Table Of ContentHarald A. Mieg · Astrid O. Sundsboe · Majken Bieniok (Hrsg.)
Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung
Harald A. Mieg · Astrid O. Sundsboe
Majken Bieniok (Hrsg.)
Georg Simmel
und die aktuelle
Stadtforschung
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1. Auflage 2011
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Lektorat: Dorothee Koch
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-531-17034-3
Inhaltsverzeichnis(cid:3)
Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung: Einleitung ................................. 7
Simmel und die Stadtforschung
Hartmut Häußermann
Georg Simmel, der Stadtsoziologe. Zur Einführung .................................. 15
Rolf Lindner
Georg Simmel, die Großstadt und das Geistesleben .................................. 29
Metropolenforschung
Harald A. Mieg
Simmel – Milgram – Sassen: Metropolen als Orte der
Zivilisationsproduktion .............................................................................. 41
Majken Bienoik, Reinhard Beyer und Elke van der Meer
Aktualität Simmels in der Wahrnehmung von Metropolen ....................... 53
Walter Siebel
Talent, Toleranz, Technologie: Kritische Anmerkungen
zu drei neuen Zauberworten der Stadtpolitik ............................................. 73
Soziale Grenzen in der Stadt
Florian Koch
Georg Simmels „Die Großstädte und das Geistesleben“
und die aktuelle Gentrification-Debatte. Eine Annäherung ....................... 91
Astrid O. Sundsboe
Simmel Reloaded: Ein klassischer soziologischer Blick
auf die aktuelle Erforschung ethnischer Segregation ............................... 115
Jörg Blasius
Armut in der Stadt – historische und aktuelle Befunde............................ 147
6 Inhaltsverzeichnis
Das städtische Individuum und das/der Fremde
Hans-Peter Müller
Soziale Differenzierung und Individualität:
Georg Simmels Gesellschafts- und Zeitdiagnose..................................... 165
Y. Michal Bodemann
Von Berlin nach Chicago und weiter:
Georg Simmel und die Reise seines „Fremden“ ...................................... 185
Wolf-Dietrich Bukow
Was heißt hier ethnische Gemeinschaftsbildung? Zur nachhaltigen
Marginalisierung gemeinschaftsorientierter Bindungen .......................... 213
Architektur als kultureller Ausdruck
Heike Delitz
Soziologie der gebauten „Haut“ der Gesellschaft:
Georg Simmels Architektursoziologie ..................................................... 245
Konstanze Noack
Vermittlerin zwischen Architektur und Kulturwissenschaft:
Reflexionen zu Simmels Aufsatz „Brücke und Tür“ ............................... 269
Heike Oevermann
Erhaltung und Transformation von architektonischem Kulturerbe:
Welterbe-Diskurs und planerische Praxis auf Zeche Zollverein .............. 277
Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung:
Einleitung
Georg Simmel hat mit seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben
(1903) den Anstoß für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Stadtforschung
gegeben. Für Simmel verkörperten Großstädte den Sitz der Moderne – Orte, an
denen sich durch Arbeitsteilung und Spezialisierung eine besondere Produktiv-
kraft herausbildet, Orte, an denen das Individuum einen bis dahin unbekannten
Grad an persönlicher Freiheit erlangt und an denen wesentliche gesellschaftliche
Austauschprozesse stattfinden. Mit diesem Buch, einem Herausgeberwerk des
Georg-Simmel-Zentrums für Metropolenforschung der Humboldt-Universität zu
Berlin, gehen wir der Frage nach, welche Relevanz Simmel für die heutige Stadt-
forschung besitzt. Insbesondere möchten wir das interdisziplinäre Potenzial des
Simmelschen Ansatzes aufzeigen.
