Table Of ContentPeter Derschka . Adolf Stober
Grundlagen der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaft
Studienbiicher zur Sozialwissenschaft Band 37
Peter Derschka . Adolf Stober
Grundlagen der
an~endungsbezogenen
Sozial~issenschaft
\Vestdeutscher Verlag
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Derschka, Peter
Grundlagen der anwendungsbezogenen Sozialwissen
schaft I Peter Derschka; Adolf StOber. - 1. Aufl. -
Opladen: Westdeutscher Verlag, 1978.
(Studienbiicher zur Sozialwissenschaft; Bd. 37)
NE: Stober, Adolf Maria:
© 1978 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1978
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ISBN-13: 978-3-531-21448-1 e-ISBN-13: 978-3-322-85670-8
DOl: 10.1007/978-3-322-85670-8
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6
1 Einige methodologische Probleme. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9
1.1 Schwierigkeiten sozialwissenschaftlicher
Begriffsbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9
1.2 Zur wissenschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit .. 12
1.3 Zur wissenschaftlichen Abbildung der Wirklichkeit . . .. 19
1.4 Das Ideal der vollstandigen Konkretion . . . . . . . . . . .. 26
2 Differenzierungen im Begriff der Erfahrung . . . . . . . . . . .. 32
2.1 Wabrnehmung und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32
2.2 Intelligible Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 37
2.3 Erfahrungen als kategoriale Schematisierungen . . . . . .. 41
2.4 Die intentionale Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 47
2.S Die existenziale Erfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. SS
3 Zur Komplexitiit sozialwissenschaftlicher Erfahrungsobjekte. 63
3.1 Manipulierte tlffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 63
3.2 Entfremdete Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 71
3.3 Weltform der Modeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 81
4 Theoretische Paradigmen sozialwissenschaftlicher
Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 86
4.1 Zur Zweckrationalitat sozialen Handelns . . . . . . . . . .. 86
4.2 Organisatorische Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 88
4.3 Organisatorische Referenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9S
4.4 Die Tiefenstruktur organisatorischen Handelns ....... 100
5 Die Praxis sozialwissenschaftlicher Anwendungen ........ 107
S.l Anwendung als Strukturproblem ................ 107
S.2 Anwendung als Informationsproblem ............. 113
S.3 Anwendung als Transformationsproblem ........... 119
S.4 Anwendung als Machtproblem .................. 126
6 Pliidoyer fiir sozialwissenschaftliche Bildung . ........... 131
Literaturverzeichnis . ............................. 138
S
Vorwort
AnlaB, dieses Bueh niederzusehreiben, ist ein empiriseh-analytisehes
Unbehagen. Besehaftigt mit einer Untersuehung zur Anwendung
sozialwissensehaftlieher Erkenntnisse in Wirtsehaftsbetrieben und in
der politisehen Administration, muBten wir feststellen, daB die
Grundlagen der Befragung einer theoretisehen Klarung besonders
bedurftig waren. Dieser die Untersuehung begleitende ProzeB der
theoretisehen Se1bstverstandigung begann mit der Einsieht, daB der
empiriseh-analytisehe Erfahrungsbegriff der Sozialwissensehaft die
Wirkliehkeit dieser Wissensehaft nur unvollkommen erreieht.
Es war daher naheliegend, zunaehst einige methodologisehe
Grundfragen zu diskutieren, die fur die sozialwissensehaftliehe
Theorie und Empirie konstitutiv sind. Das Ergebnis dieser Diskussion
laBt sieh dahingehend zusammenfassen, daB die Grunddisziplin der
Sozialwissenschaft dann die Philosophie sein muB, wenn die Inter
pretation empiriseher Befunde nieht beliebig sein solI. Und zwar
eine Philosophie, die sieh nieht aussehlieBlieh mit einer wissensehafts
theoretisehen Naehzeiehnung wissensehaftlieher Methoden begnugt,
sondern deren inhaltsbezogene Kategorien Bestandteil der sozial
wissensehaftliehen Theorien se1bst sein mussen.
Sozialwissensehaft wird vor diesem Hintergrund eine Form mog
lieher Erkenntnis, einer Erkenntnis, die beispielsweise im Gegensatz
zur Physik, ihren Erkenntnisgegenstand im wesentliehen mit dem AlI
tagswissen teilt. Sozialwissensehaftlieh zu ersehlieBende Erfahrungen
konnen also nieht von den Erfahrungen des alltagliehen BewuBtseins
vollig abstrahieren; aber sie mussen diese Form des BewuBtseins der
art konkretisieren, daB seine Erfahrungen in ihrer Komplexitat
und vie1fliltigen gesellsehaftliehen Bezogenheit verstehbar werden.
Urn dieses Zie1 aueh nur annaherungsweise zu erreiehen, bestand die
Aufgabe darin, die Dimensionalitat moglieher sozialwissensehaft
lieher Erfahrungen in systematiseher Absieht exemplariseh zu re
konstruieren und komplexe Erfahrungsobjekte zu differenzieren, mit
denen die Sozialwissensehaft dann konfrontiert ist, wenn sie fur die
Gesellsehaft Funktionen wahrnehmen will, die als Diagnose und
Therapie gestorter sozialer Interaktionen bezeiehnet werden konnen.
