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Jeanette Schulz
Gedachtnistheorien
und Mnemotechniken
Eine kiinstlerisch-wissenschaftlithe
Betrachtung
Springer-Verlag Wien New York
Mag. ArtJeanette Schulz
BesanstraBe 4
D-28779 Bremen
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Gedruckt auf saurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF
ISBN-13: 978-3-211-82638-6 e-ISBN-13: 978-3-7091-9387-7
001: 10 .1 007/978-3-7091-9387-7
Springer-Verlag Wien New York
Geleitwort
Zeus zeugte mit Mnemosyne die neun Musen. In die heutige, nuchterne Denkweise
ubersetzt: Die geistige Schopferkraft und das Gedachtnis sind unverzichtbare Vor
bedingungen fur das gesamte Wissen und die Kultur der Welt. Diese grundlegende
Wahrheit wird so lange gultig bleiben, als es Menschen gibt. Wahrend die Antike die
groBeBedeutung dieser beiden Faktoren fur die Existenz und Fortentwicklung
des Menschen klar erkannte und be ide pflegte, haben die Positionen Zeus' und
Mnemosynes im Lauf der Geschichte in ihrer Achtung durch den Menschen weit
gehende Veranderungen erfahren. Zwar wurde die Bedeutung der geistigen Schop
ferkraft bis auf einige Schwankungen in unserem Jahrhundert hoch gehalten, die
Wichtigkeit des Gedachtnisses und dessen Schulung wurde aber nur wenig beachtet.
Aus diesem Grund ist auch die Mnemonik, die Wissenschaft und Kunst der Mnemo
techniken, seit dem Mittelalter immer mehr in Vergessenheit geraten. Dabei hatte
sie die Menschheit nie notwendiger gebraucht als in unserem Jahrhundert, da der
Mensch, urn weiterzubestehen, eine ungeheure Fulle von Kenntnissen zu erinnern
und zu bewaltigen hat. Mnemonik war ein Teil der Rhetorik, die ebenfalls in Verges
senheit, wenn nicht sogar - zu unrecht - in MiBkredit geraten ist; und es ist kein
Zufall, wenn Walter Jens, der gegenwartig bedeutendste Proponent dieser fast ver
gessenen Kunst, immer wieder auf die Wichtigkeit der Mnemonik hinweist.
Das vorliegende Buell verdankt seine Existenz einem Zufall: Jeanette Schulz,
Absolventin der Hamburger Hochschule fur Bildende Kunste, studierte auch
Neurowissenschaften. Bedrangt durch die Fulle von Bildern, die in ihr entstanden,
und durch ihre Befassung mit Hirnforschung uberzeugt von der Notwendigkeit
rationalen Denkens, stieB sie auf die Geschichte der Vorstellungen yom Denken und
damit auch aufjene der Mnemonik und gelangte so dazu, ihre eigene Ordnung der
sich aufdrangenden bildhaften Assoziationen zu entwickeln. Daraus entstand dieses
Buch, das dank dem Springer-Verlag Wien diese Ideen einem groBeren Kreis nahe
bringen konnte. Das Buch ist keineswegs als Lehrbuch gedacht; es bietet eine kurze,
amusant bebilderte Geschichte der Ansichten uber das Denken der vergangenen
zweieinhalb Jahrtausende und aufjeder Seite die von der Verfasserin entworfenen
bildhaften Vorstellung~n, die in ihr aufkamen, urn den dazugehorigen Text im Ge
dachtnis zu behalten. Diese phantasievollen, haufig bizarren, humorvollen Gebilde
zeugen nicht nur von uberschaumender Phantasie und Kreativitat, sondern unter
streichen auch, wie wichtig es ist, fur Gedachtnisstutzen moglichst irreale Gebilde
heranzuziehen.
Was diese Bilder auf keinen Fall sein wollen: eine Lernhilfe zur Erlangung eines
besseren Gedachtnisses.
H. Petsche
Einleitung
"Die Methode bestimmt, was wir behalten konnen:'
"Gedachtnistheorien und Mnemotechniken" - eine Einfuhrung - ist ein ProJekt aus dem geistigen Raum meines kunstlertsch
wissenschaftlichen Gesamtkonzeptes, den ich als "Offenes Labor" bezeichne. In unterschiedlichen Arbeits- und Untersuchungs
feldern uberprufe und beuge ich die Methoden, Handgriffe und Werkz8uge der Wissenschaft.lm Mittelpunkt meiner Betrachtungen
stehen Struktur, Ablauf und Merkmale von Entwicklungsprozessen, sowohl auf Ebene der Ontogenese als auch der kenntnisgewin
nenden Prozesse. Hier operiere ich an der Schnittstelle von Begrifflich-Fa~barem und Absurdem.
Auf diesen Seiten subsumieren sich meine bisherigen Untersuchungen der Konzepte von Gedachtnistheorien und Mnemotechniken
aus den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden. Die Arbeit ist in einen theoretischen (Blatt 1-27), einen praktischen (Blatt A-G)
und einen experimentellen Teil (Figur 0-26, ..Ei bis Armbanduhr") gegliedert.
