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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts
geschichte
Rechtsgeschichte
www.rg.mpg.de
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http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg3 Rg 2003 208–210
Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 3 (2003)
http://dx.doi.org/10.12946/rg03/208-210
Michael Stolleis
Geborene Verbrecher
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RainerMariaKiesow 12 WozuRechtsgeschichte?
FedericoGonzalezdelCampo 18 WozuJungeRechtshistoriker?
PeterGoodrich 23 Retrolution
PierreLegendre 33 Unequestioninterdite
KentLerch 38 DasVerschwindenderUnterschiede
VomNutzenundNachteildervergleichendenMethode
fürdieRechtsgeschichte
RealinoMarra 45 Dirittoestorianellesocietàdeltempoperduto
KenichiMoriya 49 DieStrukturderFrage:
»WozuRechtsgeschichte?«
JoachimRückert 58 WozuRechtsgeschichte?
VonNutzenundNachteilen,Gewinnspielenund
Problemgeschichten
ReinhardZimmermann 66 Gegenwartsbedeutung
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AldoMazzacane 70 Letteratura,processoeopinionepubblica
Leraccoltedicausecelebritrabelmondo,
avvocatierivoluzione
RainerMariaKiesow 98 DasExperimentmitderWahrheit
FolterimVorzimmerdesRechts
WernerGephart 111 DasCollagenwerk
Zursogenannten»Rechtssoziologie«MaxWebers
RebekkaHabermas 128 VonAnselmvonFeuerbachzuJacktheRipper
RechtundKriminalitätim19.Jahrhundert.
EinLiteraturbericht
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HassoHofmann 166 BereicherungdurchRechts-und
Staatsphilosophie
Ernst-WolfgangBöckenförde,GeschichtederRechts-
undStaatsphilosophie
MargritSeckelmann 168 JuristischeErinnerungsorte
UweWesel,Recht,UnrechtundGerechtigkeit.
VonderWeimarerRepublikbisheute
OliverRamonat 170 Überallundnirgends
HagenSchulze,EtienneFrançois(Hg.),
DeutscheErinnerungsorte
MarieTheresFögen 173 Sieküsstenundsieweinten
EgonFlaig,RitualisiertePolitik.
Zeichen,GestenundHerrschaftimAltenRom
RichardH.Helmholz 175 LawasStateBuilder
AlanHarding,MedievalLawand
theFoundationsoftheState
BettinaEmmerich 177 MehrLicht
MichaelMcCormick,OriginsoftheEuropeanEconomy.
CommunicationsandCommerceAD300–900
DanielFulda 179 ExempelderBesonderheit–Besonderheitstatt
Exempel
GerritWalther,AbtBalthasarsMission.
PolitischeMentalitäten,Gegenreformationund
eineAdelsverschwörungimHochstiftFulda
SusanneLepsius 182 Zeugnisse
Ralf-PeterFuchs,WinfriedSchulze(Hg.),Wahrheit,
Wissen,Erinnerung.ZeugenverhörprotokollealsQuel-
lenfürsozialeWissensbeständeinderFrühenNeuzeit
KentLerch 185 Gelehrten-Rotwelsch
AndreasGörgen,RechtsspracheinderfrühenNeuzeit
PeterBecker 187 Vermessenundverzeichnet
LucaMannori(Hg.),KatasterundmodernerStaat
inItalien,SpanienundFrankreich(18.Jh.)
ChristianJoerges 190 DasSchweigenderPrinzipien
SibylleHofer,FreiheitohneGrenzen?Privatrechts-
theoretischeDiskussionenim19.Jahrhundert
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MarcGrohmann 192 GewaltohneMonopol
PeterHanser,TrutzvonTrotha,Ordnungsformen
derGewalt
FrancescoPelloni 194 »Uncoupleétrange«–Droitetlittérature
Droitetlittérature.Europe–Revuelittérairemensuelle
n.876
OliverM.Brupbacher 197 Rinascimento
StefanMeder,Rechtsgeschichte.EineEinführung
ChristineFranzius 199 AusweitungderKampfzone
BerndWeisbrod(Hg.),AkademischeVergangenheits-
politik
ThomasWetzstein 202 ImEuropa-Rausch
MichaelBorgolte,EuropaentdecktseineVielfalt
MichaelMitterauer,WarumEuropa?
