Table Of ContentGESUND ODER KRANK?
THOMAS ANZ
Gesund oder krank?
Medizin, Moral und Asthetik
in der deutschen Gegenwartsliteratur
J.B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultiit fUr Sprach- und Lite
raturwissenschaft II der Universitiit Miinchen gedruckt mit Unterstiitzung der Deutschen
Forschungsgemeinschaft
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Anz, Thomas:
Gesund oder krank? : Medizin, Moral und Asthetik in der
deutschen Gegenwartsliteratur / Thomas Anz. - Stuttgart:
Metzler, 1989
(Metzler-Studienausgabe)
ISBN 978-3-476-00652-3
ISBN 978-3-476-04410-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-04410-5
Dieses Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung
auBerhalb der engen Grenzen des U rheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikro-
verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 1989 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Urspriinglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1989
INHALT
Vorwort ...................................... IX
EINFOHRUNG: MEDIZIN, MORAL UND ASTHETIK
J. Das normative Potential iitiologischer Diskurse: Krankheit als Sanktion 3
Der Fall Lenz und ein Schema normativer Argumentation 3 Medizinische und mora
lische Aufkliirung 6 Biichners »Lenz« und die Moralismuskritik der naturwissen
schaftlichen Medizin seit 1830 7 Krankheit und Schuld in Goethes »Werther« to
Dialogabbriiche zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und Literatur II Susan
Son tags Kritik moralistischer Krankheitsmetaphorik und ihre Herkunft aus dem
19. lahrhundert 13 »Lenz« als Paradigma einer >modernen< Strategie der Normver
mittlung 15 Medizinisch begriindete Umwertungen tradierter Werte: Disziplinierung
versus Befreiung der Affekte und des Korpers 19 Dialektik der Aufkliirung: Hork
heimer und Adorno, Nietzsche, Freud, Otto Gross 21 Therapeutische, diiitetische
und hygienische Strategien der Normvermittiung: Gesundheit als positive Sank-
tion 24
2. Das normative Potential diagnostischer Diskurse: Krankheitsstigma als Sank-
tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 26
Definitionen und Bewertungen von Gesundheit und Krankheit 26 »Prozeduren der
AusschlieBung« (Foucault) und die Diskurse der gesunden Vernunft (Kant, Apel,
Habermas) 28
3. Gesundheit, Krankheit und literarische Norm: Max Nordaus »Entartung« als
Paradigma pathologisierender Kunstkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 33
Zum Begriff der »Iiterarischen Norm« 33 Der Uberlegenheitsanspruch medizinisch
wissenschaftlicher Kritik gegeniiber der iisthetischen 34 Nordaus Diagnose 35 »Stig
mate« der Entartung 37 Dominanz diagnostischer Strategien der Normvermitt-
lung 40 Nordaus Atiologie und die ungenutzten Moglichkeiten epidemiologisch be
griindeter Kritik 41 Wendung zu sozialdarwinistischen Argumentationsformen 44
Therapievorschliige und die Dialektik der Aufkliirung urn 1900 45 Affinitiiten und
Differenzen zur nationalsozialistischen Kulturkritik 47 Die Niihe Nordaus zur auf
kliirerischen Opposition Georg Friedrich Nicolais und Franz Pfemferts 48 Das der
iisthetischen Moderne und ihren Kritikern gemeinsame Interesse am Pathologi
schen 50
VI Inhalt
KRANKHEIT, MORAL UND ASTHETIK IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN GEGEN-
WARTSLITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53
1. Literarische Diskurse uber Gesundheit und Krankheit seit den siebziger Jahren
- Ein Uberblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 55
Der Fall Brusberg (in einem Roman von Dieter Kiihn) 55 Die Expansion und Uni
versalitiit der Diskurse iiber Gesundheit und Krankheit seit den siebziger Jahren 57
Favorisierte Krankheiten und die »literarische Mode« urn 1976/77 58 Prototypische
Krankheitsgeschichten von Steffens, Augustin und Kipphardt 59 Arzte als Schrift
steller 61 Literatur oder Dokument? Uberschreitungen von Diskursgrenzen 62
Selbsterfahrungsliteratur und Therapiegruppen 63 Der Anteil junger Autoren und
Debiitanten 65 Der Anteil iilterer und etablierter Autoren 66 Literarische und litera
turwissenschaftliche Interessenverschiebungen 67
2. Die Politisierung des Privaten und die Privatisierung der Politik 68
Peter Schneiders »Lenz«, Karin Strucks »Klassenliebe« und die »Neue Subjektivitiit«
