Table Of ContentStephan Schlothfeldt
Gerechtigkeit
Grundthemen Philosophie
Herausgegeben von
Dieter Birnbacher
Pirmin Stekeler-Weithofer
Holm Tetens
Stephan Schlothfeldt
Gerechtigkeit
ISBN 978-3-11-029256-5
e-ISBN 978-3-11-029269-5
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Inhalt
1 Vorbemerkungen 1
2 Zum Gerechtigkeitsbegriff 5
2.1 Zur Anwendbarkeit des Gerechtigkeitsprädikats 5
2.2 Begriffliche Explikation von Gerechtigkeit 7
3 Gerechtigkeit in der Tugendethik 13
3.1 Gerechtigkeit in Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“ 13
3.2 Gerechtigkeit als Tugend? 14
3.3 Aristoteles’ inhaltliche Vorschläge zur Gerechtigkeit 17
3.4 Tugendethik im Anschluss an Aristoteles 20
4 Gerechtigkeit im Utilitarismus 23
4.1 Gerechtigkeit in John Stuart Mills „Utilitarianism“ 23
4.2 Lässt sich Gerechtigkeit auf Nutzenüberlegungen zurück-
führen? 24
4.3 Modifikationen des Utilitarismus 28
5 Gerechtigkeit in der kantischen Ethik 35
5.1 Gerechtigkeit in Kants Ethik 36
5.2 Scanlons Version eines kantischen Moralprinzips 40
6 Ausgleichende Gerechtigkeit 45
6.1 Was ist ausgleichende Gerechtigkeit? 46
6.2 Wiedergutmachung 47
6.3 Strafgerechtigkeit 50
7 Tauschgerechtigkeit 55
7.1 Tauschgerechtigkeit als eigener Typus der Gerechtigkeit 56
7.2 Probleme der Tauschgerechtigkeit 57
7.3 Surrogate für substantielle Tauschgerechtigkeit 60
8 Verteilungsgerechtigkeit (I): Verdienst 65
8.1 Allgemeine Vorbemerkungen zur Verteilungsgerechtigkeit 66
8.2 Was Verdienst nicht ist 67
8.3 Das Verdienstprinzip und seine Probleme 68
8.4 Eine alternative Erklärung des Verdienstgedankens 71
VI Inhalt
9 Verteilungsgerechtigkeit (II): Bedürfnis 75
9.1 Das Bedarfsprinzip und seine Probleme 76
9.2 Eine Frage der Gerechtigkeit? 80
10 Verteilungsgerechtigkeit (III): Gleichheit 83
10.1 Rekapitulation 83
10.2 Zur Explikation von Gleichstellung 87
10.3 Levelling down 90
11 Soziale oder globale Gerechtigkeit? 93
11.1 Gerechtigkeit als gesellschaftsinterne Forderung 94
11.2 Gerechtigkeit und Kooperation 97
11.3 Exkurs: Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen 99
12 Relevanz der Gerechtigkeit 101
12.1 Vorklärungen zum Stellenwert der Gerechtigkeit 102
12.2 Konkurrenten zur Gerechtigkeit 103
12.3 Gerechtigkeit – Forderung oder Ideal? 106
13 Gerechtigkeit und Politik 111
13.1 Gerechtigkeit als politische Aufgabe? 112
13.2 Gerechtigkeit und Recht 114
13.3 Gerechtigkeit und internationale Politik 116
Anhang: John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie 119
1 Darstellung der rawlsianischen Gerechtigkeitskonzeption 120
2 Kritische Punkte 125
Anmerkungen 131
Literatur 147
Personenregister 151
Sachregister 153
1 Vorbemerkungen
Gerechtigkeit ist in unserer Kultur eine zentrale moralische Kategorie, die anschei-
nend normative (also handlungsanleitende) Implikationen hat: Werden Verhält-
nisse als ungerecht beurteilt, ist dies eine starke Kritik, die, wenn das Urteil von
