Table Of ContentGENIALE MENSCHEN
VON
ERNST KRETSCHMER
DR. MED. DR. PHIL. H. C.
O. PROFESSOR FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
IN TUBINGEN
MIT EINER PORTRA.TSAMMLUNG
FDNFTE AUFLAGE
21.-26. TAUSEND
SPRINGER-VERLAG
BERLIN· GOTTINGEN· HEIDELBERG
1958
ISBN-13: 978-3-642-86819-1 e-ISBN-13: 978-3-642-86818-4
DOl: 10.1007/978-3-642-86818-4
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER UBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN
OHNE AUSDRUCKLICHE GENEHMIGUNG DES VERLAGES 1ST ES AUCH NICHT
GESTATTET, DIESES BUCH ODER TEILE DARAUS AUF PHOTOMECHANISCHEM
WEGE (PHOTOKOPIE, MIKROKOPlE) ZU VERVlELFALTlGEN
COPYRIGHT 1929, 1948 BY SPRINGER-VERLAG OHG. IN BERLIN AND HEIDELBERG
© BY SPRINGER-VERLAG OHG., BERLIN' GOTTlNGEN • HEIDELBERG 1958
Softcover reprint of the hardcover 5th edition 1958
BRUHLSCHE UNIVERSITATSDRUCKEREI GIESSEN
VORWORT ZUR FUNFTEN AUFLAGE
Die vorliegende Auflage ist grtindlich bearbeitet und
erweitert. Es war auch diesmal das Bestreben, wertvolle
biographische und literarische Bestande neu einzubauen.
Besonderen Dank mochte der Verfasser abstatten an zahl
reiche Freunde dieses Buches, die ihm durch Zuschriften
Material aus zum Teil abge1egenen oder erst neuerdings
wieder aufgefundenen Quellen zuganglich gemacht haben;
es war nicht moglich, sie alle namentlich zu nennen. So
konnte unter anderem eine interessante konstitutions
psychologische Se1bstanalyse des Philosophen Leibniz aus
gewertet werden, die dem Leibniz-Forscher von Engelhardt
zu verdanken ist. Neu eingeftigtsind ferner Nachrichten
tiber den Erfinder Diesel undtiber den seltsamen Mathe
matiker Desargues. Charakteristische Proben aus dem Brief
wechse1 zwischen Voltaire und. Rousseau werden geistes
geschichtlich interessierte Leser erfreuen, sofern sie das
Phanomen Rousseau im Kontrast zu der soziologischen
Atmosphare der damaligen geistigen Elite Frankreichs
schlaglichtartig be1euchten.
Besondere Sorgfalt wurde aber darauf verwendet, eine
so interessante und komplizierte geistige Erscheinung wie
Rainer Maria Rilke wenigstens nach bestimmten Seiten
III
seines Wesens verstehend nachzuzeichnen. Das Phanomen
eines aus den eigenen inneren V oraussetzungen heraus
personlich erlebten Pantheismus gibt hier tiefe, uber das
Individuelle hinausgehende Einsichten. - Die Liebe als
"Zuwachs an Einsamkeit" (eine echt Rilkesche Formu
lierung) wurde an anderer Stelle dieses Buches behandelt.
Viele genauere Belege zum vertieften Verstandnis Rilkes
und zu den einzelnen Tatsachen von Leben und Werk
finden sich in der kurzen Rilke-Biographie meiner Schulerin
lIse Krippendorf-Klages (2. f. Psychotherapie 2, 1952).
