Table Of ContentGewalt und Opfer
MythosEikonPoiesis
Herausgegeben von
Anton Bierl
Band 2
De Gruyter
Gewalt und Opfer
Im Dialog mit Walter Burkert
Herausgegeben von
Anton Bierl
und
Wolfgang Braungart
De Gruyter
Dieser Band entstand mit Unterstützung des Zentrums für interdisziplinäre
Forschung (ZiF) (Universität Bielefeld) und der Universität Basel.
ISBN 978-3-11-022116-9
e-ISBN 978-3-11-022117-6
ISSN 1868-5080
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Druck:Hubert&Co.GmbH&Co.KG,Göttingen
(cid:2) GedrucktaufsäurefreiemPapier
PrintedinGermany
www.degruyter.com
Inhalt
VORWORT vii
Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als Inspirations-
quelle für eine moderne Gräzistik und kulturwissenschaftlich
geprägte Literaturwissenschaft
ANTON BIERL 1
Horror Stories.
Zur Begegnung von Biologie, Philologie und Religion
WALTER BURKERT 45
Zwischen Biologie und Geisteswissenschaft.
Probleme einer interdisziplinären Anthropologie
WALTER BURKERT 57
Walter Burkert on Ancient Myth and Ritual.
Some Personal Observations
JAN BREMMER 71
Mystika, Orphika, Dionysiaka.
Esoterische Gruppenbildungen, Glaubensinhalte und
Verhaltensweisen in der griechischen Religion
ALBERT HENRICHS 87
Haereditarium Piaculum.
Aspects of Ancient Greek Religion in the 17th Century
RENAUD GAGNÉ 115
Dionysos. Riten und Mythen im Werk von Walter Burkert
RENATE SCHLESIER 149
vi Inhalt
‘Vom geheimen Reiz des Verborgenen’. Antike Mysterien,
Mythen und Kulte zwischen anthropologischer Deutung und
moderner Ritual- und Kommunikationstheorie
EVELINE KRUMMEN 173
Unschuldskomödie oder Euphemismus.
Walter Burkerts Theorie des Opfers und die Tragödie
SUSANNE GÖDDE 215
Religion und Gewalt.
Walter Burkert und René Girard im Vergleich
WOLFGANG PALAVER 247
Evolution, Analogien und Universalien.
Eine Systematik naturalistischer Modelle anhand von Walter
Burkert
CHRISTOPH ANTWEILER 267
Homo naturaliter religiosus.
Umrisse des soziobiologischen Arguments
ECKART VOLAND 293
Danae, Rapunzel und ihre Schwestern.
Zu Walter Burkerts Konzept der Mädchentragödie
MICHAEL NEUMANN 317
Verwandelnde Erfahrung.
Die großen Mysterien in der Imagination des 18. Jahrhunderts
JAN ASSMANN 343
Gewalt und Trauer.
NIOBE-Tragödien
EVA KOCZISZKY 363
Walter Burkert. Kulturtheorie und Poetik der Tragödie.
Sophokles, Philoktet, Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der
alten Dame, Heiner Müller, Philoktet
WOLFGANG BRAUNGART 383
VORWORT
Der vorliegende Band ist dem Gespräch mit dem großen Gräzisten Walter
Burkert gewidmet.
Walter Burkert hat wirklich Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Sein
Werk wird weltweit intensiv rezipiert. Es hat zahlreiche Studien in den
Altertumswissenschaften, den Religionswissenschaften, den Theologien,
aber auch den Neuphilologien angeregt. Lange bevor die Geisteswissen-
schaften begonnen haben, sich kulturwissenschaftlich neu zu orientieren,
hat Walter Burkert mit großer synthetischer Energie und in souveräner
interdisziplinärer Offenheit Altphilologie als moderne Kulturwissenschaft
verstanden und praktiziert. Er hat sich nicht gescheut, den Brückenschlag
zu den Naturwissenschaften zu suchen. Anthropologische, soziologische,
psychologische, ethologische und biologische Forschungen aufnehmend
betont Burkert die unheimlichen und gewalttätigen Seiten des Griechen-
tums. Dabei hat er immer auch unsere Gegenwart im Blick. Was heute un-
ter Stichworten wie ‘Biopoetics’ oder ‘Anthropologie der Literatur’ neu
diskutiert wird, hat Burkert schon vor mehr als 30 Jahren, beruhend auf
intensiven eigenen Quellenstudien, in Angriff genommen.
