Table Of ContentConditio Judaica  61 
Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte 
Herausgegeben von Hans Otto Horch 
in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing
Ruth Oelze 
Funkensuche 
Soma Morgensterns Midrasch 
»Die Blutsäule« und der jüdisch-
theologische Diskurs über die Shoah 
Max Niemeyer Verlag 
Tübingen  2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek 
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet  diese Publikation  in der Deutschen  Nationalbibliografie; 
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de  abrufbar. 
ISBN 13: 978-3-484-65161-6  ISBN 10: 3-484-65161-X  ISSN 0941-5866 
(Ö Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 
Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München 
http://mrw.memeyer.de 
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb 
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und 
strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die 
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. 
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. 
Druck: Laupp & Goebel GmbH, Nehren 
Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhalt 
1  »Funkensuche« nach der Shoah  1 
1.1  Soma Morgensterns Leben und Werk  8 
1.2  Morgenstern als deutsch-jüdischer Schriftsteller  19 
2  Exilliteratur  25 
2.1  Flucht in Frankreich  32 
2.2  Morgenstern und der deutschsprachige Literaturmarkt  36 
3  Shoahliteratur  43 
3.1  »Wo nur finden die Worte ...«  53 
3.2  Sprachlosigkeit und Sprachbewältigung  59 
4  Zachor! Geschichtsbewußtsein im Judentum  71 
4.1  Theologie und Literatur nach Auschwitz  75 
4.2  Die chassidische Mystik bei Morgenstern  90 
4.3  Das Opferverständnis in Die Blutsäule  97 
5  Die Gerichtsverhandlung  105 
5.1  Die Geschichte des Toraschreibers  124 
5.2  Mechzio  131 
5.3  Die Zöllner  140 
5.4  Der Schuldspruch gegen Europa  145 
6  Exodus — Shoah — Erlösung  155 
7  Schlußbemerkung  167 
8  Literaturverzeichnis  171 
9  Danksagung  185 
10  Personenregister  187
1  »Funkensuche« nach der Shoah 
Das ist unser letztes Blut, das ist unser letztes 
Gebet, das ist unser letztes Wort, das ist unser 
letztes Aufgebot. Mehr haben wir nicht.1 
Die Shoah als finales Martyrium, die Millionen Toten als Opfer für den Beginn 
der Erlösung: das ist Soma Morgensterns verzweifelte messianische Interpreta-
tion der Vernichtung der europäischen Juden. Die Blutsäule. Zeichen und Wun-
der am Sereth ist die Sinnsuche eines Gläubigen, ist Klage und Anklage und 
die feierliche Begrüßung des Staates Israel als Hoffnungsschimmer, als »Fun-
ke im Abgrund«2 des jüdischen Leids. 
Morgenstern wollte und mußte ein »Totenbuch«  schreiben, er begann die 
Arbeit unmittelbar nach Kriegsende im amerikanischen Exil, quälte sich über 
Jahre  mit  seiner  Sprach-  und  Schreiblähmung  und  vollendete  das  Werk 
schließlich 1953 nach einem Israel-Aufenthalt. Entstanden ist ein »Midrasch«,3 
ein in Inhalt und Erzählstruktur zutiefst in der jüdischen Kultur verwurzeltes 
religiöses Bekenntnis - in deutscher Sprache. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte 
sich der mehrsprachig aufgewachsene galizische Schriftsteller in seiner Kunst 
für die »Sprache der Gebildeten«4 entschieden und behielt sie bei. Zwar be-
mühte er sich hier um eine ganz eigene Konstruktion in Anlehnung  an die 
Sprache der Bibel, doch blieb sie gleichzeitig  die Sprache  der  »verhaßten« 
Täter.5 Fünfzig Jahre nach seiner Entstehung bereichert dieses Werk die deut-
sche Shoahliteratur nun um eine besondere Facette. 
Wie viele Exilanten ist Morgenstern nach der Vertreibung, dem Bruch in 
der Biographie, auf der Suche nach seiner Identität, dies zeigen sowohl der 
1  Soma Morgenstern: Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth. Hg. von Ingolf 
Schulte. Lüneburg: Zu Klampen 1997 (Werke in Einzelbänden), S. 144. 
