Table Of ContentGESCHLECHT
UND
CHARAKTER
GESCHLECHT
UND
CHARAKTER
EINE PRINZIPIELLE UNTERSUCHUNG
VON
OTTO WEININGER
NEUNZEHNTE, UNVERÄNDERTE AUFLAGE
MIT EINEM BILDNISSE DES VERFASSERS
WIEN UND LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
UNIVERSITÄTS-VERLAGSBUCHHANDLUNG
GESELLSCHAFT M. B. H.
1920
Von diesem Werke sind erschienen:
ERSTE AUFLAGE: MAI 1903
ZWEITE " NOVEMBER 1903
DRITTE " JÄNNER 1904
VIERTE " SEPTEMBER 1904
FÜNFTE " OKTOBER 1904
SECHSTE " DEZEMBER 1904
SIEBENTE " MAI 1905
ACHTE " FEBRUAR 1906
NEUNTE " JÄNNER 1907
ZEHNTE " FEBRUAR 1908
ELFTE " FEBRUAR 1909
ZWÖLFTE " MAI 1910
DREIZEHNTE " DEZEMBER 1911
VIERZEHNTE " MAI 1914
FÜNFZEHNTE " FEBRUAR 1916
SECHZEHNTE " FEBRUAR 1917
SIEBZEHNTE " MAI 1918
ACHTZEHNTE " JÄNNER 1919
Übersetzungen bisher:
Für Dänemark, Norwegen und Schweden bei
A. CHRISTIANSEN, Kopenhagen
Für England (samt Kolonien) und Verein. Staaten von Amerika
bei W. HEINEMANN, London
Für Italien bei BOCCA FRATELLI, Turin
Ferner nicht autorisierte Übersetzungen in ungarischer
(unvollständig), polnischer und russischer Sprache
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung,
vorbehalten
DRUCK VOM FRIEDRICH JASPER IN WIEN
Elektronische Aufbereitung 2001 Hans Babendreyer
[email protected]
V
Vorwort
zur ersten Auflage
Dieses Buch unternimmt es, das Verhältnis der
Geschlechter in ein neues, entscheidendes Licht zu
rücken. Es sollen nicht möglichst viele einzelne Cha-
rakterzüge aneinandergereiht, nicht die Ergebnisse
der bisherigen wissenschaftlichen Messungen und
Experimente zusammengestellt, sondern die Zurück-
führung alles Gegensatzes von Mann und Weib auf
ein einziges Prinzip versucht werden. Hiedurch un-
terscheidet es sich von allen anderen Büchern dieser
Art. Es verweilt nicht bei diesem oder jenem Idyll,
sondern dringt bis zu einem letzten Ziele vor; es
häuft nicht Beobachtung auf Beobachtung, sondern
bringt die geistigen Differenzen der Geschlechter in
ein System; es gilt nicht den Frauen, sondern der
Frau. Zwar nimmt es stets das Alltäglichste und
Oberflächlichste zu seinem Ausgangspunkt, aber
nur, um alle konkrete Einzelerfahrung zu deuten.
Und das ist hier nicht »induktive Metaphysik«, son-
dern schrittweise psychologische Vertiefung.
Die Untersuchung ist keine spezielle, sondern eine
prinzipielle; sie verachtet nicht das Laboratorium,
wenn ihr auch seine Hilfsmittel dem tieferen Prob-
leme gegenüber beschränkt erscheinen vor dem
Werke der
VI Vorwort zur ersten Auflage
selbstbeobachtenden Analyse. Auch der Künstler, der
ein weibliches Wesen darstellt, kann Typisches ge-
ben, ohne sich vor einer experimentellen Merkergilde
durch Zahl und Serie legitimiert zu haben. Der
Künstler verschmäht nicht die Erfahrung, er be-
trachtet es im Gegenteil als seine Pflicht, Erfahrung
zu gewinnen; aber sie ist ihm nur der Ausgangs-
punkt eines Versenkens in sich selbst, das in der
Kunst wie ein Versenken in die Welt erscheint.
Die Psychologie nun, welche hier der Darstellung
dient, ist eine durchaus philosophische, wenn auch
ihre eigentümliche Methode, die allein durch das ei-
gentümliche Thema sich rechtfertigt, es bleibt, vom
trivialsten Erfahrungsbestande auszugehen. Der
Philosoph aber hat nur eine der Form nach vom
Künstler verschiedene Aufgabe. Was diesem Symbol
ist, wird jenem Begriff. Wie Ausdruck und Inhalt, so
verhalten sich Kunst und Philosophie. Der- Künstler
hat die Welt eingeatmet, um sie auszuatmen; für den
Philosophen ist sie ausgeatmet, und er muß sie wie-
der einatmen.