MittelalterlicheGrundlageneinesSonderwegs
StephanieSteinle 206 Teethingtroubles…?
PhilippCasparMohr,»KeinRechtzurEinmischung«?
MichaelStolleis 208 GeboreneVerbrecher
RichardF.Wetzell,InventingtheCriminal.
AHistoryofGermanCriminology1880–1945
FrankSaliger 210 GustavRadbruch(system-)theoretisch
aufbereitet
HannoDurth,DerKampfgegendasUnrecht
MarieTheresFögen 214 ZweiKochbücherundeinMenü
FrankBecker,ElkeReinhardt-Becker,Systemtheorie.
EineEinführungfürdieGeschichts-undKulturwissen-
schaften
MargotBerghaus,Luhmannleichtgemacht.
EineEinführungindieSystemtheorie
Hans-JoachimGiegel,UweSchimank(Hg.),
BeobachterderModerne.BeiträgezuNiklasLuhmanns
»DieGesellschaftderGesellschaft«
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MarieTheresFögen,MichaelKempe 218 NachHause…
OsvaldoCavallar 223 IlTeveresfoccianell’Arno
SigismondoCoccapanieilproemioaltrattatoTiberiadis
diBartolodaSassoferrato
MartinKorte 232 AufdenHundgekommen
MichaelTomasello,DiekulturelleEntwicklung
desmenschlichenDenkens
ThorstenKeiser 236 Dr.PornoMax
BennoHurt,DerSamtderRobe.
ErzählungenausderJustiz
MartinOtto 238 Premiere
IringFetscher 240 Kriegerdämmerung
FranzvonLisztundderErsteWeltkrieg
Abstracts 251
Autorenverzeichnis 263
Abbildungsverzeichnis 264
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Geborene Verbrecher*
Wer an die allmähliche Verbesserung der sorglich einsperren kann. Also erwägt man (ne-
Menschheit durch den »Fortschritt« glaubt, benanderenSchutzmaßnahmen)derenSterilisa-
muss das immer wieder auftauchende Verbre- tion.Wennes»geboreneVerbrecher«gibt,dann
chen für die letzte Bastion des Irrationalen hal- sollte sich doch, so meinte man, wenigstens auf
ten. Je mehr man über Kriminalität weiß, desto diesemWegdienächsteGenerationdieseruner-
größer wird die Herausforderung ihrer Beseiti- wünschtenVariantedesMenschseinsverhindern
gung. Seit der Mitte des fortschrittstrunkenen lassen.
19. Jahrhunderts entsteht deshalb nichtnur der RichardWetzellzeichnetmitdenMittelnder
Kriminalroman, sondern es bemächtigen sich modernenWissenschaftsgeschichtenach,wiedie
auch die Naturwissenschaften des Verbrechens mit Cesare Lombrosos »L’uomo delinquente«
und der Verbrecher. Das Rätsel Kriminalität (1878)einsetzendeeuropäischeDebatteüberdie
scheintlösbardurchBiologie,Medizin,Eugenik UrsachendesVerbrechensschrittweisedasneue
undPsychiatrie.Schädelwerdenvermessen,man FachderKriminologiehervorgebrachthat.Was
sucht Merkmale für »geborene Verbrecher«, sich im Laufe der Jahrzehnte in der Interaktion
streitetumdieMerkmale»geistigerMinderwer- von Vererbungstheoretikern, Physiologen, Psy-
tigkeit«undkombiniertdiesmitKriminalstatis- chiatern, Soziologen, Statistikern, Gefängnisdi-
tikenundMilieustudienderbeginnendenSozio- rektorenundJuristenkonstituierte,zerlegtesich
logie. Die Juristen spüren, dass der ganze bald in einen biologischen und einen soziologi-
Sanktionsapparat von Schuld und Vergeltung schen Strang. In Deutschland favorisierte man
durch die Aufdeckung determinierender Fakto- allerdings stärker als anderswo biologistische
ren ins Wanken kommt. Setzen sie nicht mehr Erklärungen. Von ihnen war, wie man später
auf die Freiheit, sondern auf den Schutz der sehensollte,derWegzumenschenverachtenden
Gesellschaft,dann haben sie Schwierigkeiten zu und mörderischen Konsequenzen nicht weit.