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DaB Bedingungen der Moglichkeit sozialwissenschaftlicher Erfah
rungen zugleich iiber die Bedingungen der Moglichkeit sozialwissen
schaftlicher Anwendungen entscheiden, ist die These, unter der wir
die theoretische und praktische sozialwissenschaftliche Anwendungs
diskussion fUhren; dabei lassen wir uns von der Intention leiten, daB
sozialwissenschaftliche Anwendungen nur dann dauerhaft zu legiti
mieren sind, wenn sie als Anwendungen der Aufkllirung begriffen
werden.
Dem Stifterverband fUr die Deutsche Wissenschaft und der Deut
schen Forschungsgemeinschaft wollen wir unseren Dank fiir die For
derung dieser Arbeit aussprechen.
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1 Einige methodologische Probleme
1.1 Scbwierigkeiten sozialwissenscbaftlicber Begriffsbildung
Unter einem Begriff werden gemeinhin aIle durch Worter oder andere
Zeichen festgehaltenen Vorstellungsinhalte verstanden. Die Sozial
wissenschaft verfiigt bislang noch iiber keinen konsistenten Begriffs
apparat. So kommt sie oft in die schwierige Situation, potentiellen
Anwendem immer wieder in andere Begrifflichkeiten gefagte Texte
anzubieten. Dieser Mangel ist aber keineswegs ein blog formaler,
sondem insofem auch ein inhaltlicher, als Sozialwissenschaftler
sich nicht auf eine einheitliche Sachmethodik einigen konnen, der
dann eine einheitliche Begriffsmethodik zu folgen hatte.
Die Begriffsbildung, das Auffinden von lnvarianzen, ist ein wesent
liches Konstitutionsmerkmal einer Wissenschaft. Die Sozialwissen
schaft hat es in dieser Frage besonders schwer. lhr Gegenstand, die
sich diskontinuierlich entwickelnden gesellschaftlichen VerhlUtnisse,
gestatten nur in der Ausnahme Begriffsbildungen auf dem Wege der
generalisierenden Abstraktion. Sie ist bisher gezwungen, sich in der
Begriffsbildung und in der Definitionstechnik pragmatisch zu verhal
ten. Wiirde von einem Sozialwissenschaftler verlangt, jedesmal, wenn
er "Signifikanz" meint, iiberzuflUlige Beziehung zwischen Merk
malen" zu sagen, ware dies zwar prinzipiell moglich, aber faktisch
unsinnig. Das Wort "Signifikanz" ist eine Nominaldefinition. Sie ver
einfacht das Denken, indem sie langere sprachliche Ausdriicke ver
kiirzt. Von lhr mug jedoch verlangt werden, d~ der neueingefiihrte
Ausdruck, das Definiendum, mit dem bereits vorhandenen, dem De
finiens, bedeutungsgleich ist. Neben Nominaldefinitionen verwendet
die Sozialwissenschaft auch Realdefinitionen - mehr oder weniger
klar und eindeutig formulierte Aussagen iiber die gesellschaftliche
Wirklichkeit, die durch Ursachenbestimmungen erganzt werden.
Konsensus iiber Realdefinitionen zu erreichen, ist deshalb schwierig,
weil die gesellschaftliche Wirklichkeit ein sich diskontinuierlich
verandemder Prozeg ist, der raumzeitliche Lokalisierungen nur sehr
bedingt gestattet. Die Definition wird von dem Wandel der geseIl
schaftlichen Realitat iiberholt.
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Paul Lorenzen (1969, S. 73 ff.) unternimmt den Versuch, aIle in
der Alltagssprache verwendeten Priidikatoren derart zu interpretie
ren, daB sie auch fur den Autbau jeder Wissenschaftssprache geeignet
sind. Dariiber hinaus will er einsichtig machen, daB wissenschaft
licher Sprachgebrauch nur dann reflektierbar ist, wenn er zugleich
Unterscheidungen einfUhrt, die von der alltagssprachlich getroffenen
Wortwahl unabhiingig sind. AIle Termini der Wissenschaftssprachen
mussen auf Termini der Alltagssprache zuriickzufUhren sein, urn Wis
senschaft systematisch, methodisch und zugleich mit praktischer Re
levanz zu ermaglichen. Relevanz ist fur Lorenzen die Kontrollinstanz
wissenschaftlicher Rede. Die Problemfiihigkeit gesellschaftlichen
Lebens ist nach Lorenzen also nur dann garantiert, wenn sie sprach
lich unterscheidbar zu machen ist.
Fur Gilbert Ryle (1969, bes. S. 40 ff.) mug Relevanz aus dem
Zusammenhang von Bewugtsein, Sprache und gemeinsamem mensch
lichen Handeln entwickelt werden. Diesen Zusammenhang versucht
Ryle mit Dispositionsbegriffen zu verdeutlichen, mit Begriffen, die
uber wissenschaftssprachlichen Sprachgebrauch hinausreichen, weil
sie zugleich praktische Zwecke oder Ziele intendieren. Ihre Definition
hat mithin auf den faktischen Gebrauch eines Wortes abzustellen.
