Table Of ContentHugo Preuss
Gemeinde, Staat, Reich als
Gebietskörperschaften
Versuch einer deutschen Staats-
konstruktion auf Grundlage der
Genossenschaftstheorie
Gemeinde, Staat, Reich
als Gebietskorperschaften.
Versuch
einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage
der Genossenschaftstheorie
von
Dr. Hugo Preuss.
Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1889
ISBN 978-3-662-00253-7 ISBN 978-3-662-00273-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-00273-5
Dem
Vorkampfer deutscher Genossenschaftstheorie
Herrn Dr. Otto Gierke
Geheimem Justizrath
und ordentlichem Professor der Rechte an der Universitat Berlin
1n Verehrung
zugeeignet.
Vorbemerkung.
Nur ungern und mit Widerstreben babe ich in dieser Ar
beit die allgemeinen Grundbegriffe des Staatsrechts einer Revision
unterzogen, welche in den wesentliehsten Punkten zu einer von
der herrschenden fundamental verschiedenen Anschauung ge
langt. Eine solche Begriffskonstruktion ist ein ebenso miihe
volles, als in der Regel undankbares Unternehmen, besonders
wenn sie sich, wie die folgende, zur Negirung der Grund
auffassung genothigt sieht, auf welcher sammtliche Systeme
unserer Wissenschaft beruhen und wenn ihr dabei der Name
ihres Verfassers durch gefestigtes Ansehen keinen Schutz zu
gewahren vermag. Erspriesslicher und dankbarer ist es, seine
Kraft an einer einzelnen, konkreten Frage zu erproben und
dabei die allgemeine begriffliche Grundlage, wie sie in der zur
Zeit herrschenden Lehre zum Ausdruck kommt, als gegeben
anzunehmen.
Aber leider erwies sich ein solches Verfahren bei der Be
handlung aller wichtigsten Streitfragen des deutschen Reichs
staatsrechts als vollig aussichtslos. Gerade die eingehende
Untersuchung verschiedener hochst konkreter Einzelfragen fiihrte
mich zuletzt immer wieder auf die Grundbegriffe zuriick und
drangte mir endlich die sehr unliebsame Erkenntniss auf, dass
diese Grundhegriffe, wie sie in der zur Zeit herrschenden Lehre
formulirt sind, eine voll hefriedigende Losung all' jener Fragen
nicht ermoglichen. Wahrend ich, vom Standpunkt der herrschen
den Grundanschauung ausgehend, beziiglich der wichtigsten
Einzelfragen zu Resultaten gelangte, welche der herrschenden
Theorie und Praxis gleichmassig widersprachen, ohne doch bei
VI Vorbemerkung.
sorgfaltigster Priifung cinen logischcn Fehler in meiner De
duktion entdecken zu konnen, zeigt nunmehr das letzte (XII.)
Kapitel dieser Arbeit im wesentlichcn voile Uebercinstimmung
mit der herrschenden Meinung dcr Theorie wie mit der fest
stehenden Uebung der Praxis; aber freilich - diese Harmonie
der Rcsultate ist erreicht mittels volliger Umgestaltung der
begrifflichen Grundlage.
Nicht mit Unrecht bezeichnet ein franzosischer Jurist, der
sich in sehr verdienstlicher Weise mit deutschem Reichsstaats
recht befasst hat, dassel be als , un echeveatt embrouille, dont on
a
a peine saisir le fil j on croit le tenir pour longternps et pott
a
voir enfin le devider, quand il fazd tout coup le rompre et de
nouveau s'armer de patience" 1). Was die Faden diescs Gewebes
vcrwirrt, das ist in lctzter Linie immer wieder das Verhiiltniss
des Reiches zu den Gliedstaaten; und der Grundbegriff, von
welchem die Theorie bei der Beurtheilung diescs Vc rhaltnisses
stcts ausgeht, die Souveranitat, macht den Knotcn, statt ihn
zu entwirren, unlOslich. Im Gespinnst des Souveranitatsbcgriffs
hat sich die Staatsrechtslehre verfangen wie die Fliege im
Gewebe der Spinne.
