus dem ersten Anlageort erkennen, so handelt es sich urn
Orthohomologie. Orthomologe Organe konnen groBe Wanderungen antreten;
z. B. legt sich die Schilddriise iiberall zwischen ersten und zweiten Kiemen
bogen an, liegt abel' endgiiltig spateI' bei Haien hinter dem ersten, bei Amphibien
hinter dem zweiten, beim Menschen in Hohe des vierten und fiinften Kiemen
bogens. Diesel' Orthohomologie stellt JACOBSHAGEN die Kathomologie gegen
iiber. Eine solche findet sich z. B. am Herzen.
Das Herz eines Fisches und das des Menschen sind kathomolog; denn beim
Fischherzen liegt ein groBer Teil des Sinus venosus auBerhalb des Herzens,
beim Menschen ist diesel' Abschnitt in den rechten Vorhof miteinbezogen.
6 EinIeitung.
Das menschliche Herz ist augmentativ homolog. Es gibt auch eine defektive
Homologie, so fehlt z. B. am Schadel der Delphine und Robben das Tranen
bein, das bei tieferstehenden Saugern vorhanden ist.
Wir erwahnen weiter in diesem Zusammenhang den Vorstellungskreis von
BOKER, der in seiner "biologischen Anatomie" diejenigen anatomischen Kon
struktionen zusammenlegt, die irgendein biologisches Geschehen in ganz
bestimmter Hinsicht typisieren. Die vorziigliche vergleichend-anatomische
Sammlung, welche BOKER im Freiburger Anatomischen Institut zusammen
gestellt hat, laBt erkennen, daB auch diese Betrachtungsweise wohl geeignet
ist, ein weit umfassendes Naturbild in typologisch-morphologischer Schau zu
geben. Der "Typus" -Begriff in BOKERscher Fassung auf funktionelle Anpassung
eingestellt, ist daher auch in praktischer Hin
sicht bedeutsam. Einzelheiten seiner Unter
suchungen bringen wir spater.
In der Ablehnung des Darwinistischen Prin
zipes als des einzig moglichen morphologischen
Forschungsprinzipes sind in jiingster Zeit auch
von botanischer Seite Gedankengange entwickelt
worden, welche das soeben entworfene Bild
vervollstandigen. W. TROLL hat in seiner um
fassenden Monographie "Organisation und Ge
stalt im Bereiche der Eliite" 1928 den "Gestalt
typus" als morphologischen Ausdruck einer ganz
spezifischen Gestaltung z. B. der Eliite ganz
verschiedener Pflanzenfamilien aufgestellt, der
I als solcher Formenkreise umfaBt, deren gene
tische Zusammenhange durchaus nicht die kau
sale Erklarung der Entstehungsmoglichkeit ab
geben. Wir betonen, daB dieser "Gestalttypus"
TROLLS wiederum rein morphologisch faBbar
wird, daB hier weiter die Erscheinung der "homo
Abb, 1. .,Formbildung" Zapfen und
logen Konvergenzreihen" von PIrrLIPTSCHENKO
"DHferenzierung" in mannliches und
weibliches Geschlecht in ihren gegen 1927 als rein "morphologischer Parallelismus"
seitigen Beziehungen bei vVelwitschia
Bainesii. I JUDge mannliche, II auf- scharf von dem genotypischen getrennt wird,
gebliihte weibliche Infloreszenz.
in der Weise, daB auf sie der "Begriff der Gene
(Nacb TROLL: Organisation und
Gestalt im Bereich der Eliite, 1928.) und der genotypischen Struktur iiberhaupt nicht
anwendbar ist". In dieser Schau darf wiederum
die Einheit des Typus nicht in Darwinistischem Sinne vorstellbar werden; denn
diese Einheit ist nach DARWIN in gemeinsamer Abstammung begriindet. TROLL
geht sogar soweit zu behaupten, "daB die Vererbungsregeln zusammen mit
dem Selektionsprinzip an das Formproblem iiberhaupt nicht herankommen
und, um im Bild zu reden, blind herumtappen willden, wenn nicht iiber ihnen
die morphologischen Beziige walteten, die ihnen die Richtung gaben". Diesem
Standpunkt des Formproblems, als des Problems des morphologischen Gestalt
typus miissen wir durchaus beipflichten; denn zu dessen Erklarung hat bisher
weder der Darwinismus noch der Mendelismus irgend etwas beitragen konnen.
Formbildung und Differenzierung sind zwei vollig selbstandige Phanomene,
Phylogenie und Vererbungswissenschaft haben uns nur mit der zweiten der
genannten Erscheinungen biologisch vertraut gemacht.
Die "Differenzierung" im TRoLLschen Sinne "Organisation" der Bliiten
ist etwas anderes als die "Gestalt", d. h. der "Gestalttypus". Zur Erlauterung
dieser Vorstellungen sei hier ein instruktives Beispiel, die Zapfenform der
Gnetaceen genannt, die yom Bliitenstand hergestellt wird. Mannliche sowohl