Mit Vorliebe geht Burkert den Ursprüngen menschlichen Zusammenle-
bens in Riten auf den Grund; Schulderfahrungen, Opferrituale und Todes-
szenarien sind zentrale Themen seines wissenschaftlichen Werkes. Er
interessiert sich besonders für Forschungsfelder, die man gemeinhin weni-
ger mit den seit Winckelmann und dem europäischen Griechenkult so sehr
stilisierten Griechen assoziiert: für Sekten, verschiedenste religiöse Rand-
phänomene, griechischen Schamanismus, Pythagoreismus, Orphik, für
Dionysosriten, Mysterienkulte, grausame Initiationsrituale, Tricksterwe-
sen, für eigenartige Kosmogonien und magische Praktiken. Pionierfor-
schung leistet er auch, wenn er vorderorientalische, mesopotamische und
ägyptische Einflüsse auf das Griechentum untersucht. So ist ein völlig
neues und auf eigene Weise faszinierendes Bild der Hellenen entstanden.
‘Die Griechen’ sind durch Walter Burkert nicht mehr der isolierte Zenit
einer einmaligen Geisteskultur, sondern hervorgegangen aus den unter-
schiedlichsten Einflüssen des Mittelmeerraumes. Die Erforschung ihrer
Kultur eröffnet tiefe Einblicke in unsere menschliche Grundkonstitution.
viii Vorwort
Die Beiträge zu diesem Band gehen auf ein internationales Autorenkollo-
quium mit Walter Burkert zurück, das im November 2007 am Zentrum für
interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattgefunden
hat.1
Wir danken dem ZiF für die Finanzierung und Ausrichtung der Tagung,
den Beiträgern für ihre Mitwirkung, dem Verlag Walter de Gruyter,
besonders Dr. Sabine Vogt und Dr. Elisabeth Schuhmann, für manchen
Rat und die Unterstützung der neuen Reihe MEP, unseren Basler und Bie-
lefelder Mitarbeitern, besonders Ellen Beyn, Saskia Fischer, Mareike
Gronich, Markus Pahmeier und Xenja Herren, für ihre engagierte Unter-
stützung bei der Tagung und vor allem bei der Druckvorbereitung und
Walter Burkert selbst für lebhafte Diskussionen, an die wir uns noch lange
und mit großer Freude erinnern werden.
Basel und Bielefeld im Herbst 2009
Anton Bierl und Wolfgang Braungart
1 In den Bibliografien, die jeweils den Beiträgen nachgestellt sind, kürzen wir für
die Altertumswissenschaften nach L’Année Philologique ab. Griechische Quellen sind
nach Liddell-Scott-Jones angeführt, lateinische nach Oxford Latin Dictionary.
ANTON BIERL
Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler als
Inspirationsquelle für eine moderne Gräzistik und
kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft
I. Einleitung
Walter Burkert ist primär gräzistischer Religionswissenschaftler und Klas-
sischer Philologe.1 Zugleich ist er einer der letzten Vertreter einer umfas-
senden Altertumswissenschaft. Sein Blick ist dabei neben spezialisierten
Detailuntersuchungen oft aufs Große und Universale gerichtet, auf den
Menschen schlechthin und seine psychisch-soziale Grundkonstitution.
Hinter dem Philologen wird damit der Anthropologe sichtbar. Beide Ten-
denzen fließen in einem tiefgehenden Humanismus im wortwörtlichen
Sinne zusammen. In seiner frühen Zeit ist er nach eigener Aussage geprägt
worden von Otto Seel, Karl Meuli, Reinhold Merkelbach und Eric R.