2  Dieser Ausdruck aus der chassidischen Mystik wird im folgenden erläutert. 
3  Das hebräische Wort »Midrasch« bedeutet soviel wie »Auslegung« in Form  einer 
Geschichte. Abraham J. Heschel, amerikanischer Professor am Jewish  Theological 
Seminary und Förderer Morgensterns, sah eine solche in »Die Blutsäule« (vgl. Al-
fred Hoelzel: Soma Morgenstern. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Hg. 
von John M. Spalek und Josef Strelka. Bd 2, New York, Bern: Francke 1989 [Studi-
en zur deutschen Exilliteratur], S. 675). 
4  Dies war die Meinung seines Vaters, der allen seinen Kindern Deutsch  beibringen 
ließ (vgl. Soma Morgenstern: In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien. Hg. 
von Ingolf Schulte. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1999, S. 86). 
5  Vgl. Soma Morgenstern: Kritiken - Berichte -  Tagebücher. Hg. von Ingolf Schulte. 
Lüneburg: Zu Klampen 2001 (Werke in Einzelbänden), S. 648.
2  1. Die »Funkensuche«  nach der  Shoah 
innere Kampf um die richtige Sprache und der letztlich gewählte Sprachstil als 
auch der Inhalt. Halt findet er schließlich in der chassidischen Mystik und im 
traditionellen Glauben, in dem er erzogen wurde. Nachdem er zuvor den Zio-
nismus als eine Anpassung der Juden an den Nationalismus der Völker emp-
fand,6 wendet er sich in Die Blutsäule  von Europa ab und sieht in Israel  die 
alte und neue Heimat  des jüdischen  Volkes. Doch wirkt diese Sicht auf die 
Geschichte  stark konstruiert, und  sein weiteres Leben  und  Schaffen  zeigen, 
daß ihm selbst ein solch radikaler Neuanfang nicht gelungen ist. Er beschäftigt 
sich in den verbleibenden dreißig Jahren seines Lebens mit den Aufzeichnun-
gen seiner Erinnerungen an Europa und seine Freunde, und er schreibt weiter 
auf Deutsch, obwohl keines seiner Werke im eigenen Sprachraum  angemessen 
gewürdigt oder publiziert wird.7 Er wandert nicht nach Israel aus, sondern wird 
amerikanischer Staatsbürger und sieht die USA als neue Heimat an, doch gibt 
sie ihm offensichtlich kaum eigene künstlerische Impulse. Er bleibt, so scheint 
es, ein gebrochener Mensch und lernt, mit den Widersprüchen zu leben. 
Die Begriffe Religion, Sprache und Identität miteinander in Beziehung zu 
setzen, hilft bei der Annäherung an diesen befremdenden Roman. Denn nicht 
nur  in Morgensterns  Gesamtwerk  nimmt  Die  Blutsäule  eine  Sonderstellung 
ein.8 Bei einem ersten Blick auf die bekannte deutsche Shoahliteratur läßt sich 
kaum  eine  vergleichbare  Deutung  der  Ermordung  der  europäischen  Juden 
finden. Das große »Kaddisch«  für die Opfer der Shoah wirkt isoliert  in  der 
Fülle der Literatur über den Judenmord, in einer Rezension heißt es sogar, daß 
es »als ein Roman  [...] die Kategorien  des Genres  [sprengt] und  [...] sich in 
seiner tiefen Religiosität der literarischen Kritik [entzieht]; es ist erhaben über 
jede Ästhetik, da es zu sehr im Religiösen verwurzelt ist.«9 
Die Bewertungsmaßstäbe  und  ästhetischen  Ansprüche  an  Shoahliteratur10 
sind von Anfang an diskutiert worden, und  die »Darstellungsgebote«  haben 
6  Vgl. Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen. Hg. von Ingolf 
Schulte. 2. Aufl., Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1998, S. 35. 
7  Aus dem amerikanischen Exil bemühte sich Morgenstern immer wieder um einen deut-
schen Verleger fur seine Werke. 1963 wurde schließlich eine gekürzte und bearbeitete 
Version des letzten Teils der Trilogie unter dem Titel »Der verlorene Sohn« publiziert. 
»Die Blutsäule« wurde  1964 vom österreichischen Hans Deutsch Verlag veröffent-
licht, jedoch, wie Ingolf Schulte feststellte, in einer »wenig sorgsamen Ausgabe« (vgl. 
