Table Of ContentBURKHARD LIEBSCH /DAGMAR .MENSINK (Hg.)
Gewalt Verstehen
Akademie Verlag
Burkhard Liebsch / Dagmar Mensink (Hg.)
Gewalt Verstehen
Gewalt Verstehen
HERAUSGEGEBEN VON BURKHARD LIEBSCH UND DAGMAR MENSINK
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
und des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover
ISBN 3-05-003854-3
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003
Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
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Einbandgestaltung: Milchhof : Atelier 24, Hans Bahzer
Satz: R. Johanna Regnath, Tübingen
Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza
Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
DAGMAR MENSINK/BURKHARD LIEBSCH
Vorwort
Verletzende Gewalt
Widerfahmis - Ausdruck - Verstehen
BURKHARD LIEBSCH
Gewalt-Verstehen: Hermeneutische Aporien 23
PASCAL DELHOM
Erlittene Gewalt verstehen 59
CHRISTIAN GRÜNY
Zur Logik der Folter 79
Immanente und überschreitende Gewalt
Stimme - Diskurs - Ordnung
KÄTE MEYER-DRAWE
Stimmgewalten 119
PETRA GEHRING
Liberale Forderungen nach Sterbehilfe
Die Gewalt in einem tödlichen Autonomiediskurs 131
MARTIN W. SCHNELL
Unforgettable
Macht und Gewalt politischer Stiftungen 141
WERNER HAMACHER
Heterautonomien
- One 2 Many Multiculturalisms - 157
CHRISTOPH LIENKAMP
Gewalterfahrung, Wertbindung, Identitätsbildung
Sozial- und religionsphiiosophische Bestimmungen des Verhältnisses
von Gewalt und Religion 203
Entfesselte Gewalt
Feindschaft - Politik - Krieg
BURKHARD LIEBSCH
Feindschaft aus Verfeindung
Politische Koexistenz zwischen Gastlichkeit und Vernichtung 225
GÜNTER FIGAL
Fremdheit und Feindschaft
Erörterungen zur Grenze des Ethischen 265
BERNHARD H. F. TAURECK
Gewalt im Modus der Feindschaft
Eine Überlegung zu einer kritisch-genealogischen Geschichte
der Feindschaft im antiken und nachantiken Europa 287
ALFRED HIRSCH
Zum neueren Verständnis interkollektiver Gewalt in der Philosophie
oder die Rückkehr des bellum justum 315
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 341
DAGMAR MENSINK/BURKHARD LIEBSCH
Vorwort
über Gewalt sprechen und schreiben zu können, um zu verstehen, was Menschen wi-
derfahren ist oder was sie einander antun, setzt voraus, dass man von ihr nicht mehr
gänzlich in Anspruch genommen wird. Unter dem Druck akuter Gewalt versagt und
verzweifelt das Bemühen um Verstehen nur allzu schnell. Nicht selten ziehen sich die-
jenigen, die, statt zu handeln, noch zu verstehen versuchen, Verachtung zu. Wer wollte
in den Straßen Belfasts, in den südafrikanischen Tovraships, die man als Weißer noch
immer meiden muss, oder in der Westbank noch für Verstehen, Verständnis oder Ver-
ständigung werben, wo doch nichts so klar zu sein scheint wie das „Recht" der Gegen-
Gewalt - die scheinbar jedes weitere Verstehen erübrigt, aber auf fatale Weise neue,
massivste Gewalt heraufbeschwört? Wer dieses subjektiv evidente Recht der Gegen-
Gewalt in Frage steUt und sich noch in der akuten Gewalterfahrung um Verstehen, Ver-
ständnis und Verständigung bemüht, macht sich nur zu oft die eigenen Leute zum
Feind. Das bloße Bemühen, nicht selber rückhahlos der Gewalt oder der Gegen-Gewalt
zu verfallen, erregt schon den Verdacht, auf der anderen Seite zu stehen oder für den
vielfach gehassten Gegner womöglich Sympathie aufzubringen. So wird das Verstehen
zwischen den Fronten zerrieben oder im Keim erstickt, um nur ja nicht das Recht der
eigenen Position zu gefährden. Es hat den Anschein, als müsse das Verstehen an den
Brennpunkten der Gewalt unweigerlich dahinschwinden wie Schnee in der Sonne, als
habe das Verstehen „vor Ort", wo die GewaU herrscht, allemal nichts zu suchen. Nun
karm es zweifellos nicht Aufgabe eines Buches sein, dem Verstehen vor Ort Geltung zu
verschaffen. Das Nachdenken und Schreiben über Gewalt muss sich in der Distanz zur
aktuellen Gewalt halten; und nur in dieser Distanz karm es seine eigenen Möglichkeiten
entfalten. Macht es sich aber nicht in der Distanz zu den Orten der Gewalt der Ah-
nungslosigkeit verdächtig? Muss es nicht doch eine gewisse, vermittelte Nähe zur Ge-
walt riskieren, um seinen Namen zu verdienen? Läuft es dann aber nicht Gefahr, mit der
Gewalt selbst kontaminiert zu werden, wenn es sie sich nicht als bloßen Gegenstand
des Verstehens vom Leibe halten kann? Oder vermag sich das Verstehen {welches Ver-
stehen?) ohne weiteres der Gewalt {welcher Gewalt?) zu nähern, ohne Gefahr zu laufen,
seinerseits von ihr heimgesucht zu werden? Wird das Verstehen gegebenenfalls erst
8 Dagmar Mensink/Burkhard Liebsch
nachträglich von Gewalt affiziert oder wurzelt Gewalt von Anfang an in ihm selbst?