der siebziger Jahre 68 Politik, Medizin und Literatur in »Klassenliebe« 69 Interes
senverschiebungen in der 68er Generation 70 Wahnsinn und befreites Schreiben 71
Ambivalenzen des Wahnsinns und der Gesundheit 72 Das Politische im Privaten -
Kontroversen urn die »Neue SUbjektivitiit« 74 Die dialektische Vermittlung des Priva
ten und des Politischen in Peter Schneiders »Lenz« 76 Gesundheitssehnsucht und
Krankheitsgewinn 77
3. Die pathogene Gesellschaft und ihre >kranken< Institutionen 78
Linksinterne Diskurse 78 Diskursregel I: Die Rede von den pathogenen Verhiiltnis
sen 80 Entsprechungen in wissenschaftlichen Diskursen 82 Selektion von Krankhei
ten und Krankheitsiitiologien in normativen Diskursen 84 Der Fall Franz Horn (in
Romanen Martin Walsers) und Tilmann Mosers diagnostizistische Lektiire 88 Heinar
Kipphardts »Miirz« 96 Krankheit und gehemmtes Leben: Fritz Zorns »Mars« 104
Der psychopathogene »ProzeB der Zivilisation« (Norbert Elias) 114 »Postmoderne«
Pathologisierungen der Moderne 117 Sloterdijks frohlicher Abschied yom »Lazarett
kritischer Theorie« 121 Das moderne, kranke Subjekt: Sloterdijks Roman »Der
Zauberbaum« 122
4. Die Aufwertung des Kranken . 128
Das kranke Subjekt und die Irren der Salpetriere in Sloterdijks »Der Zauberbaum«
128 Zwei weitere Diskursregeln 129 Kranke Kollektivsubjekte 130 Austausch und
Umwertung der Begriffe 133 Ein RegelverstoB? Rainald Goetz: »Irre« 136 Werte des
Wahnsinns 140 Grenzerfahrungen und Grenziiberschreitungen 144 Dichotomische
und dialektische Aufwertungen des Wahnsinns 151 Initiationsreisen durch Wildnis
und Wahnsinn (David Cooper, Ronald D. Laing, Hans Peter Duerr) 157 Thomas
Bernhard 159
5. Wahnsinn und Weiblichkeit . 170
Werte des Weiblichen 170 Feminismusdebatten 172 »Krankheit Frau« 174 Asthetik
des Widerstands: Anne Duden, Peter Weiss 176 Christa Wolfs Kassandra 180
Inhalt VII
6. Kranke Kiinstlerfiguren und die pathophile Asthetik der Moderne - Ein Aus-
bUck 185
Kunst, Krankheit und Kreativitat 185 Pathophile Asthetik der Modeme 189 Litera
rische Biographik: Lenz, Holderiin, Kleist und Goethe 194
Anmerkungen ..... 202
Hinweise zu den Zitaten 234
Literaturverzeichnis . . 235
VORWORT
In welchem AusmaB Ethik und Asthetik seit dem 18. lahrhundert in Auseinander
setzungen mit medizinischem Wissen verstrickt sind, beginnt man heute erst 1angsam
zu begreifen. GewiB: daB medizinische Aussagen iiber Gesundheit und Krankheit
mit normativen Anspriichen einhergehen, weiB man schon lange. Und daB in iisthe
tischen oder literaturkritischen Diskursen, mehr oder weniger metaphorisch, imrner
wieder einmal mit k1inischen Kategorien operiert wurde, ist liingst bekannt. Zu
beriichtigter Beriihmtheit haben es Goethes (oft miBverstandene) Gegeniiberstellun
gen von kranker Romantik und gesunder K1assik gebracht; dem Literarhistoriker
sind die Dekadenz-Debatten aus den Anfangen der literarischen Moderne vertraut;
und jedermann kennt den nationalsozialistischen KamptbegritT gegen die iisthetische
Moderne, auch wenn ihm vielleicht seine medizingeschichtliche Herkunft fremd ist:
den BegritT der »Entartung«. Zuweilen sind historische Linien gezogen worden, die
zwischen den klassischen Verdikten iiber die kranke Romantik und denen iiber
»entartete Kunst« einen Zusammenhang herstellten. Zum Beispiel von Peter Szondi,
der in seinen VorJesungen zur »Poetik und Geschichtsphilosophie« schrieb: »Krank
heit, Unnatur: das sind Urteile, die iibers Asthetische weit hinausgreifen, und nicht
bloB ein Kunstwerk als sch1echtes verwerfen, sondern den Weg bahnen zu einem
Verdikt, von dem das Lebensrecht des Kiinstlers seiber ereilt wird. [ ... ] Das beginnt
mit der Verdamrnung der franz6sischen Klassik als naturferner Kunst, fUhrt zu
Goethes Urteil iiber die K1eistsche Dichtung als Zeichen von Krankheit, von Hypo
chondrie, und miindet in die Barbarei, in der, was der eigenen Vorstellung yom
Gesunden sich nicht fUgte, als entartet verfo1gt wird: die Kunst ebenso wie der
Kiinstler, die eine wird verbrannt, der andere, im besten Fall, mit Berufsverbot
belegt.« [1]
Mit dem Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Barbarei endeten indes
nicht die so skizzierten Kontinuitiiten historischer Entwicklung. Ais Georg Lukacs