Dann sind Dispositionsbegriffe adiiquat definiert, wenn zu beurteilen
ist, ob sie im Hinblick auf die Erreichung eines bestimmten Zweckes
oder Zieles angemessen verwendet werden. Damit dies gelingen kann,
mussen Regeln angegeben werden, nach denen ein Wort jeweils zu
verwenden ist.
Lorenzen und Ryle thematisieren zwar den Zusammenhang von
Wissenschaft und praktischer Rede, gehen aber nicht explizit auf die
komplexen Zusammenhiinge des gesellschaftlichen Lebens ein, in
denen stets Bewugtes, Teilbewugtes und Unbewugtes enthalten ist.
Darum ist Sprache fUr Identisches und Nichtidentisches gleicher
maaen offen. Wenn Menschen uber Handlungen sprechen, lasen sie
diese aus ihrer Genese und 10kaIisieren sie. DeshaIb interpretieren
und verstehen sie Handlungen nur fragmentarisch, was urn so folgen
reicher ist, als der sprachliche Ausdruck uber die Situation seines
Entstehens hinaus Giiltigkeit beansprucht.
Da sozialwissenschaftliche Begriffe auch immer Erkliirungs
muster der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind und in dieser Eigen
schaft eine verstehende Identitiit mit dem zu Verstehenden be
zwecken, reproduziert sich gesellschaftliche Wirklichkeit im soziaI
wissenschaftlichen Begriff. Die Begriffe "soziale Rolle", "sozialer
Status" und "soziale Position" beispielsweise bezeichnen und bedeu
ten nicht nur etwas, sondern sie sind zugleich soziale Realitiit. ] ede
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theoretische Grundlegung der anwendungsbezogenen Sozialwissen
schaft muB versuchen, diese Dialektik des sozialwissenschaftlichen
Begriffs als Realdialektik auszuweisen, urn die eigene Wirklichkeit
nicht zu verfehlen. Sozialwissenschaftliche Begriffsbildung verfolgt
also immer auch ein wahrheitspraktisches Ziel: die Suche nach Iden
titat in der Geschichte.
Identitatsverluste gesellschaftlicher Systeme sind immer dann zu
diagnostizieren, wenn es unmoglich wird, die wertbezogenen Bediirf
nisse und Interessen der Gesellschaftsmitglieder adaquat zu befriedi
gen. Identitatsverluste sind Wirklichkeitsverluste, sie sind mit dem
Fehlen eines lebens- und erlebensorientierenden Sinnes gleichzuset
zen. Urn Identitat in gesellschaftlichen Systemen zu ermoglichen, ist es
notwendig, daB auch der einzelne gesamtgesellschaftliche Defizite
aus seiner Situation als problemfahig erkennt. Problemfahig sind ge
samtgesellschaftliche Defizite also nur dann, wenn sie nicht nur von
denen, die an der Losung eines Problems beteiligt sind, sondern auch
von jenen, die von diesem Problem betroffen sind, erkannt und als
IOsungsbediirftig akzeptiert werden. Erst wenn diese Basis, die
Voraussetzung einer sozioanalytischen Dialogsituation ist, von Be
troffenen und Beteiligten freiwillig, im Sinne einer Einsicht in die
Notwendigkeit, angenommen wird, kann man davon sprechen, daB
ein Problem gesellschaftliche Relevanz hat.
Die Einsicht in gesellschaftliche Relevanz ist Voraussetzung,
urn MaBnahmen der verfaBten Gesellschaft legitimieren zu konnen.
Legitimationen sind Erkenntnisleistungen! die nach bestem Wissen
und Gewissen als relevant erkannte und akzeptierte mogliche Pro
blemlOsungen kritisch begriinden. Kritisch begriinden heiBt, den je
weils besten Grund fiir eine ProblemlOsung auf den reflektierten
Interessen- und Bediirfniskontext potentiell vieler Menschen zu be
ziehen, urn ibn dann als wertefundierendes Moment in die ver
faBte Gesellschaft zu integrieren.
Das Geschaft der Sozialwissenschaft deutet sich in dieser spezi
fischen Leistung des Begriffs an. Eingelassen in den historischen
Zusammenhang der Gesellschaft versucht sie, deren Veranderung
immanent zu begreifen und aus dem Begreifen der sich verandern
den Immanenz kritische Bediirfnis- und Interessenreflexion zu be
treiben. Ober diese reflektierte Motivationsstruktur bringt sie die
fundierenden Normen einer Gesellschaft auf den Begriff, diagnosti
ziert damit Identitatsverluste, die sie therapieren muB, urn ihren
Auft rag zu erfiillen. Sie erfahrt momentane Unzulanglichkeiten der
intentionalen und normativen Struktur einer Gesellschaft kritisch
im eigenen Begriff und versucht darum, diese zu verandern. Ihrem
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