Die Relevanz von Simmel für die aktuelle Stadtforschung lässt sich auf ver-
schiedene Weisen erkunden, welche sich auch in der Aufteilung des Buches
widerspiegeln. Offensichtlich spielt Simmel eine Rolle für die gegenwärtige
Metropolenforschung, d. h. die Forschung zu den besonderen Städten, den heuti-
gen Weltstädten, die sich durch Kreativität oder wirtschaftliche Macht auszeich-
nen. Dies sollen Beiträge im Teil „Metropolenforschung“ aufzeigen. Eine span-
nende Frage ist darüber hinaus, welchen Beitrag Simmels Werk heute zur For-
schung über Segregation und überhaupt zur Abbildung der sozialen Frage in der
Stadt leisten kann. Mit dieser Frage befassen sich die Kapitel in den Teilen zu
„Soziale Grenzen in der Stadt“ und „Das städtische Individuum und das/der
Fremde“.
Das interdisziplinäre Potenzial in Simmels Werk zeigt sich in den Beiträgen
aus dem Bereich Architektur. Georg Simmel war ein Vieldenker – was ihm den
nicht immer nützlichen Titel eines „geistreichen Aphoristikers“ einbrachte. Er
hat sich zu einer erstaunlichen Zahl an Phänomenen geäußert, wie z. B. zur
Symbolik von Brücke und Tür, zur sozialen Funktion von Moden oder zu Rom,
Venedig und Florenz. Bindet man diese Schriften zurück an die großen Theorie-
Werke Simmels, die Philosophie des Geldes (1900) oder die Soziologie (1908),
so gewinnt man eine z. T. sehr moderne theoretische Perspektive auf Architek-
tur. Diesen Versuch einer Reflexion von Architektur aus Simmels Sichtweise
unternehmen die Beiträge im Teil „Architektur als kultureller Ausdruck“.
H. A. Mieg et al (Hrsg.), Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung,
DOI 10.1007/978-3-531-93132-6_1,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
8 Einleitung
Das Buch ist ein Ergebnis des interdisziplinären Symposiums „Simmel und
die Stadt“, welches das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung an-
lässlich des 150. Geburtstags Simmels im November 2008 veranstaltete. Sim-
mels Aktualität zeigte sich nicht zuletzt in der kritischen Äußerung eines
Symposiumsgastes, dass man doch nicht so viele neuere Stadtforschungsprojekte
allein auf den schon 100 Jahre alten Simmelansatz gründen könne: Tatsächlich
aber beruhte kein einziges der vorgestellten Projekte auf Simmels Werk. Viel-
mehr galt es auf dem Symposium, aktuelle Forschung im Geiste Simmels zu
reflektieren; was offenbar gelang. Simmel scheint auf erstaunliche Weise mo-
dern.
Ebenen aktueller Stadtforschung
Simmels Werk bietet vielfältigen Bezug zur Stadtforschung. In der einfachsten
und direktesten Lesart ist Simmels Essay Die Großstädte und das Geistesleben
(1903) einer der Gründungstexte der Stadtsoziologie. Diese Interpretation wird
jedoch schwieriger, wenn man Simmels Text als Anwendung der Simmelschen
Philosophie des Geldes auf das Phänomen Stadt versteht. Die ursprüngliche
Anlage des vorliegenden Buches ging von einer Bereichsbetrachtung von Stadt
aus, von separat fassbaren Themen wie Segregation, Gentrifizierung, Zivilgesell-
schaft etc. Eine solche separierende Bereichsbetrachtung ließ sich nicht umset-
zen. Stattdessen erörtern wir Simmels Beitrag auf fünf verschiedenen, sich kreu-
zenden Ebenen von Stadt und Forschung, aus Themen und Disziplinen.
Der erste Teil, „Simmel und die Stadtforschung“, zeigt zwei divergierende
Perspektiven zur Verortung von Simmels Werk in der Stadtforschung. Für Hart-
mut Häußermann ist Simmel ein Stadtsoziologe (Kapitel 1). Denn es sind die
strukturtheoretischen Ableitungen – etwa zu den Folgen von Arbeitsteilung und
Spezialisierung in der Stadt –, welche den besonderen Wert etwa des Großstadt-
essays ausmachen. Rolf Lindner hingegen sieht in der Vereinnahmung von
Simmel durch die Stadtsoziologie ein Missverständnis (Kapitel 2). Denn Simmel
argumentiert kulturwissenschaftlich. Auch der großstädtische Geist ist bei Sim-
mel nur aus der Kultur der Geldwirtschaft zu verstehen.
