Table Of ContentGriinderprocesse.
Eine criminalpolitische Studie
von
Justinus Moeller.
L'esprit de commerce produit daus les homme.
un certain sentiment de jnstice exacte, oppose d'nn
coM au brigandage, et de I 'antre it ees vertus
morales qui font qu~on ne discute pas toujours
ses interets avec rigidit8, et qu'on pent les
negliger pour eeux des autres.
MontesquilJ'U.
Mit einem Anhang
enthaltend die wiehtigsten, in jUngster Zeit ergangenen strafreehtliehen Entscheidnngen
preussischer GerichtshOCe tiber die hier einschliigige Materie.
Zweite Auflage.
---------.~-.-------
Berlin.
Verlag von Julius Springer.
1876.
ISBN-13: 978-3-642-94039-2 e-ISBN-13: 978-3-642-94439-0
001: 10.1007/978-3-642-94439-0
Vorwort.
1m AusIegen seyd frisch und munter!
Legt ihr's nicht aus, so Iegt was unter.
Die nachfolgenden Blatter sind im Mai dieses Jahres ge
schrieben. Mannigfache Zufalle haben den Druck bisher
verzogert.
Inzwischen ist del' Gegenstand del' vorliegenden Studie
in eine neue Phase getreten. Die sogenannten "Gliinder
processe" sind eine stehende Rubrik in del' Publicistik ge
worden; das offentliche Ministerium und die Gerichte haben
denselben ihre besondere Sorgfalt zugewandt. Weittragende
Consequenzen sittlieher, politiseher, wirthschaftlicher Natur
sind ihnen entsprossen.
Eine Kritik del' bisherigen Judieatur, welche ich, soweit
mil' die betreffenden Erkenntnisse zuganglich waren, in dem
Anhange mittheile, habe ich aus zwei Grunden unterhissen.
Einmal, weil die officielle Kritik des hOchsten preussischen
Gerichtshofes in Bezug auf die Hauptfrage noeh aussteht;
dann abel' auch, weil sieh dieselbe aus del' folgenden Dar
stellung in Verbindung mit den beigefugten Entseheidungen
preussischer GerichtshOfe erster und zweiter Instanz fur den
Fachmann von selbst ergiebt.
Inmitten einer wirthschaftlichen Krisis von unabsehbarer
Trostlosigkeit erscheinE'n die "Grunderproeesse" gleichsam
1*
IV
als dpl' letzte Act del' Millial'dentl'agodie, welche das politisch
neu erstandene Reich zum Schauplatz ausersehn hat. Ob
del' Zeitpunkt richtig gewahlt ist? . . . .
Wir stehn VOl' den Wahlen. Ruben und driiben erWnt
mitten in dem politischen Streit auch del' sociale Hader.
Da ist es denn kein Wunder, dass auch del' "Grundel':
process" hie und da als willkommenes Agitationsmittel el'
scheint.
Was abel' hat die Rechtsprechung mit alledem zu
sehaffen?
Vielleicht ist es mil' gelungen, einiges Licht in diese
von del' Partheien Gunst und Rass verdunkelte Materie zu
bringen. Ich wul'de him'in den besten Lohn meiner Arbeit
erblicken.
Berlin, im Juli 1876.
Der Verfasser.
I.
Die Rechtspl'echung hochcivilisil'ter Staaten hat zwei
grosse Hindel1lisse zu bekampfen, deren Beseitigung an die
Tuchtigkeit des Richters die allergrossten Anforderungen
macht. Diese Hindel1lisse liegen einmal: in dem Zwange
zur Anwendung langst veralteter und dem model1len Rechts
bewusstsein vollig fremd gewordenel' gesetzlicher Bestim
mungen, dann abel' auch - und him'in scheint uns das
gl'ossere und bei weitem gefahrlichere Hinderniss zu liegen,
- in dem Mangel passender Anol'dnungen fur gewisse Lebens
verhaltnisse, welche die ewig neu gestaltende Macht wirth
schaftlicher Triebe und sittlicher Anschauungen unaufhorlich
zu Tage fordert. Wenn in dem einen Falle del' Richter -
oftmals im Widerspruch mit seinem eigenen sittlichen Be
wusstsein - gleichsam aus del' Rechtsanschauung eines langst
entschwundenen Zeitalters heraus gezwungen ist, Recht zu
sprechen, so tritt in dem andel1l Falle - namentlich in
Zeiten grosser politischer und wirthschaftlicher Erregung -
die ungleich grossere Gefahr nahe, aus del' gereizten Stim
mung des Tages heraus, Rechtssatze zu gestalten, welche von
einer Rechtsverletzung nUl' durch die Abwesenheit einer hier-
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auf gerichteten Absicht (dolus) unterschieden sind. Von jehel'
war insbesondere das Strafrecht del' Tummelplatz jener
extensiven Interpretationsbestrebungen, welche zu Nutz und
Frommen irgend eines in den Vordergl1lnd tretenden, poli
tisch en , wirthschaftlichen, religiosen odeI' socialen Tages
interesses, die Rechtsanschauung del' Zeitgenossen trubte.