begründen, dass der Schutz irgendwo aufhören Aber Wetzell huldigt keiner neuen Sonderwegs-
muss,damannichtalle»Minderwertigen«vor- these.Wederrechtfertigter,nochklagteran;er
* RichardF.Wetzell,Inventing
theCriminal.AHistoryofGer-
manCriminology1880–1945,
ChapelHillandLondon:
TheUniversityofNorthCarolina
Press2000,XIV,348S.,
ISBN0-8078-2535–2
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Stolleis,GeboreneVerbrecher
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berichtetvielmehrsorgfältigvondenvielfältigen abergewissermaßen»entfesselt«.Nebenmetho-
natur- und sozialwissenschaftlichen Versuchen, disch einwandfreien kriminologischen Unter-
der Kriminalität auf die Spur zu kommen. Das suchungen der Kriminalsoziologie breitete sich
beginnt mit Körpermerkmalen, etwa in Galls dieKriminalbiologieaus,undbeideverschafften
Schädellehre,gehtdannzurdeutschenRezeption sich zunehmend Gehör vor Gericht. Die For-
vonLombroso,zuFranzvonLisztsneuemstraf- schung wurde vielstimmig und kontrovers – bis
rechtlichenParadigmades»SchutzesderGesell- mit dem Machtantritt des Nationalsozialismus
schaft«undzurPsychiatrieEmilKraepelinsund die radikale Zweckorientierung siegte. Die bio-
Gustav Aschaffenburgs. Schrittweise erkennt logistische und die rassistische Linie vereinten
man die Begrenztheit von Lombrosos Ansatz, sichnun,währenddieempirischeKriminalsozio-
kombiniertbiologischeTheorienüberDegenera- logiezusammenmitderSoziologieinsgesamtan
tion mit sozialen Theorien, unterscheidet endo- Boden verlor, aber keineswegs gänzlich unter-
geneundexogeneFaktorenundverlässtlangsam ging.
das philosophische Erbe des deutschen Idealis- DasBuchvonWetzellhatseineStärkedarin,
mus. Insgesamt wächst die Skepsis gegenüber dass es die nun folgenden personellen Verdrän-
spekulativen Erklärungen, aber es wächst auch gungen,dieflinkenAnpassungen(EdmundMez-
paralleleinneuerWissenschaftsglaubean»Fak- ger,FranzExner),dieMachtergreifungderAnti-
ten«undStatistiken. semiten(ArthurGütt,ErnstRüdin,FalkRuttke,
Zwischen 1880 und 1914 bildeten sich die Johann von Leers, Wilhelm Kranz, Siegfried
inneren Markierungen des neuen wissenschaft- Koller), aber auch die Fortführung empirischer
lichenKomplexes.DieKriminalpsychologieent- Ansätze im neuen Kontext (Friedrich Stumpfl,
stand, der strafrechtliche Schulenstreit wurde Hans Gruhle) sorgfältig in einer Weise analy-
vermittelt, immer tiefer setzte sich die »wissen- siert, wie dies bisher nicht geschehen ist.