Werden sich Gewah und Verstehen als einander nahe oder gar miteinander verwandt
erweisen?
Wer es sich aus der Ferne oder auch vor Ort unbedrängt leisten kann, Gewalt und
Verstehen theoretisch einander gegenüberzustellen und womöglich nach deren Ver-
flechtungen zu fragen, provoziert eine Vielzahl von Fragen - allen voran diejenige nach
der Verstehbarkeit von Gewak in ihren verschiedenen Erscheimmgsformen. Dabei wird
meist en passant imtersteüt, Gewalt köime nur als Gegenstand des Verstehens in Be-
tracht kommen. So gesehen würde sich zunächst die Aufgabe einer Bestandsaufnahme
der Gewalt in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen stellen. Nicht immer tritt die Ge-
walt spektakulär auf, um ims abrupt aus dem Schlaf der Normalität alltäglichen Lebens,
der Ignoranz und des Nicht-Verstehens zu reißen und mit der nachträglich verständnis-
losen Frage zu konfrontieren, wie es dazu kommen konnte. Und nicht immer begegnet
die Gewalt „frontal", als Angriff, Provokation und Verletzung. Es gibt eine intelligente,
hinterhähige Gewalt, die auf leisen Sohlen kommt und sich am Ende so raffiniert in
unserem Selbstverhältnis einnistet, dass wir sie uns als verinnerlichte selbst zufügen,
ohne das recht zu realisieren. Die Gewah begegnet, wenn überhaupt, in solchen Fällen
kaum mehr von außen wie ein heteronomes Widerfahmis; vielmehr beginnt sie unter
diesen Umständen zusammenzufallen mit der Art und Weise, in der wir selber existie-
ren - sei es auch in der Weise des Verstehens. Dass wir in der Weise des Verstehens
leben und als sprechende Wesen (zoon logon echón) darauf gleichsam angelegt sind,
einander zu verstehen und so die Gewalt zu überwinden, lehrt nicht nur die Hermeneu-
tik. In Hannah Arendts Rückbesinnung auf die Ursprünge der Philosophie und speziell
des Politischen als Bestimmung des Sinns menschlicher Koexistenz heißt es, dass „die
Polis den ernsten Versuch machte, die Gewalt aus dem Zusammenleben der Menschen
auszuschalten". In dieser Perspektive gih Gewalt als unpolitisch; und sie scheint nur
dort zu herrschen, wo die Menschen sich noch nicht auf den Sinn des Redens (und des
Überredens, peithein) besonnen und der ursprünglichen Gewaltsamkeit {bia) ihres bloß
natürlichen Lebens noch nicht abgesagt haben. Gewalt herrscht so gesehen dort, wo
noch nicht oder wo nicht mehr miteinander gesprochen wird. Im Medium politischer
Koexistenz, deren eigentlichen Sinn die Philosophie reflektiert, hätte sie in Wahrheit
ebenso wenig einen Ort wie im Verstehen, das sich im Zusammenleben vollzieht, oder
in der Reflexion seines Sinns.' Inzwischen sind wir eines Besseren belehrt. Weit ent-
fernt, Gewalt nur zu erleiden, reproduzieren wir sie durch unser Leben xmd Reden,
durch unser Tun und Haben, ja selbst durch unser Sein, das offenbar nicht ohne eine
massive, aber kaum je ereignishaft hervortretende „strukturelle Gewalt" auskommt, die
vielfach anderswo „Leben kostet". Hier, wo die Gewalt nur kaschiert erscheint, ver-
schwimmen die Grenzen zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Zurechenbarkeit
1 H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München/Zürich 1994, S. 30, 293.
Vorwort 9
imd UnZurechenbarkeit, Tun und Lassen, zwischen Gewalttätigkeit und Gewaltsamkeit.