Diese Bestrebungen bel1lhten oft auf einer Verwechselung
jener Interessen mit dem "offentlichen Interesse" schlechthin.
In den meisten Fallen boten sie lediglich die Handhabe fur
den gewissenlosen Eigennutz jener zu allen Zeiten zahl
reichen Menschensorte, die auf allen Schlachtfeldel'll, auf
denen die Menschheit, leiblich odeI' geistig geblutet, das trost
lose Handwerk des Maraudeurs betl'eiben. Das Denuncianten
thum ist das stets wiederkehrende Symptom jeder Reactions
periode. Wenn die letzten Stl'ahlen eines blutigen Tages
uber dem Blachfeld vergluhn, dann treten aus dem Hinter
halte jene schmutzigen Existenzen, die, so lange del' Kampf
wahrt, immer den jeweilig Starkel'll unterstutzen, demselben
Spionen- und Handlangerdienste leisten, urn ihn im nachsten
Augenblicke zu verrathen. Sie morden den Sterbenden und
plundel'll die Leiche und wenn sie ihren Raub in Sicherheit
gebracht, dann treten sie kuhnen Muthes VOl' den Sieger und
beginnen aufs Neue ihren schnOden Dienst gegen diejenigen,
die ein mildes Vel'hangniss VOl' dem Untergange in derSchlacht
bewahrt hat!
Die Geschichte des Denunciantenthums ist die Geschichte
del' Reactionen. J eder Burgerkrieg hat die Proscriptionsliste
im Gefolge, jede wirthschaftliche Revolution - ihre "Grun
dm"hetze". Nul' dass die Namen wechseln! 1m alten Rom
waren es die "Kol'llwucherer" und "Zollpachter"; im Mittel
alter die Hexen und Juden; in del' franzosischen Revolution
die "Aristokraten"; in den dreissiger J ahren unsel'es J ahr
hundel'ts die "Demagogen" und in unseren Tagen -" die
"Grunder" und "Grundergenossen".
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Sei'n wir nicht ungerecht! Es liegt in allen diesen
Reactionen ein Element des wohlverdienten Strafgerichts fur
den Missbrauch einer Gewalt. Nul' trifft dasselbe in den
seltensten Fallen den wirklich Schuldigen. Del' blinde Fana
tismus des wirklich oder vermeintlich Geschadigten ist mass
und ziellos. Er kennt nul' die Rache fur geschehene Unbill;
ihm gilt es gleich, ob er den Uebelthater direct odel' auch
denjenigen trifft, den er als dessen Mitschuldigen erachtet,
weil er ihn im Besitze del' Vortheile wahnt, die des Erstem
Unthat gezeitigt. Das Schlimmste dabei ist abel', dass es in
Wirklichkeit nicht einmal ein Kampf des Beschadigten gegen
den Beschadiger, sondem nul' ein Scheinkampf ist, in welchem
die Angl'eifer iiberwiegend zu jenem "furchtbaren Geschlecht
del' Nacht gehOren", die aus jedel' offentlichen Calamitat fur
sich ein eintragliches Gewerbe machen. Am lautesten er
tont das Geschl'ei del' Delatoren. Sie sind es, die in del'
Maske des Volksfl'eundes den Feldzug wider das jeweilige
Object des offentlichen Missfallens anfiihren. Kommt noch
das Ungliick hinzu, dass eine missverstandliche Ethik, ge
paart mit verkehrten wirthschaftlichen Begriffen an hervor
ragender Stelle in gutem Glauben in den Chorus einstimmt,
dann ist das Signal zu einem Kl'euzzug gegeben, in welchem
das gewerbmassige Lumpenthum jedweden Standes und Be
rufes sich unter del' Fahne des wohlmeinenden Gesellschafts
retters sammelt.
Solche Betrachtungen drangen sich unwillkurlich dem
unpartheiischen Beobachter auf, welchem das Schicksal zu
Theil wird, das widerliche Treiben del' wirthschaftlichen
Reactionsperiode mit anzusehen, in deren Mitte - sicherlich
nicht an del'en Ende! - wir uns befinden. Lauter als je
erschallt aus allen Ecken und Enden das Anathema wider
die "Grunder"! Del' Grunder ist del' modeme Komwueherer,
Hexenmeister, Brunnenvergifter, Demagoge u. s. w. Del'·
"Grunder" ist an allen Calamitaten del' Gegenwart schuld.