Der zweite Teil, „Metropolenforschung“, liefert erste Belege für Simmels
ungebrochene Relevanz. Ansatzpunkt ist sein Verständnis von der Produktivität
von Großstädten. Harald Mieg zeigt, wie Simmels Stadtanalyse in der kogniti-
onspsychologischen Sicht auf Stadt (nach Milgram) sowie durch Sassens Global-
City-Studien kongenial fortgeführt und ergänzt wird. Als gemeinsamer Nenner
ergibt sich eine Theorie der Metropolen als Orte der Zivilisationsproduktion
(Kapitel 3). Majken Bieniok präsentiert Daten zu einem aktuellen Metropolen-
Einleitung 9
vergleich zwischen Berlin, London und Paris, der an Simmels Charakterisierung
von Großstadt angelehnt ist (Kapitel 4). Walter Siebel macht deutlich, dass die
aktuelle stadtpolitische Diskussion um Kreativwirtschaft keiner neuen Theorie
bedarf, sondern sich aus Simmels Werk ableiten ließe (Kapitel 5).
Der dritte Teil, „Soziale Grenzen in der Stadt“, berührt eine offenbare Lü-
cke in Simmels Werk. Simmel hat sich nur am Rande mit der sozialen Frage und
ihrer Abbildung im Stadtraum befasst. Die Beiträge in diesem Teil versuchen
jeder auf seine Weise, für die soziale Frage und das Phänomen der sozialen
Grenzen in der Stadt eine Forschungsgrundlage im Simmelschen Sinne zu fin-
den. Grenzen sind hierbei nach Simmel „eine soziologische Tatsache, die sich
räumlich formt“ (1968: 467). Florian Koch argumentiert am Beispiel von
Gentrifizierung, dass stadträumliche Veränderungen sehr wohl mit Simmels
Begriffen von Arbeitsteilung und sozialer Interaktion verstanden werden können,
wobei Lebensstile eine wichtige Rolle spielen (Kapitel 6). Astrid Sundsboe plä-
diert dafür, sich in der Segregationsforschung an Simmel zu orientieren und
Segregation als Folge von sozialer Interaktion und Organisation zu verstehen
(Kapitel 7). Jörg Blasius diskutiert Simmels Eintreten für staatliche Armenfür-
sorge aus einer zeitübergreifenden Perspektive (Kapitel 8).
Der vierte Teil, „Das städtische Individuum und das/der Fremde“, zeigt die
Aktualität in Simmels Werk, wenn es um die Frage der Konstitution von Stadt-
gesellschaft geht. Die gegenwärtige Diskussion spricht hierbei von Governance,
womit eine polyzentrische Selbstorganisation der Akteure und sozialen Gruppen
einer Stadt gemeint ist. Die wichtigsten Elemente für ein Verständnis von Stadt-
gesellschaft sind für Simmel zum einen die Arbeitsteilung in der modernen
Geldwirtschaft, zum anderen die Interaktionsvielfalt in der Stadt. Arbeitsteilung
und Interaktionsvielfalt erzeugen eine gewisse Anonymität und Freiheit in der
Großstadt. Der erste Beitrag in diesem Zusammenhang stammt von Hans-Peter
Müller, der Simmels Konzeption von Gesellschaft und Individuum erörtert und
deren Verflechtung mit Simmels Zeitdiagnose aufzeigt (Kapitel 9). Michal
Bodemann erläutert Simmels modernes Verständnis vom Individuum im „Ex-
kurs über den Fremde“ (Kapitel 10). Wolf-Dietrich Bukow diskutiert am Bei-
spiel ethnischer Gemeinschaften den Vorzug von Simmels Auffassung einer
Stadtgesellschaft, die auf formalen Regelungen und nicht auf materieller oder
kultureller Gemeinschaft beruht (Kapitel 11).