Aufs Ganze gesehen, haben wir auch heute guten
Grund, zu wiederholen: Mit Retuschen kann man weder
ein ausdrucksstarkes Gemalde, noch eine ernste wissen
schaftliche Darstellung zustande bringen. Dies gilt von
den Gesetzen der Erbanlage und der Pragung durch die
fruhere Umwelt; es gilt auch wo seelische Erkrankungen
auftreten; diese sind stets eng mit den tiefsten Wurzeln der
Gesamtpersonlichkeit verwachsen; versucht man sie weg
zulassen, abzuflachen oder ohne feinste Kenntnis psycho
pathologischer Phanomene darzustellen, so wird stets nur
ein ebenso schiefes, wie banales Bild zustande kommen,
das weder kausal, noch phanomenologisch den Anspru
chen genugt. "Ersetzen" kann man naturwissenschaftliche
Tatsachen so wenig, wie man das Einmaleins ersetzen
kann. Eine anthropologische Betrachtungsweise, ob man
das Wort im philosophischen oder im naturwissenschaft
lichen Sinne benutzt, kann niemals etwas anderes vor sich
haben, als den ganzen Anthropos in der Fulle aller seiner
Bezuge: ohne Biologie wurde er blutlos, ohne feine psycho
logische Einfiihlung geistlos erscheinen. 1m ubrigen
IV
legen wir, wie bekannt, wenig Wert darauf, krankhafte
Vorgange als solche zu akzentuieren, wohl aber diese vor
geschobensten Posten menschlicher Existenz in die ganze
Fiille menschlicher Erlebnismoglichkeiten einzubeziehen.
Dasselbe gilt von allen normal biologischen V organgen und
Lebensgesetzen, aus denen groBe Menschen erwachsen -
auch die soziologischen Einbettungen und Bezlige geho
ren dazu, die hier nur angedeutet werden konnen.
Unsere Aufgabe bleibt immer: den geistigen Phano
menen bis in ihre feinsten Verastelungen einflihlend nach
zugehen, dies alles aber zu sehen auf den tiefen Hinter
grlinden naturhaften Lebens, der groBen Lebensgesetze,
aus denen auch das Leben, Weben und Sein genialer
Menschen entquillt.
Tlibingen, 20. Januar 1958 E. Kretschmer
V
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Die wesentlichen Teile dieses Buches sind im Jahre
1919 entstanden und bisher nur in Form von Vorlesungen
fur ein vorwiegend geisteswissenschaftliches Publikum
und in einzelnen V ortragen an die Offentlichkeit gegeben.
In den letzten J ahren wurde daran noch vieles vertieft
und erganzt.
Die hier vorgetragenen Ansichten beruhen auf Durch
arbeitung eines sehr umfassenden primaren Quellen
materials an kunstlerischen \YJ erken, vor allem aber an
Briefen, Tagebuchern, Memoiren, Originalberichten von
Zeitgenossen. Eine historisch-philologische Bearbeitung
dieses Materials mit speziellen kritischen Literaturnach
weisen liegt auBerhalb der Ziele und Moglichkeiten dieses
Buches.
Naturlich wurden auch die bisher vorliegende patho
graphische Literatur und die wichtigsten Spezialwerke
zum Genieproblem in weitem Umfang berucksichtigt. Eine
umfassende Zusammenstellung dieser Literatur findet sich
bei Lange-Eichbaum, Genie, Irrsinn und Ruhm, Munchen,
Reinhardt 1928. Entsprechend dem ursprunglichen Charak
ter als Vorlesung habe ich die Zitate auch in dieser Rich
tung sparsam gehalten. Der Kenner der Literatur wird in
VI
den einschlagigen Kapiteln die Verwendung patho
graphischer und biographischer Vorarbeiten, besonders
von Mobius (Goethe), Jentsch (Robert Mayer), Sadger (C. F.
Meyer) unschwer feststellen; gerade aus den drei genannten
Pathographien sind manche beschreibende Partien wort
lich zitiert.
Fur die Mithilfe bei Anlage der Portratsammlung bin
ich meinem langjahrigen treuen Mitarbeiter, Herrn Klett
in Tubingen, zu vielem Dank verpflichtet.