Die Darstellungen auf den Blattern 1-27 geben einen Einblick in die Geschichte der Gedachtnistheorien psychlscherwie physischer
Natur und in die parallel dazu entwickelten Mnemotechniken.
Auf die im theoretischen Teil veranschaulichten Mnemotechniken beziehen sich im Anhang die Blatter A-G. Es sind Beispiele aus
meinen fruheren Arbeitsfeldern, in denen ich die Struktur und Organisation des Gedachtnisses sowie der Mnemotechniken kunstle
risch-wissenschaftlich untersuchte und ihre Anwendbarkeit in der Gegenwart uberprufte.
In den Figuren..Ei bisArmbanduhr" erprobe ich dieWirksamkeit einervon mirfavorisierten Mnemotechnik, der "Hilfsbild-Methode".
Hier werden Zahlen in Bilder verwandelt, die der Reihe nach mit den zu merkenden Fakten zu Gedachtnisbildern "umassoziiert"
werden, welche die schrittweise Erinnerung an die ursprunglichen Informationen erheblich erleichtern. In diesem Fall ist es der
theoretische Teil der Einfuhrung, den ich mit dieser Methode transformiere. So steht den Blattern 1-27 jeweils ein Gedachtnisideo
gramm gegenuber, das meine privaten Assoziationsstrategien veranschaulicht. Ein Beispiel: Das erste Hilfsbild, ein Ei (siehe Blatt F),
ist das Spielfeld, auf dem die Umcodierung der Fakten der gegenuberliegenden Seite (Blatt 1) stattfindet. Auf diesem Feld werden
jene Fakten - auch wieder beim..Ei" beginnend - Satz fur Satz in Gedachtniszeichen umgewandelt und auf dem ..Ei" angeordnet. Fur
die Leser ist der Erinnerungsweg durch die Zeichenwelten des Ideogramms mit Buchstaben markiert. (Beispielsweise werden die
neun Musen von den Zeichen f 1-9 reprasentiert.)
Die Assoziation ist eine "Gedankenfigur", die in allen Mnemotechniken wirksam ist. Je absurder das Ergebnis des Assoziations
vorganges, desto energiereicher ist der Affekt, der im Gedachtnisbild verschJusselt ist. Es ist jene Energie, die dann bei Bedarf den
Erinnerungsvorgang einleitet und tragt. Das Memorieren mit Hilfe von Bildassoziationen ist insofern sinnvoll, als ein gro~er Teil der
Gro~hirnrinde von den Verarbeitungszentren des visuellen Systems eingenommen wird. Neuere biochemische Untersuchungen
lassen darauf schlie~en, da~ neuronale Veranderungen, die als Ort fur eine Gedachtnisspeicherung angesehen werden, in den
letzten Stufen des Sehsystems zu finden sind.
Die Kanalisierungs-und Transformationsstrategien der Mnemotechniken sind schlicht gewebt und schnell zu verstehen. Der geistige
Aufwand besteht darin, die jeweilige Methode wie das Alphabet zu beherrschen. 1st eine Mnemotechnik erst einmal in Fleisch und
Blut ubergegangen, sind die Tore zu den skurrilsten Gedankengangen und Szenen geoffnet. Das Abenteuer kann beginnen.
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IN ~ER GRIELHISCHEN MYTHOL06IE WAR DEM GEDACHfNIS EINE 60ITH£IT IUGEORDNET. SIE HIE~ MNEMOSYNE.VON IHR£~i
NAMEN WIRD DER BE&RIFF >MNEMONIK ( AB6ELEITET. ER UMFAS5T DIE GESAMTH£IT ALLER MNEMOTE(HNIKEN.
ZEUS WOHNTE NEUN TAGE UND NA(HTE BEl IHR UN~ ZEUGTE DIE NEUN MUSEN (DIE ('OlTlNNEN PER GESCHICffTf,
DER TRAGODIE, DES EPOS,~ER KOMODIE,DER PANTOMIME,DES TANZES DER LYRIK,DER ASTRONOMIE UNf) DER
HUSIKJ. NACH DEM GLAUBEN DER GRIECHEN WURDEN AUS DER VERE\NIGUN6 VON KRAFT (ZEUS) UND GEDACHTNIS
(MNEHOSYNE) KREATIVIT'AT UND WISSEN GEBOREN.