Dodds, die das Andere, das Irrationale und Religiöse am Griechentum
betonten. In vielem erscheint er einer längst vergangenen Epoche zuge-
hörig. Sein Werk kann sich vielleicht sogar mit deutschen altertums-
wissenschaftlichen Größen wie etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellen-
dorff oder Theodor Mommsen messen. Burkerts Schaffen gehört noch
einer Zeit an, in der man sich ganz ohne Drittmittelanträge und Ein-
schreibungen in Exzellenzinitiativen, Graduiertenschulen und Sonderfor-
schungsbereiche individuell der Freiheit der Wissenschaft im besten Hum-
boldtschen Sinne widmen konnte. Ähnlich wie Niklas Luhmann, der bei
seiner Bielefelder Berufung gefragt wurde, was er an Ausstattung für seine
Projekte benötige, nur erstaunt auf Bleistift und Zeit kam, gab er sich doch
in Zürich neben seiner erfolgreichen Lehre ganz seinen ureigenen wissen-
schaftlichen Interessen hin. Dies alles ermöglichte wirkliche Exzellenz,
1 Direkter Schüler von Walter Burkert war ich selbst nie – dies mag auch dabei
helfen, ihn hier vielleicht aus anderer Sicht und, bei allem Respekt, etwas unbefangener
zu beurteilen. Nichtsdestotrotz bin ich von ihm tief geprägt, fast als wäre ich immer sei-
nem Kreis zugehörig gewesen. Unvergesslich sind mir die erste Begegnung mit Homo
Necans sowie die darauf folgende tiefe Faszination, als ich ihn zum ersten Mal in meiner
Münchner Studentenzeit und dann auf der Dionysos-Konferenz in Virginia persönlich er-
leben durfte.
2 Anton Bierl
die, wenn sie auch in Deutschland zunächst verkannt wurde, über Über-
setzungen in andere Sprachen weltweit Anerkennung fand. Sein ganz eige-
ner Ansatz ist zudem geprägt von der Herkunft und den historischen Ent-
wicklungen, das heißt von der Nachkriegszeit und der allmählich einset-
zenden geistigen Öffnung der BRD sowie von den kulturellen Umwäl-
zungen um das Jahr 1968.
Walter Burkert ist es gelungen, über seine eigentliche Disziplin der
Gräzistik hinaus eine allgemeine Bekanntheit als Geisteswissenschaftler
zu erzielen. Trotz einzigartiger Gelehrsamkeit vermag er offensichtlich
etwas Grundsätzliches anzusprechen, was uns alle angeht, eine verdrängte
Tiefenschicht unserer anthropologischen Existenz, die im Mythos und im
(in einer mehr oder minder losen Beziehung dazu verlaufenden) Ritual
ihren Ausdruck sucht. Burkert geht zum “wilden Ursprung” unserer west-
lichen, von den Griechen so beeinflussten Zivilisation zurück.2 Im geis-
tigen Aufbruch der frühen 1960er Jahre und auf den vorausliegenden
Erfahrungen des Schreckens des letzten Jahrhunderts basierend verlässt er
die eingetretenen Pfade positivistisch-historistischer oder neo-humanis-
tischer Forschung in den Altertumswissenschaften. Auf einer syntheti-
schen Theoriebasis versucht er dabei zu den fundamentalen Zusammen-
hängen menschlichen Lebens vorzudringen. Wie ein roter Faden zieht sich
die Überlegung durch sein Werk, dass für die menschliche Zivilisation
nicht nur die Verdrängung des angeborenen Triebs zur Aggression und
Gewalt, sondern auch deren konstruktive Einbindung vonnöten ist. In der
kulturellen Verarbeitung durch letztlich auf biologische Handlungspro-
gramme zurückführbare Riten und Mythen kann nämlich die destruktive
Energie für das Zusammenleben konstruktiv umgepolt werden. Nach Bur-
kert ist es dadurch möglich, Krisen im individuellen und gesellschaftlichen
Leben erträglich zu machen und zu überwinden. In den zentralen Prak-
tiken wie Opfer, Initiation und Fest agiert man performativ die inhärente
Energie aus, um sie für die dauerhafte Kohäsion fruchtbar zu machen. Es
findet also laufend eine Art Rückversicherung bei den Ursprüngen statt; in
der Rückkehr zu diesen kann das Chaos bewältigt werden. Damit wird
eine Begründung und Legitimierung der bestehenden Ordnung gewähr-
leistet.
2 So der gelungene Titel, den Glenn Most (vgl. auch Most 1990) einer von ihm her-
ausgegebenen Sammlung von einigen frühen Aufsätzen Burkerts (1990a) gab.