Indes hat alle Theorie notwendig immer etwas
Prätentiöses; und so kann derselbe Inhalt, der im
Kunstwerk wie Natur erscheint, hier, im philosophi-
schen System, als eng zusammengezogene Behaup-
tung über ein Allgemeines, als These, die dem Satz
vom Grunde untersteht und den Beweis antritt, viel
schroffer, ja beleidigend wirken. Wo die Darstellung
antifeministisch ist – und das ist sie fast immer –,
dort werden auch die Männer ihr nie gerne und mit
voller Überzeugung zustimmen: ihr sexueller Egois-
mus läßt sie das Weib immer lieber so sehen, wie sie
es haben wollen, wie sie es lieben wollen.
Vorwort zur ersten Auflage VII
Und wie sollte ich nicht erst auf die Antwort ge-
faßt sein, welche die Frauen für mein Urteil über ihr
Geschlecht haben werden?
Daß die Untersuchung an ihrem Ende gegen den
Mann sich kehrt und, freilich in einem tieferen
Sinne, als die Frauenrechtlerin ahnt, ihm die größte
und eigentliche Schuld zumißt, das wird ihrem Ver-
fasser wenig fruchten, und ist von einer Beschaffen-
heit, die ihn zu allerletzt beim weiblichen Ge-
schlechte könnte rehabilitieren helfen.
Zum Schuldproblem aber gelangt die Analyse, weil
sie von den vordersten und nächstliegenden Phäno-
menen bis zu Punkten aufsteigt, von denen nicht nur
ein Einblick in das Wesen des Weibes und seine Be-
deutung im Weltganzen, sondern auch der Aspekt
auf sein Verhältnis zur Menschheit und zu deren
letzten und höchsten Aufgaben sich öffnet, von wo
zum Kulturproblem eine Stellung gewonnen und die
Leistung der Weiblichkeit für das Ganze der ideellen
Zwecke eingeschätzt werden kann. Dort also, wo
Kultur- und Menschheitsproblem zusammenfallen,
wird nicht mehr bloß zu erklären, sondern auch zu
werten versucht; ja dort fallen Erklärung und Wer-
tung von selbst zusammen.
Zu solcher Höhe des Ausblickes gelangt die Unter-
suchung gleichsam gezwungen, ohne von Anfang an
auf sie loszusteuern. Auf dem empirisch-psychologi-
schen Boden selber ergibt sich ihr allmählich die Un-
zulänglichkeit aller empirisch-psychologischen Philo-
sophie. Ihre Ehrfurcht vor der Erfahrung wird hie-
von nicht beeinträchtigt, denn stets wird für diese
der Sinn nur erhöht und nicht zerstört, wenn der
Mensch in der Erscheinung – freilich dem Einzigen,
das er erlebt –
VIII Vorwort zur ersten Auflage
jene Bestandteile bemerkt, die es ihm zur Gewißheit
machen, daß es nicht bloß Erscheinung gibt, wenn er
jene Zeichen in ihr wahrnimmt, die auf ein Höheres,
über ihr Gelegenes weisen. Daß ein solcher Urquell
ist, läßt sich feststellen, auch wenn kein Lebender je
zu ihm vordringen wird. Und bis in die Nähe dieses
Quells will auch dieses Buch leiten, und nicht eher
rasten.
Innerhalb des Engpasses, in welchem die gegen-
sätzlichen Meinungen über die Frau und ihre Frage
bis nun immer aufeinander gestoßen sind, hätte es
freilich nie gewagt werden dürfen, solch hohes Ziel
anzustreben. Aber das Problem ist eines, das mit al-
len tiefsten Rätseln des Daseins im Zusammenhange
steht. Nur unter der sicheren Führung einer Welt-
anschauung kann es, praktisch und theoretisch,
moralisch oder metaphysisch, aufgelöst werden.
Weltanschauung – das nämlich, was diesen Na-
men verdient – ist nichts, das einzelner Erkenntnis
je könnte hinderlich werden; im Gegenteil wird alle
besondere Einsicht von tieferer Wahrheit durch sie
erst hervorgetrieben. Weltanschauung ist an
sich produktiv; nie aber kann sie, wie dies jedes
Zeitalter nur empirischer Wissenschaft glaubt, aus
einer noch so großen Summe speziellen Wissens syn-
thetisch erzeugt werden.