Marburg, im Mai 1929 E. Kretschmer
VII
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
Erster Teil
Gesetze
Das Damonische
II
Trieb und Geist
Die gepragte Form der Personlichkeit
Die Zuchtung der Begabung
Genie und Rasse
Zweiter Teil
Bilder
Die seelische Periodik. Der Lebenskunstler
Geschlecht und Pubertat. Die Lebenskurven IF
Der Forscher 168
Held und Herrenmensch
Inspiration und Verehrung 2IZ
Der Prophet
Dritter Teil
Portratsammlung
V orbemerkung
Portrats
Quellen zur Portratsammlung
Namenverzeichnis
Verzeichnis der Bilder
310
VIII
EINLEITUNG
Dieses Buch ist ganz der Personlichkeit des Genies zu
gewandt, den Gesetzen seiner biologischen Entstehung
und der Psychologie seines inneren Aufbaus und seiner
Triebfedern. Und zwar sowohl den Gesetzen, die das Genie
aus der Menge der Menschen unterscheidend herausheben,
als auch denen, die es gerade als besonders typischen Re
prasentanten allgemein-menschlicher Triebe und Person
lichkeitsformen und als besonders ldaren Einzelfall groBer
kulturgeschichtlicher Gesamtstromungen erscheinen las
sen. Ausgeschlossen ist die Soziologie des Genies, die Ent
stehung des Wortbegriffs, die Entstehung des Ruhms und
der Heldenverehrung, tiberhaupt die Theorie der Werte;
nur indirekte Streiflichter werden gelegentlich auch nach
dieser Seite fallen. Eine entschiedene und erschopfende
Darstellung der Soziologie des Genies findet sich bei
Lange-Eichbaum.
Es kommt hier nur noch auf eine kurze Verstandigung
tiber den Begriff "Genie" an. Seine komplizierte Ent
stehung und seine groBe sprachliche Vieldeutigkeit sind
von W., Lange-Eichbaum grtindlich entwickelt, der es zu
letzt vorzieht, unter Genie rein soziologisch einen" W erte
bringer" zu verstehen. Da man bei alIer Verwirrung der
Definitionen praktisch sprachlich immer ungefahr die
selben Leute als "Genie" bezeichnet und nur an den
Grenzen und bei den weniger Bertihmten die Meinungen
I Kretschmer, Geniale Menschen, 5. Auf!.
I
auseinandergehen, so beruhrt uns diese Frage hier nicht
stark.
Das Material an Personlichkeiten fur unsere Unter
suchung haben wir zunachst einfach ausgewahlt nach dem
auBeren Merkmal der Beruhmtheit, die sich an greifbare
personliche Werke, wie literarische oder wissenschaftliche
Werke, Kunstwerk, Erfindermodell, konkrete historische
Dokumente u. a. knupft. Die legendare, archaisch-mytho
logische Form der Beruhmtheit, wie sie noch in der mittel
alterlichen Heiligen- und Heldentradition die beherr
schende Rolle spielt, ist dagegen fur grundsatzliche Unter
suchungen uber den Geniebegriff wenig brauchbar. Sie
uberliefert meist keine greifbaren Werke und individuellen
Zuge, sie interessiert sich uberhaupt grundsatzlich nicht
fur die reale Personlichkeit selbst, sondern nur fUr die
starke auBere Wirkung, hinter der sie direkt das Uber
sinnliche unter dem Symbol eines Namens oder Typus ver
ehrt, und zwar desto mehr verehrt, je weniger die Wirkung
aus der Psychologie der Personlichkeit real ableitbar er
scheint. Der moderne Geniebegriff dagegen ist grund
satzlich individualistisch, so starke Ruckschwankungen er
auch nach der Seite der archaischen Heiligenverehrung bis
heute zeigt. Er ist geradezu ein typisches Produkt des
modernen Individualismus; die Personlichkeit des Tra
gers, ihre Eigenart und ihr Wert stehen im Brennpunkt des
Interesses. - Auch unter den Erscheinungen der neueren
Kulturgeschichte sind nach der einen Seite aus unserer
Betrachtung ausgeschlossen die nur fUr den Tagesbedarf
arbeitende Rekordleistung des Virtuosen, Schauspielers,
Tagesschriftstellers, Sportmannes, obgleich sich hier auch
viele psychologische Parallelen Zu unserem Gebiet ergeben.
Ausgeschlossen ist nach der anderen Seite jede Form von
2