Langst schon hatte die Gestaltung modernen Staatslebens
cs der Wissenschaft nahe gclegt, Reich und Staat nicht isolirt
zu betrachten, sondern unter Hinzuziehung der Gcmeinden
die politischen Gemeinwesen tiberhaupt als Artbegriff zu unter
suchen. Jedoch durfte man hierbei nicht stehen bleiben; viel
mehr konnte ein fester Ausgangspunkt der Untersuchung nur
gewonnen werden, wenn man aueh die politischen Gemeinwesen
zunachst als eine Art der Gattung , G e sam m t person" erfasste.
Und bier war es, wo die junge, hoffnungs- und triebkraftige
Lehre der Genossenschaftstheorie unserer Untersuchung
Sttitze und Stab wurde, da sie lehrte, das Spinnennetz des ver
altetcn, zeitwidrigen Souveranitatsbegriffs zu zerreissen und
moderne deutsche Gebilde auch in modernem deutsehen Geiste
zu begreifen. Jene Lehre, die Beseler, dessen Tod wir heute
beklagen, begriindet, die Bah r zuerst fur die begriffliche Er-
1) C. Morhain: ,De l'e1np£re allemand". Paris 1886.
Vorbemerkung. VII
fassung des Rechtsstaats zu verwerthen versucht, deren Hanner
trager heute Gierke ist, ward der Grundstein, auf welchem es
uns gelang, cine einheitliche Konstruktion von Gemeinde, Staat
und Reich, des deutschen Staates in seiner reichen Gliederung,
zu errichten. Die Worte Gierke's, welche dieser Arbeit als Motto
voranstehen,. wurden zu einem wahren Leitstern; sic beleuchteten
den W eg, welch en wir zu gehen hatten, urn, mit dem Niedersten
und Engsten beginnend, die gedankliche Erfassung des Hochsten
und W cites ten zu gewinnen.
Freilich erlaubten auch die Lehren Gierke's, weil sic doch
hauptsachlich an Fragen des Privatrechts ausgebildet und ent
wickelt worden, keine unveranderte Uebertragung auf die staats
rechtliche Konstruktion; vielmehr bcdurften sic mannigfach um
gcstaltendcr Behandlung. Aber wenn in dieser Hinsicht die
vorliegende Schrift irgend Erspriessliches bietet, so verdankt
sic auch dies im letzten Grunde den Ideen, die aus den Werken
Gierke's geschopft wurden. Nirgends mehr, als wo ich ihn
bekampfe, fuhle ich mich als Gierke's SchUler.
Die gedankliche Scheidung des organischen Sozial
rechts vom lndi vidualrecht bildet die unumgangliche Vor
aussetzung jeder fruchtbaren Behandlung des offentlichen Rechts
iiberhaupt und des Staatsrechts im besonderen. Wenn diese
Scheidung geeignet ist, das Staatsrecht nicht nur den tibrigen
Disciplinen der Staatswissenschaft zu nahern, sondern auch
dasselbe recht lebhaft als einen Zweig am Baume der modernen
Wissenschaft erkenuen zu lassen, so ist dies freudig zu be
griissen. Nicht das Objekt, aber die Methode der Erkenntniss
ist bis zu einem gewissen Grade allen Disciplinen derselben
Zeit gemeinsam. Ratte hierin einst die Philosophic die Fiihrung,
so hat sic heute die Naturwissenschaft; und die Jurisprudenz
braucht sich nieht zu schamen, von dieser zu lernen, wie sic
einst von jener gelernt hat.