Es sind nur Keime einer solchen Gesamtauffas-
sung, die in diesem Buche sichtbar werden, einer
Auffassung, die den Weltanschauungen Platos,
Kantens und des Christentums am nächsten
steht. Aber die wissenschaftliche, psychologisch -
philosophische, logisch - ethische Grundlegung
mußte ich mir zu einem großen Teile selbst schaffen.
Vieles zwar, dessen nähere Ausführung nicht mög-
lich war, gedenke ich demnächst eingehend zu
Vorwort zur ersten Auflage IX
begründen. Wenn ich dennoch gerade auf diese Par-
tien des Buches hier ausdrücklich verweise, so ist es,
weil mir an der Beachtung dessen, was über die
tiefsten und allgemeinsten Probleme in ihm ausge-
sprochen ist, noch mehr liegt als an dem Beifall, wel-
chen die besondere Anwendung auf die Frauenfrage
allenfalls erwarten könnte.
Sollte es den philosophischen Leser peinlich be-
rühren, daß die Behandlung der höchsten und letz-
ten Fragen hier gleichsam in den Dienst eines
Spezialproblemes von nicht übergroßer Dignität ge-
stellt scheint: so teile ich mit ihm das Unangenehme
dieser Empfindung. Doch darf ich sagen, daß durch-
aus das Einzelproblem des Geschlechtsgegensatzes
hier mehr den Ausgangspunkt als das Ziel des tiefe-
ren Eindringens bildet. So erfloß reicher Gewinn aus
seiner Behandlung auch für die logischen Kardinal-
fragen nach Urteil und Begriff und deren Verhältnis
zu den Axiomen des Denkens, für die Theorie des
Komischen, der Liebe, des Schönen und des Wertes
und Probleme wie Einsamkeit und Ethik und die Be-
ziehungen der beiden untereinander, für das Phäno-
men der Genialität, des Unsterblichkeitsbedürfnisses
und des Judentums. Daß die umfassenden Aus-
einandersetzungen schließlich dem Spezialproblem
zugute kommen, weil es in um so mannigfachere
Beziehungen tritt, je mehr das Gebiet sich ver-
größert, das ist natürlich. Und wenn sich in diesem
weiteren Zusammenhange herausstellt, wie gering
die Hoffnungen sind, welche Kultur an die Art des
Weibes knüpfen kann, wenn die letzten Resultate
eine vollständige Entwertung, ja eine Negation der
Weiblichkeit bedeuten: es wird durch sie nichts zu
vernichten gesucht,
X Vorwort zur ersten Auflage
was ist, nichts herunterzusetzen, was an sich
einen Wert hat. Müßte mich doch selbst ein gewisses
Grauen vor der eigenen Tat anwandeln, wäre ich
hier wirklich nur Zerstörer, und bliebe nichts auf
dem Plan! Die Bejahungen des Buches sind vielleicht
weniger kräftig instrumentiert worden: wer hören
kann, wird sie wohl aus allem zu vernehmen wissen.
Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: einen ersten, bio-
logisch-psychologischen, und einen zweiten, psycho-
logisch-philosophischen. Vielleicht wird mancher da-
fürhalten, daß ich aus dem Ganzen besser zwei
Bücher hätte machen sollen, ein rein naturwissen-
schaftliches und ein rein introspektives. Allein ich
mußte von der Biologie mich befreien, um ganz Psy-
chologe sein zu können. Der zweite Teil behandelt
gewisse seelische Probleme recht anders, als sie jeder
Naturforscher heute wohl behandeln würde, und ich
bin mir bewußt, daß ich hiedurch auch die Aufnahme
des ersten Teiles bei einem großen Teile des Publi-
kums gefährde; gleichwohl erhebt dieser erste Teil in
seiner Gänze den Anspruch auf eine Beachtung und
Beurteilung seitens der Naturwissenschaft, was der
zweite, mehr der inneren Erfahrung zugekehrte, nur
an wenigen Stellen vermag. Weil dieser zweite Teil
aus einer nichtpositivistischen Weltanschauung her-
vorgegangen ist, werden von manchen beide für un-
wissenschaftlich gehalten werden (obwohl der Positi-
vismus dortselbst eine strenge Widerlegung erfährt).
Hiemit muß ich mich einstweilen abfinden, in der
Überzeugung, der Biologie gegeben zu haben, was ihr
gebührt, und einer nichtbiologischen, nichtphysiolo-
gischen Psychologie das Recht gewahrt zu haben,
welches ihr für alle Zeiten bleiben wird.