den einschlägigen Akteuren akzeptiert wird, beinahe dazu zu zwingen scheint,
die Verhältnisse zu ändern. Wie wichtig Menschen Gerechtigkeit ist, lässt sich gut
an den Ergebnissen eines kleinen Experiments ablesen, dem sogenannten Ulti-
matum-Spiel: Zwei Spieler bekommen einen Geldbetrag genannt, den der erste
Spieler aufteilen soll. Das Angebot des ersten Spielers kann der zweite Spieler
entweder annehmen – dann bekommen beide den vorgeschlagenen Betrag aus-
gezahlt, oder ablehnen – dann verfällt das Geld.1 Bietet nun der erste Spieler
dem zweiten deutlich weniger an, als er für sich selbst beansprucht, wird das
Angebot vom zweiten Spieler sehr häufig abgelehnt, obwohl er dadurch natürlich
auf einen finanziellen Gewinn verzichtet. Gefragt, warum er sich so entscheidet,
antwortet der zweite Spieler meist, dass das Angebot ungerecht sei und er nicht
bereit sei, eine solche Ungerechtigkeit hinzunehmen. Der erste Spieler rechnet
offenbar mit einer solchen Reaktion, denn durchschnittlich werden dem zweiten
Spieler etwa 30 % des Gesamtbetrags angeboten.2
Gerechtigkeit ist im Unterschied zu anderen normativ-moralischen Gesichtspunk-
ten auch nicht auf moderne westliche Gesellschaften beschränkt. Vielmehr hat
es diese Kategorie vermutlich in allen Kulturen und bereits seit sehr langer Zeit
gegeben. Sie wird und wurde wohl auch übereinstimmend als ein sehr wichti-
ger Bewertungsgesichtspunkt angesehen. Ungerechtigkeiten gehören beseitigt –
vielleicht nicht nur prima facie (also auf den ersten Blick) oder pro tanto (also
wenn nichts dagegen spricht), sondern im Sinne eines abschließenden morali-
schen Urteils. Diese Meinung dürfte zu allen Zeiten und an allen Orten verbreitet
gewesen sein.3
So wichtig Gerechtigkeit zu sein scheint, so unklar ist aber, worin sie genau
besteht. Zum einen werden ganz unterschiedliche Dinge als gerecht oder unge-
recht bezeichnet – man kann diese Prädikate auf Verteilungen, auf Handlungen,
auf Personen und auf (soziale) Verhältnisse anwenden. Darüber hinaus gibt es
offenbar verschiedene Typen von Gerechtigkeit und auch unterschiedliche Kan-
didaten für Gerechtigkeitsprinzipien.
Die letzte Beobachtung erklärt bereits wesentlich den systematischen Hauptteil
dieses Buches – ab dem 6. Kapitel geht es um die nach klassischer Auffassung
drei zentralen Typen von Gerechtigkeit: ausgleichende oder korrektive Gerech-
tigkeit (Kapitel 6), kommutative oder Tauschgerechtigkeit (Kapitel 7) und distri-
2 1 Vorbemerkungen
butive oder Verteilungsgerechtigkeit (Kapitel 8 – 10). Für die Verteilungsgerech-
tigkeit sind im Wesentlichen drei unterschiedliche Prinzipien vorgeschlagen
worden: Verteilung nach Verdienst, nach Bedürfnis oder nach Gleichheitsge-
sichtspunkten. Daher wird distributive Gerechtigkeit in drei Kapiteln, die diesen
Prinzipien nachgehen, detailliert behandelt. Die genannten Gerechtigkeitstypen
und Gerechtigkeitsprinzipien werden in den jeweiligen Kapiteln vorgestellt, ana-
lysiert und kritisch diskutiert.