Der fünfte und letzte Teil, „Architektur als kultureller Ausdruck“, projiziert
Simmels Werk auf Fragen der Architektur. Heike Delitz skizziert eine Architek-
tursoziologie, welche vom städtischen Raum als eine soziale Tatsache ausgeht
und verdeutlicht, wie durch die Kultivierung von Raum wir uns selber kultivie-
ren (Kapitel 12). Konstanze Noack interpretiert Simmels Essay Brücke und Tür
im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Architekturtypologie (Kapitel 13). Zu
10 Einleitung
guter Letzt diskutiert Heike Oevermann, wie die aktuelle Debatte um das archi-
tektonische Weltkulturerbe von Simmels Kulturbegriff lernen könnte (Kapitel
14). Es ist zu wünschen, dass die Architekturtheorie als auch die Planungsdebat-
ten Simmels Werk für sich entdecken. Mit diesem Buch hoffen wir den ersten
Schritt in diese Richtung getan zu haben.
Die Kapitel im Überblick
1. Hartmut Häußermann beschreibt einleitend Simmels Zeit an der Berliner
Universität. Simmel bearbeitete eine große Breite an allgemein- und kultursozio-
logischen Themen und war zahlreichen Anfeindungen durch Kollegen ausge-
setzt; seine Karriere verlief nur schleppend. Simmels Perspektive auf die Stadt
ist grundlegend für eine Soziologie der Stadt geworden. Nicht zuletzt seine
strukturtheoretischen Betrachtungen zu Urbanisierung und Arbeitsteilung weisen
Simmel, so Häußermanns Sicht, als Soziologen aus.
2. Rolf Lindner argumentiert, dass es sich bei Georg Simmels Essay Die
Großstädte und das Geistesleben keineswegs um einen stadtsoziologischen Text
im engeren Sinne handelt. Simmel als Stadtsoziologen zu bezeichnen bedeutet
demnach eine Verkennung seines Werkes. Bei Simmel – so Lindner – geht es
letztlich um kulturphilosophische Reflexionen über das Schicksal der Persön-
lichkeit in der Moderne, das sich exemplarisch in der modernen Großstadt voll-
zieht.
3. Harald Mieg erörtert zwei Explikationslinien, die Simmels Arbeit fortsetzen
und spezifizieren. Eine dieser Linie führt in die kognitive Psychologie und wird
exemplarisch an einem Essay von Stanley Milgram vorgestellt. Die andere Ex-
plikationslinie führt zu Saskia Sassens Forschung über Global Cities, in denen
sich Kapital und professionelle Bewertungskompetenzen bündeln. Das Gemein-
same von Simmel bis Sassen ist das Verständnis von Metropolen als Orte der
Zivilisationsproduktion.
4. Majken Bieniok belegt in ihrem Beitrag, dass Georg Simmels Vorstellung
einer Großstadt und den charakteristischen Merkmalen ihrer Bewohner auch
heute empirische Aktualität besitzt. Sie beschreibt eine psychologische Studie
zur Wahrnehmung der Städte Berlin, Paris und London. Bieniok belegt, dass
jede dieser drei Metropolen ihren eigenen städtischen Charakter besitzt, wobei
sich London und Paris in ihren Eigenschaften ähnlicher sind, als sie Berlin glei-
chen.
Description:Georg Simmel hat mit seinem Aufsatz "Die Großstädte und das Geistesleben" (1903) den Anstoß für die sozialwissenschaftliche Stadtforschung gegeben. Für Simmel verkörpern Großstädte den Sitz der Moderne - Orte, an denen sich durch Arbeitsteilung und Spezialisierung eine besondere Produktivkra