1952 in Wien einen Vortrag mit dem TiteJ »Gesunde oder kranke Kunst?« hielt,
bemiihte er sich zwar, Distanz zum Biologismus nationalsozialistischer Provenienz
zu zeigen, doch an dem Wert der BegritTe »Gesundheit« und »Krankheit« fUr die
iisthetische Urteilsbildung hie1t er fest: »Krankheit oder Gesundheit sind hier nicht
biologisch, sondern in allererster Linie sozial-historisch gemeint. Von dieser Grund
lage aus erweisen sie sich als wichtige Bestimrnungen der allgemeinen iisthetischen
Prinzipien.«[2] Wo Lukacs von iisthetischen Prinzipien sprach, meinte er imrner
auch ethische. Es ging ihm urn die »geistig-moralische Grundlage der Kunst«, und
hierbei sah er die »Gesundheit auf der Seite des Fortschritts, Krankheit auf der Seite
der Reaktion«. lener Biologismus, der dem Kranken im Kampfums Dasein und urn
x Vorwort
den evolutionaren Fortschritt die Fahigkeit zum Uberleben absprach, pragte auch
noch die Argumentation und das Vokabular dessen, der ihn zugunsten eines sozial
historischen Gesundheitsbegriffs zu umgehen meinte. Die Autoren der »modemen
Dekadenz«, so Lukacs, ruhen auf dem Massenfriedhof der Literaturgeschichte in
verdienter Vergessenheit, »weil sie im Lebenskampf der Menschheit zwischen Ge
sundung und Verwesung sich nicht auf die richtige Seite gestellt haben.«[3]
Als Lukacs die Aburteilungen des kranken, dekadenten »Avantgardeismus« 1958
mit der Schrift » Wider den miBverstandenen Realismus« in ausgeweiteter Form
vorlegte, fand er noch im gleichen Jahr in Adorno seinen scharfsichtigsten Gegner.
Der nannte den Versuch, die Begriffe gesunder und kranker Kunst vom Biologischen
ins Soziale zu wenden, »krampibaft« und lehnte ihn grundsatzlich ab: »wenn es sich
schon urn historische Verhaltnisse handelt, waren Worte wie gesund und krank
iiberhaupt zu vermeiden. Mit der Dimension Fortschritt / Reaktion haben sie nichts
zu tun, sie werden mitgeschleppt einzig urn ihres demagogischen Appells willen.
Uberdies ist die Dichotomie von gesund und krank so undialektisch wie die vom
auf- und absteigenden Biirgertum«. [4]
Knapp zehn Jahre spater wiederholte sich die Kontroverse im »Ziircher Literatur
streit«, wenn auch mit ganzlich anderer Besetzung der Rollen. DaB Emil Staiger
hier, ohne sich dessen bewuBt zu sein, die Rolle des Gegners der »kranken« Modeme
von Lukacs iibemahm, konnte, wenn es iiberhaupt gesehen wurde, nur den verwun
dem, der nicht bemerkte, wie stark beide in klassizistischen Traditionen verwurzelt
waren. Prangerte Lukacs »die Unmenschlichkeit, die Antihumanitat der modemen
dekadenten Literatur« an, die ihren »bisherigen Gipfelpunkt injener Verherrlichung
von Verbrechen und Wahnsinn« erreiche, »die wir in der modemen amerikanischen
Belletristik finden konnen«[5], so »wimmelten« fiir Staiger die neueren Romane
und Biihnenstiicke »von Psychopathen, von gemeingefahrlichen Existenzen, von
ScheuBlichkeiten groBen Stils«. Ihr Weg fiihre unweigerlich »zum Verbrecherischen
und Kranken, zum Kranken und Verbrecherischen«. [6] Sogar vor dem Begriff» Ent
artung« schreckte Staiger nicht zuriick: »So sehen wir denn in der >litterature enga
gee< nur eine Entartung jenes Willens zur Gemeinschaft, der Dichter vergangener
Tage beseelte.«[7] Max Frisch hat damals in seinem offenen Brief an Staiger so
deutlich wie kein anderer gesehen und gesagt, wie blind dieser hoch angesehene
Literarhistoriker allein schon mit der Diktion in die Nahe totalitarer Literaturpolitik
geraten war: »Du hast den herzhaften Beifall der Gesunden gehort. Auch ich habe
deinen Worten gelauscht. Und gelegentlich dachte ich doch an den Osten: deine
grundlegende Rede, gehalten in Moskau, wiirde offizios nicht minder begriiBt als in
Ziirich [ ... ]. Ich habe einmal eine Rede von Fadajew gehort auch iiber die heutige
Literatur des Westens schlechthin, auch iiber eine Legion von Psychopathen und
Pornographen und Dekadenzlern und L'Art-pour-L'Artisten, die alle krank sind,
krank, ekelerregend, krank, obszon, krank.« Doch nicht nur an den Osten erinnerte
Frisch: »deine Rede, meisterlich in iibernommener Sprache, wirkte befreiend: End
lich kann man wieder von Entarteter Literatur sprechen.«[8]
Das alles hat man, wie gesagt, heute noch in mehr oder weniger guter Erinnerung.