Bevor wird uns dem sachlichen Kernstück des Buches nähern, muss aber
zunächst etwas zum Gerechtigkeitsbegriff gesagt werden: Gibt es trotz der unter-
schiedlichen Anwendungskontexte und möglicher kultureller Unterschiede in
den Auffassungen über Gerechtigkeit eine einheitliche Verwendung des Termi-
nus? Wenn ja: Was bedeutet „gerecht“? Und gibt es generelle Bedingungen für
die Anwendung des Prädikats? Zu diesen Fragen werden in Kapitel 2 konstruktive
Vorschläge entwickelt und verteidigt.
Im Anschluss an die begrifflichen Klärungen – und ebenfalls vor dem syste-
matischen Hauptteil des Buches – will ich auf die wichtigsten klassischen Moral-
theorien zu sprechen kommen: Tugendethik (Kapitel 3), Utilitarismus (Kapitel 4)
und kantische Ethik (Kapitel 5). Sie sollen jeweils daraufhin geprüft werden, was
sie zur Gerechtigkeit zu sagen haben und ob sie aus unserer Sicht überzeugende
Ergebnisse zu Gerechtigkeitsproblemen liefern. Es wird sich herausstellen, dass
die genannten Theorien teilweise erhebliche Schwierigkeiten mit dieser normati-
ven Kategorie haben und ihr Ertrag für Gerechtigkeitsfragen in jedem Falle gerin-
ger ist, als man zunächst erwarten würde. Dies macht es erforderlich, in den fol-
genden Kapiteln einen systematischen Neuanfang zu wagen.
Nach dem Kernteil zu den Typen von Gerechtigkeit und zentralen Gerechtig-
keitsprinzipien will ich zum Abschluss des Argumentationsganges darauf zu spre-
chen kommen, ob Gerechtigkeit eine innergesellschaftliche oder eine globale For-
derung ist und ob sie zeitlich beschränkt oder unbegrenzt gilt (Kapitel 11), sowie
auf die Frage, wie wichtig sich Gerechtigkeit im Vergleich zu anderen moralisch
relevanten Gesichtspunkten ausnimmt (Kapitel 12). Schließlich soll ein Blick auf
politische Implikationen der hier entwickelten Gerechtigkeitskonzeption gewor-
fen werden (Kapitel 13).
Weitere gerechtigkeitsbezogene Themen und Ansätze werden in diesem Buch
nicht oder nur am Rande behandelt – dazu gehören Verfahrensgerechtigkeit,
Gerechtigkeit für Gruppen, lokale Gerechtigkeit (Elster 1992), nicht-komparative
Gerechtigkeit (Feinberg 1974) und Gerechtigkeit als „mutual advantage“ (Gau-
thier 1986). Eine Auswahl musste getroffen werden, und diese zeigt an, welche
Fragestellungen mir besonders wichtig erscheinen. Gelegentlich wird im Text
erläutert, warum ich eines der nicht behandelten Themen für weniger einschlä-
gig halte. Dennoch sind die ausgesparten Aspekte natürlich nicht uninteressant
1 Vorbemerkungen 3
und durchaus lehrreich – der Leser muss sich hierfür (anhand der Literaturanga-
ben) anderweitig umschauen.
An dieser Stelle noch ein Wort zur Gerechtigkeitstheorie von John Rawls
(Rawls 1975), dem zu diesem Thema prominentesten Autor der neueren Zeit und
in gewisser Weise auch dem Wegbereiter der zeitgenössischen philosophischen
Debatte zur Gerechtigkeit. Auch wenn seine wichtige Rolle unbestritten ist, werde
ich auf Rawls im Laufe des eigentlichen Argumentationsganges nur am Rande
eingehen und ihn gesondert in einem Anhang vorstellen und diskutieren. Die
Gründe dafür sind folgende:
Zum einen behandelt Rawls in seinem Werk ausschließlich den Aspekt der
Verteilungsgerechtigkeit, und auch diesen eingeschränkt auf politische Kontexte.