Besteht zwischen dem organischen Sozialrecht und dem
Individualrecht ein gedanklicher Unterschied, so folgt logisch,
dass jenes cine andre Tcchnik des Denkens erfordert, als
diescs. W ohl ist fur die grosse Masse der Juristen privat
rcchtlichcs und juristischcs Dcnken idcntisch; und Anschauungen,
VIII Vorbemerkung.
welchc der individualistischen Schablonc widerstrchen, gelten
ihnen kurzweg als unjuristisch. Sic hcwcisen damit nur, dass
die sprode Einseitigkeit, wclchc der bier vertretenen Ricbtung
so oft vorgeworfen wird, in W ahrheit hci den Gegnern zu Hause
ist. Raum fur Aile hat die Jurisprudenz; nur darf man die
Eigenart des Theils nicht als unantastbaren Typus des Ganzen
hinstellen.
Eines aher ist der Jurisprudenz in allen ihren Zweigen
gemeinsam; sic ist die Wissensehaft der angcwendeten Logik.
Was unlogisch ist, das ist uberall und immer unjuristisch. Dass
die folgenden Ausfuhrungen keinen Mangel an Logik verrathen,
muss ich wfinschen und hoffen. Bei der auf Schritt und
Tritt nothwendigen Polemik gcgcn ausnahmslos aile Autoritaten
des Faches, hci der den ublichcn Anschauungen vollig hetero
genen Auffassung und Methode war die logisch schrittweise
Fortfiihrung der Untersuchung nur zu oft vor die Wahl gestellt,
hreit oder unklar zu werden. lch habe stets die Breite als
das kleinere Uebel der Unklarheit vorgezogen. So durfen
mane he scheinbare W eitschweifigkeiten, manche Wiederholungen
durch das Gebot der Noth entschuldigt werden. Wenn aber
hier und da Selhstverstandliches gesagt zu werden scheint, so
wissen Leute mit offnem Auge und Ohr, wie selten gerade in
den grundlegenden Fragen schcinbar Selhstverstandliches von
selbst verstanden wird.
Treu ihrem eigenstcn Grundgedanken wird die Genossen
schaftstheoric nicht als aprioristisches Axiom der folgendcn
Untersuchung vorangcstellt. Vielmchr zcigt der crste Theil,
wic die auf andrer Grundlage aufgebauten Konstruktionen in
innerer Haltlosigkeit zusammenbrechen. Erst im zweiten Theil
entwickelt sich die sozialrechtliche Anschauung aus der Analyse
der bisher herrschenden Grundbegriffe; und auf der so ge
wonnenen Unterlage baut der dritte Theil, ab ovo beginnend,
fort, indem sich die Resultate der Synthese aus dem einmal
erfassten richtigen Princip gleichsam von selbst ergeben und
zum Schlusse die Aufgabe aller wissenschaftlichen Konstruktion
erfiillen, die endliche Identitiit theoretischer und praktischer
W ahrheit zu erweisen.
Vorbemerkung. IX
,BruchstUck bleibt, was zur Losung einer Aufgabe, wie
der hier gestellten, der Einzelne beizutragen vermag". Wenn
Gierke dies Bekenntniss an die Spitze seiner Werke stellt, so
ziemt es noch ungleich mehr dieser Arbeit, welche sich jenen
so wenig nach Werth wie nach Umfang an die Seite zu stellen
vermag. Aber was auch immer die Erkenntniss Andrer von
unseren Resultaten als falsch erweisen mag, - der einge
schlagene W eg als solcher wird sich am En de als der richtige
erweisen. Auf ihn drangte die Entwicklung der Wissenschaft
wie die Gestaltung der Wirklichkeit hin; und ein richtiger
W eg muss endlich zum richtigen Ziele fUhren.
Berlin im September 1888.
Der Verfasser.
Berichtigung.
S. 401 Zeile 11 v. o. ist zwischen die Wortc: ,Gebietskorper
schaft" und ,eventuell" einzuschieben: fiir die dadurch ver
grosserte bezw. verkleinerte Gebietskorperschaft.