Ob es sich lohnt, sie zu prazisieren, mag man bezweifeln. Das Ergebnis scheint auch
Vorwort XI
so schon im wesentlichen auf der Hand zu liegen: Wer an den Normen der klassi
schen Asthetik orientiert ist, beruft sich gerne auf die Gesundheit, die asthetische
Moderne hingegen ist durch ihre Sympathie fUr das Pathologische gekennzeichnet.
Mit dem »Ziircher Literaturstreit« scheinen zudem die Kontroversen urn gesunde
und kranke Kunst zu einem AbschluB gelangt zu sein. Sie sind historisch geworden,
es fehlt ihnen heute die Brisanz, die ihnen einmal eigen war. Die Paradigmen der
asthetischen Moderne haben sich weitgehend durchgesetzt. Adorno hat sich gegen
iiber Lukacs, Frisch gegeniiber Staiger behaupten konnen. Das >gesunde Volksemp
finden< ist in der Offentlichkeit schweigsam geworden. Von »Entartung« reden nur
noch ein paar unbelehrbare Politiker. Allenfalls imjiingeren Streit urn Peter Handke
und seine neuklassischen Abwendungen von der Tradition der Moderne kehren
Reste der vertrauten Diskussionsmuster wieder. Doch wer heute vorhat, die literari
sche Moderne ein wei teres Mal gegen ihre Pathologisierungen zu verteidigen, rennt
gegen Tiiren an, die von anderen schon langst weit geoffnet wurden.
Dies ist denn auch nicht das primare Ziel meines Buches. Es mochte vielmehr
zeigen, daB die nationalsozialistischen Entartungsverdikte und ihre >V orlaufer< oder
Kontroversen wie die zwischen Lukacs und Adorno teilhaben an einem weit umfas
senderen historischen ProzeB, in dem medizinisches Wissen eine soziale Autoritat
gewinnt, der sich literarische und literaturkritische Diskurse so wenig entziehen
konnen wie ethische, politische oder juristische. Medizinische >W ahrheiten < und
Begriffe entfalten verstarkt seit dem 18. Jahrhundert eine normative Kraft, von der
kaum eine Entscheidung iiber den Wert menschlicher Verhaltensweisen, Einstellun
gen und Lebensformen unberiihrt bleibt. 1m Spiel und Streit der Argumente bei
Auseinandersetzungen urn richtiges und falsches Verhalten nehmen die medizini
schen einen herausragenden Stellenwert ein. Sie werden bevorzugt dann eingesetzt,
wenn es urn besonders umkampfte Wertentscheidungen geht. Dabei hat die EinfUh
rung medizinischer Argumente in Wert- und Normbegriindungsdiskussionen einen
dramatisierenden Effekt: sie signalisiert, daB es urn existentielle Grundfragen geht,
letztendlich urn das Uberleben. Mit medizinischen Argumenten werden in ethischen
und asthetischen Debatten hochste Triimpfe ausgespielt, denen man zutraut, gegen
Argumente anderer Art zu gewinnen.
»Gesund oder krank?« - Die Disjunktion im Titel und das Fragezeichen hinter ihr
wollen in einem zweifachen Sinn verstanden sein. Zum einen zitieren sie gleichsam
einen binar strukturierten >Code<, nach dem kulturelle Wertfragen entschieden wer
den. Der Frage- und Entscheidungsmechanismus gleicht dem, der in asthetischen,
logischen und ethischen Diskursen mit Begriffspaaren wie »schon oder haBlich«,
»wahr oder falsch«, »gut oder bose« operiert.[9] Das Fragezeichen im Titel will
jedoch zum anderen diese Entscheidungslogik infragestellen. Wenn Adorno in seiner
Lukacs-Kritik »die Dichotomie von gesund und krank so undialektisch« nannte
»wie die vom auf- und absteigenden Biirgertum«, dann ist zu fragen, ob die Litera
turgeschichte nicht auch dialektische Umgangsformen mit dem Begriffspaar entwik
kelt hat, die eventuell akzeptabler sind. Das inflationar verbrauchte Wort »Dialek
tik« steht zwar gegenwartig nicht mehr so hoch im Kurs wie zu Adornos Zeiten,
doch die von ihm bezeichneten Denkformen haben sich nicht erledigt. In Abwand-