Im vorliegenden Buch sollen aber alle Dimensionen der Gerechtigkeit ohne eine
solche Bereichseinschränkung zur Sprache kommen; behandelt wird Gerechtig-
keit als allgemeine moralische Kategorie. Es geht mir dabei nicht nur und nicht
einmal primär um die Gerechtigkeit von Institutionen als Regelsystemen.4 Diese
sollen erst am Ende des Buches in den Blick genommen werden.
Zum anderen nennt Rawls seinen Entwurf zwar eine Gerechtigkeitstheorie,
entwirft aber eigentlich eine in inhaltlicher Hinsicht umfassendere Theorie, die
auch Fragen der Effizienz (im Sinne von allgemeiner Besserstellung) integriert.5
Meines Erachtens ist allgemeine Besserstellung – und damit das sogenannte
Pareto-Prinzip – kein Gesichtspunkt der Gerechtigkeit und sollte nicht mit letz-
terer vermengt werden.6 Es ist nicht gerecht, wenn Menschen mehr bekommen,
als ihnen zusteht, selbst wenn alle davon profitieren.7 Das zeigt sich nicht zuletzt
schon an den Reaktionen der Spieler im erwähnten Ultimatum-Spiel – der zweite
Spieler verzichtet ja unter Umständen auf einen Gewinn, den beide erhalten
würden, weil ihm das Angebot des ersten Spielers ungerecht erscheint.
Die hier vorgelegte Darstellung des Themas Gerechtigkeit verfolgt eine sachori-
entierte Perspektive. Auch wenn historische Positionen und Autoren zur Sprache
kommen, geht es nicht um historisches Wissen als solches, sondern um den syste-
matischen Ertrag für Fragen, die uns heute beschäftigen.8 Die einzelnen Themen
werden, wie es dem Umfang eines überblicksartigen Bandes entspricht, eher kurz
behandelt; es ließe sich natürlich jeweils viel mehr dazu sagen.9
Abgesehen von der relativ breiten Ausrichtung des Buches auf verschiedene
Aspekte von Gerechtigkeit, die heute nicht unbedingt üblich ist, erscheint es für
eine Monographie zu diesem Themengebiet vielleicht auch ungewöhnlich, dass
nicht einfach eine neutrale Darstellung von Positionen gegeben, sondern ver-
sucht wird, auf inhaltliche Fragen eine begründete Antwort zu liefern. So soll im
systematischen Kernteil argumentiert werden, dass Tauschgerechtigkeit und aus-
gleichende Gerechtigkeit aus verschiedenen Gründen durchaus problematisch
4 1 Vorbemerkungen
sind und nicht zufällig in der heutigen Diskussion keinen zentralen Platz ein-
nehmen. Und es wird die These vertreten, dass Verdienst und Bedürfnis als Prin-
zipien der Verteilungsgerechtigkeit letztlich nicht geeignet sind. Ich hoffe, dass
sich der Leser durch meine Stellungnahmen nicht abgeschreckt sieht, sondern
dass sie ihm eher als Anregung dienen, in kritischer Auseinandersetzung mit
dem Text eine eigenständige Meinung auszubilden.
Meine erste intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Gerechtigkeit fand
während meiner Forschungstätigkeit in der Nachwuchsgruppe „Interdiszipli-
näre soziale Gerechtigkeitsforschung“ an der Humboldt-Universität Berlin statt.
Meinen Kollegen aus dieser Zeit möchte ich für viele anregende Diskussionen
danken. Erste Vorfassungen des Buchmanuskripts konnte ich in Vorlesungen
erproben, die ich an den Philosophischen Instituten der Universitäten Leipzig
und Konstanz gehalten habe. Den Teilnehmern dieser Vorlesungen danke ich für
Anregungen und Kritik. Mein namentlicher Dank geht an Sybil Kopf, Ilona Wüst
und Dieter Birnbacher, die das Manuskript kritisch kommentiert und mit zahlrei-
chen Verbesserungsvorschlägen versehen haben.