Letztere verschmilzt nicht selten so sehr mit dem, was ist, dass sie kaiun mehr als Ge-
walt wahrzunehmen ist. Gerade deshalb fuhrt die übliche Fokussierung auf die auifäl-
ligsten, skandalösesten und „unverständlichsten" Formen der Gewah leicht in die Irre.
Sie gestattet es, es sich in stiller Gewalt bequem einzurichten, die am Ende nicht einmal
mehr danach verlangt, verstanden zu werden, insofern sie nur die Kehrseite dessen zu
sein scheint, was ist. Aber das, was ist und immerfort eine „normale" Gewalt reprodu-
ziert, ist nicht so lückenlos verfugt, dass man sich keine Schulung der Wahrnehmung,
keine Sensibilisierung für vermeidbare Gewalt vorstellen könnte, die man allzu schnell
zum angeblich Hinzunehmenden, Gegebenen zählt. Auch eine solche Sensibilisierung
setzt aber eine minimale Distanz zur Gewalt voraus, der man nicht völlig erliegen darf,
wenn man sie auch nur im Geringsten als Gewalt verstehen will. Traumatisierende
Gewalt, die unsere Sensibilität gleichsam erblinden lässt, verbaut am Ende alle Wege
des Verstehens. Die Frage nach der Verstehbarkeit gewisser Formen von Gewalt über-
haupt stellen zu können, setzt voraus, dass die Gewalt nicht bereits ,Jiören und Sehen
vergehen" lassen hat, wie es sprichwörtlich heißt.
Ihr zu erliegen oder von ihr beherrscht zu werden bedeutet mitnichten, zugleich zu
verstehen, was da widerfährt. Zwar muss diese Distanz keine räumliche sein: Selbst der
Gefolterte mag in Grenzen noch verstehen, was ihm zugefugt wird. Doch stehen seine
Chancen denkbar schlecht, denn auch auf diese Distanz zielt die Folter oftmals noch ab,
um ihr Opfer ganz und gar auf den Ort der Qual zusammenschrumpfen zu lassen. Die
Frage der Distanz stellt sich in diesem Falle wieder anders aus der Sicht des Täters und
noch einmal anders aus der Perspektive mit anwesender oder abwesender Dritter - bis
hin zu denjenigen von uns, die nie „vor Ort" waren und hoffentlich auch nie sein wer-
den ... Schwer, wenn nicht unmöglich zu bestimmen ist diejenige Entfernung zum Ge-
schehen der Gewak, die sich als zu groß erweist, um noch das geringste Verstehen zu
ermöglichen. Doch können theoretische Näherungsversuche gewiss nicht schlechter-
dings der „Ahnungslosigkeit" bezichtigt werden. So notwendig und unvermeidlich das
theoretische Verstehen nur aus der Distanz erfolgen kann, so vermittelt verhält es sich
zur räumlichen Entfernung. Nicht ausgeschlossen ist, dass erst die theoretische Distanz
fur ein Gewalt-Verstehen die Augen öffnet, das in der katastrophalen Nähe zur Gewalt
jedenfalls völlig erblindet. Gewiss ist es unmöglich und in einem speziellen Sinne auch
gänzlich illegitim, ohne Rekurs auf die Erfahrung der Gewalt von ihr handeln zu wol-
len, so zweifelhaft andererseits die Berufimg auf eine angeblich „authentische" und
„angemessen" zum Ausdruck gebrachte Erfahrung auch sein mag. Wenn überhaupt
etwas an der Gewalt danach verlangt, verstanden zu werden, so ist es die Erfahrung -
gleich auf welcher Seite man sie macht. Wenn sie nicht überhaupt die Sprache ver-
schlägt oder derart deformiert, dass die erlittene Gewalt kaum mehr zum Ausdruck
kommen kann, so will sie gesagt sein, um an das Ohr eines Anderen zu dringen, um ihm
die Augen zu öffnen und am Ende dafür zu sensibilisieren, was es auch filr ihn und alle