UM 750 V. (HR. WURDE DAS ALPHABET ENTWICKELTEN SICH ZWEI bEDACHTNIS
ERFUNDEN. DIE KVLTURELLE USER ARTEN : DAS WORT -UND DAS SACH -
LIEFERUN6 DER G-RIECHEN FAND GEM"[HTNIS. BEIDE ARBEITETfN MIT
OBERWIE&END AUF ORALEM ~Eu DEM VISUHLfN VORSTELLUNfr5VER
STAlf. MNEMOTE(HNIKEN WAREN MUG-EN. ERSTERES V£RWAHRTf DIE
[IN FESTER BESTANDTEIL DER 'BILDER', DIE DURCH ETYMOLO
RHETORIK. DICHTER, SANHR &ISUlE ZERG-UEOERUN& DER
UNO VOLKSREDNER MA(HTEN WORTER &EWONNEN WURDEN. DIE
JfNE KUNST POPUL~"R. DIE DIN&E DES SACHITEOACHTNISm
FROHEN MNEMOTEtHNIKEN GA t.lURDEN VON STATUEN DOER
BEN DEH HlJRSINN VORRAN&. BILDERN VON &lrTfERN UND MEN
nXTE [,JURDEN UBER DEN (ABB.,1) SCHEN AUFBEWAHRT. DA~ EMOTIONEN
RHYTHMUS UND DEM ECHO DER LERN-UND G-EMCHTNISPROlESSE BE
WORTE MEMORIERT ( ENT5PREClIENO EINFLUSSEN, 1ST EINE ERKENNTNIS AUCH
AUCH KONSTRUIERT). AUS OEM 'ECHO' SCHON AUS JENER ZEIT.
AB8.:1
SIMON ID ES VON KEOS (S5"I,-'lSI,) WIRO AU5 DEM GRUNDE NUR DEN HALBEN KENNTLICHKEIT VERSTUMMELT, UNTER
AlS ERFINDER DER GEDi\CHTNIS PREIS FOR DIE OICHTUN6 ZAHLEN. ~EM SCHlfJf. DA SIMONIDES MIT HIL
KUNST ANGESEHEN. DER LEtlENDE ~IE ANDERE HALITE SOLLTE ER FE DER SITZORDNUN6 SEIN WERK
NACH RESULTIERTE DIE KUNSf AUS SI(H VON DEN IWILLlN6S!J·OlfERN BE· MEMORIERTE, KONNTE ER DIE TOTEN
DEN FOl6EN EINER KATASTROPHE. ZAHLEN LASSEN. NACH DIESEM VOR IDENTIFIZIEREN (Asu). IN SEINER
ANlA~ WAR EIN 6EDICHT,DAS ER AL5 FALL BESTELLTE EIN DIENER SIMONI SCJlRIFT>ARS MEMORATIVA< £..lIES ER
GAST ElNER TAFELRUNDE lU EHREN ~ES VOR DAS 6EBA"UDE. DORT WARTE1EN AUF DIE WICHTIGKEIT EINES PLAN
DES 6AST&EBERS }S KOPAS < UND DEN lWEI JUNGE MANNER. KAUM ~ ER M~~16 GEORDNETEN INHAlTS HIN: ALS
ZW/lllN6S6trlfERN >KASTOR UNO DRAU~EN, STOWE DAS &EMUDE EIN GEISTIGE BILDER ANGEORONET, DIE AN
POLLUX < VORTRU6. SKOPAS WOLLTE UKb BEGRUB DIE 6i\STE, ZUR UN- REALE DIN6E 6EHEFTET WURDEN.
ABU
GEDi{CHTNISTHEORIEN UND MNEMOTECHNIKEN I
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ERSTE SYSTEHATISCHE ANSHZE FOR DIE KORPERU(HE UND 6EISTIGE BASIS DES 6EDMHTN/SSES:
......
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....
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PARHENIDES AU5 [LEA (5~O-~80)
SAH DAS GEMCHTNIS ALS
' ~
EINE MIS(HUNG AUS HEI~
'011 ••••• I UND KALT -ODER HELl
• • • • DUNKEL AN. EIN VOlL
• • • KOMMENES GEDA'CHTNIS
SOLLTE AUF EINER AUS
. .. • If GEW06ENEN UND KON
'I11III ~ STANTEN VEKrEILUNG JENE~
FAKTOREN BASIEREN. DAS VEK-
6ESSEN BERUHTE AUF GEbEN
TEILIGEN f AKTOREN. (ASS.: 3/1)
ABB3 ABU
ALKMAION VON KROTON NAHM KAME JENE HIS(HUNG lUR
DAMALS AL5 fiNER ~ER ERSTEN RUHE, HArrE DAS 'WISSEN'® ZUR
SEKTIONEN VOR. ER ERKA.NNT~ FOLGE. blE SEELE (SL) SAH ER
DA~ SICH DAS 6EHIRN FUR IN DEN H'O'HLEN CH) DES bE
DIE SEH -HOR-RIECHWAHR~"",) HIRNS, ALS PNEUMA, ENT -
NEHMUNb VERANTWORTLICH HALTEN . DIESES PNEUMA
ZEIGTE AUS DER MIKHUNfr SOlLIE AUS DEN HOliLEN
DER SINNESWAHRNEHMUNbEN ZU DEN AUGEN HER-AUS
SOLLTEN DAS GEMCHTNI5 STROMEN. (A66.:5)
UND DIE VORSTELLUN6 RE
SULTlEREN&.
ABU
I GED;{CHTNISTHEORIEN UND HNEHOTE(HNIKEN I
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Description:Die geistige Schöpferkraft und das Gedächtnis sind unverzichtbare Vorbedingungen für das Wissen und die Kulturen der Welt. Während die Antike und das Mittelalter die große Bedeutung beider Faktoren noch klar anerkannte, wurde die Wichtigkeit des Gedächtnisses und seiner Schulung später immer