schaftliche« Überzeugung fest, das Verbrechen Stumpfls Studien zu kriminellen und psycho-
sei zwar schwer nachweisbar, aber irgendwie pathischen Zwillingen etwa verliefen parallel
»auch«biologischbedingt.Handelteessichum zu den Zwillingsstudien im Kaiser-Wilhelm-
genetische Defekte, dann wankte zwar der InstitutfürAnthropologie,menschlicheErblehre
Schuldbegriff, aber die damit verbundene Ver- und Eugenik in Berlin-Dahlem. Kein Zweifel,
unsicherung führte nicht einseitig zur Zurück- dass alle diese Studien über »Minderwertige«,
drängungdesstrafendenStaates.Vielmehrfavo- »Schwachsinnige«, »Verbrecher aus Anlage«,
risiertenvielegeradedeshalbdieTodesstrafeund »Asoziale«, »Gemeinschaftsunfähige«, »Zigeu-
vor allem die Sterilisation. Die hier aufgestaute ner« und andere Gruppen den Weg bereitet
gefährliche Mischung von Fortschrittsglaube, haben, den diese Menschen dann in die Eutha-
biologistischemSauberkeitswahnundGewaltbe- nasieanstalten und Vernichtungslager gehen
reitschaftgegendieNormabweichungwurdebis mussten.WasdasBuchmitseinerKonzentration
1914 noch gebändigt durch den bürgerlichen aufdieKriminologieabernichtleistenkann,ist
Rechtsstaat. Nach dem Weltkrieg, der das Aus- die Verknüpfung dieser Szene mit der akademi-
nahmerecht zum Normalfall gemacht, der den schen Strafrechtsdogmatik oder was von ihr
Moralkodex zerbrochen und die Kriminalität übrigblieb. Deren Verbiegung und Destruktion
angeheizthatte,setztensichdieLinienzwarfort, ist eine eigene Geschichte. Aber die drei Ge-
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schichten der Kriminologie, der Dogmatik und ten hatund bereitist, die inzwischen eingehend
der Todesmaschinerie müssten parallel erzählt erforschten mörderischen Konsequenzen dieser
werden, damit die ständigen Koppelungen von auf Zwecke programmierten Kriminalbiologie
DenkenundTundeutlicherwürden. hinzuzudenken. Auch wenn es erhebliche Ein-
Immerhin zeigt Wetzell in den abschließen- wände gegen die Sonderwegsthese gibt, so ist
den Kapiteln, wie das NS-Strafrecht auf eine doch nicht zu leugnen, dass die biologischen
harteLinieumgesteuert,wiediealteDiskussion ErklärungsmusterinDeutschlandsichbesonders
um die Sterilisation mit dem »Gesetz zur Ver- stark entwickelt und in der Welt der Alltags-
hütung erbkranken Nachwuchses« fast un- theorien die Herrschaft übernommen hatten.
mittelbar umgesetzt wurde und wie die Erb- Insofern fiel es den Nationalsozialisten leicht,
gesundheitsgerichte funktionierten. Er weist das Arsenal der seit 1880 entstandenen wissen-
auch darauf hin, dass das nur schwach tabui- schaftlichenVorarbeitenzuplündernsowieMe-
sierteSterilisationsprogrammweithinakzeptiert dizinerundJuristenzufinden,diesichmitEifer
wurde und öffentlich ablief, im Gegensatz zur ans Werk machten, um das umzusetzen, was
heimlichen Tötung Geisteskranker durch »Eu- ihnen eine vermeintlich »schlappe Justiz«, eine
thanasie«. Wetzell hat ein wichtiges Stück Wis- zur Dezision nicht fähige Demokratie und ein
senschaftsgeschichte geschrieben, dessen bishe- »liberalistischer«Rechtsstaatversagthatten.
rige Vernachlässigung der Leser erst begreift,
wennerdasTerrainmitdemAutordurchschrit- MichaelStolleis
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