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Die unvermeidlichen "Wittwen und Waisen"*), die ihre letzte
Habe in Actienspeculationen verloren -, haben ihr trauriges
Loos lediglich dem "Grunder" zu verdanken! Er .hat die
Wohnungs- und Nahrungspreise vertheuert, seinem wahn
sinnigen Luxus allein ist es zuzuschreiben, dass del' Arbeiter
brodlos, del' Acker verwustet, die Wel'kstatt leer geworden
ist. Er hat auch die Musen vetjagt! "Seht doch", so schreien
die Catonen der Kunst und Wissenschaft "wohin ist es mit
unserel' Kunst, mit unsel'm Schriftthum gekommen"! Nichts
als die gleissnerische Pracht eines verkommenen Zeitaltel's
an unsern Palasten, an unsern plastischen Bildwel'ken, an
unsern Gemalden! An Stelle del' etwas kahlen, abel' um so
gedankentiefern Cartons ist del' Goldl'ahm mit mehl' odel'
mindel' zweifelhaftem Fal'beninhalt getreten, an Stelle del'
keuschen Einfalt del' Antike feiert ein sinnbethOrendel' Realis
mus seine Orgien. Nicht einmal das Heiligthum Euterpe's
und Melpomene's ist von der Vel'wftstung des Gl'undelthums
unbetiihl't geblieben. W0 einst in tiefer Andacht den ein
fach grossen Tongebilden Mozart's und Beethoven's gelauscht
wurde - da rast der Hexensabbath musikalischel' Gl'oss
gliinder und jene Raume, die von dem Wohlklange Schiller
scher Verse wiederhallten - umfassen jetzt eine verderbte
Menge, Bewunderung zollend den pensionatswidrigsten
dramatischen SchOpfungen moderner Dichter!
Bewahre den Schreiber diesel' Zeilen del' Himmel VOl'
dem Schicksal, als Anwalt des Gliinderthums erachtet zu
werden! Auch er ist von tiefstem sittlichen Ekel gegen die
*) Eine glanzende Illustration zu diesem Stichwort bilden die in
den quo Processen als "Besch1tdigte" auftretenden Zeugen. Wir
erinnern namentlich an die den Lesern Berliner Zeitungen aus der
Untersuchungssache wider Wrede und Genossen bekannten Personllch
keiten, vgl. die Verhandlungen in dies em Process nach Nr. 130 und
133 des Berliner Tageblatts yom 7. u. 10. Juni 1876.
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Ausschreitungen einer schl'ankenlosen Erwel'bssucht erfullt.
Abel' bei aller Anerkennung fur die Berechtigung jenes
heiligen Zornes kann er doch nicht urnhin, die Til'aden del'
Pseudobiederrnanner fur stark ubertrieben zu halten, ins
besondere abel' diejenigen Kreise VOl' solchen Uebertrei
bungen zu warn en , welche in erster Linie dazu berufen
sind, Ruter und Bewahrer des sittlichen Volks- und Rechts
bewusstseins zu sein und denen es obliegt, unbeirrt urn
die wechselnde Tagesrneinung - R e c h t zu sprechen.
II.
Das Grunderthum ist aus dem Stadium volkswirthschaft
licher, gesetzgebungspolitischer und moralphilosophischer Be
trachtungen in den letzten Tagen in das del' strafrechtlichen
Erorterung getreten. Nachdem in unseren Parlamenten, in
den Spalten unserer angesehensten Zeitungen und von her
vorragenden Theoretikern del' Rechtswissenschaft die Unvoll
kommenheit unserer Gesetzgebung als del' alleinige Grund
fur die Ausschreitungen del' sogenannten Grunderperiode
angefuhrt worden ist, nachdem del' Ruf nach "Reform del'
Actiengesetzgebung" mit dem schwer wiegenden Argument
ist zum Schweigen gebracht worden, dass "Gelegenheitsge
setze" nichts taugen, dass man die Zeit grosserer Ruhe und
Objectivitat abwarten musse urn die bessernde Hand an diese
gesetzliche Materie zu legen - wird del' staunenden Welt
mit einemmale von geistreichen StaatsanwiiJten versichert,
dass das Mittel gegen die "Grunderpest" gefunden und dass
wir uns langst bereits im Besitze dieses Mittels befanden I
Dieses heilkraftige Arcanum - so versichert uns del'
staatsanwaltliche Witz - dieses Wunderblumlein, das im
Verborgenen bluht, ist kein Anderes als - del' Betrugs
paragraph (§ 263) des Strafgesetzbuchs fur das Deutsche
Reich! Seltsam genug, dass diese Entdeckung erst vier Jahre
spater*) gemacht wird, nachdem die Unthaten, welche sich
*i Die Unkenntniss der Vorgange diirfte wohl schwerlich der
Grund gewesen sein, weshalb die Behorden gegen den Griindungs
unfug. wenn er iiberhaupt die Handhabe zu strafrechtlicher Verfol
gung darbietet, nicht zu jener Zeit als er in hochster Bliithe stand,
eingeschritten sind. Dass das Denunciantenthum damals noch .nicht
so ausgebildet war, erkliirt dies keineswegs. DieDinge waren noto
risch und das Einschreiten ex officio, wenn iiberhaupt - damals
geboten.