Ingolf Schulte: Nachwort des Herausgebers. In: Morgenstern, Die Blutsäule (Anm. 1), 
S. 191. Auch weil sich der Verlag wenig einsetzte, blieb das Echo zurückhaltend. 
8  Vgl. ebd., S. 175. Schulte, Wiederentdecker und sorgfältiger Herausgeber der Schriften 
Soma Morgensterns, nennt »Die Blutsäule« das »wohl dichteste, das schwierigste und 
das fremdeste unter seinen Werken«. Sowohl die Romantrilogie, die zwischen  1930 
und 1943 entstand, als auch die fragmentarischen Erinnerungsberichte werden im fol-
genden kurz vorgestellt. 
9  Ulrich Seiich: Totenbuch und Buch der Hoffnung. In: Handelsblatt, 30. Januar 1998. 
10 Den Begriff Shoahliteratur verwende ich hier und im folgenden allgemein fur Litera-
tur, die die Shoah als zentrales Thema behandelt; als Oberbegriff umfaßt er also so-
wohl Zeugnisse von Überlebenden als auch fiktionale Texte von Zeitzeugen oder Nach-
1. Die »Funkensuche«  nach der Shoah  3 
sich in den letzten Jahrzehnten  verändert, doch die zentralen  Fragestellungen 
bleiben: Wie verarbeitet man literarisch ein Ereignis, das so viele unschuldige 
Opfer forderte, mit welchem Verständnis von Gott, vom Sinn des Lebens, vom 
Gang der Menschheit lebt man weiter? Auschwitz ist 
[...] nicht einfach ein Stück Geschichte [...], das in absehbarer Zeit in den Bereich 
des Vergangenen  abgehen  könnte ... Es hat vielmehr mythische Qualität. Wie die 
Sintflut, wie der Auszug aus Ägypten, wie Christi Tod - oder wie auch (in anderem 
Maßstab) die Französische Revolution,  wie für unsere Eltern und auf kurze Zeit 
Verdun, wie auf hoffentlich lange Zeit Hiroshima. Und es überragt all diese anderen 
Monumentalereignisse von mythischer Qualität um einiges.11 
Nicht zufällig hat der Historiker Christian Meier biblische Ereignisse und Kata-
strophen aus der Geschichte des jüdischen Volkes zur Illustration zuerst  ange-
führt. Diese Shoah unterscheidet sich deutlich von den anderen  Diskriminierun-
gen,  Verfolgungen  und Pogromen,  denen  Juden  in den  letzten  Jahrhunderten 
immer wieder ausgesetzt waren. Die jüdische Katastrophe des 20. Jahrhunderts 
bedrohte das »Volk der Geschichte« ganz existentiell -  diesmal gab es nicht die 
Möglichkeit der Taufe, keine Wahl, die das Überleben ermöglicht hätte. In einer 
Kultur und Tradition, die sich hauptsächlich  durch Erinnerung und  Gedächtnis 
definieren,12 wird die Frage nach dem Gedenken der Shoah und die Einordnung 
des Genozids seit über fünfzig Jahren ganz elementar  diskutiert. Die  Literatur 
kann sich freier als die Theologie mit der Frage nach der Deutung des Gesche-
hens beschäftigen, und da im Judentum Wissen und Erkenntnis schon immer in 
Erzählungen,  in der  Schrift tradiert wurden,  ist die besondere  Bedeutung  der 
Shoahliteratur, auch für das Gottesbild, nicht zu unterschätzen. So steht für Ye-
rushalmi außer Zweifel, daß das Bild der Shoah »nicht am Amboß des Histori-
kers, sondern im Schmelztiegel des Romanciers geformt wird«.13 
Doch was ist die angemessene  Form des Schreibens über die Shoah?  Die 
vielfach postulierte Unverstehbarkeit des Geschehens hat im nachhinein zu der 
von Meier angesprochenen Mythisierung geführt: Für das, was man nicht ver-
stehen kann, kann man auch keine angemessenen Worte finden. So ist eine Art 
Konsens entstanden über die Unaussprechlichkeit11  dessen, was geschah.  So-
geborenen. In die nähere Betrachtung kommen in dieser Arbeit allerdings nur Beiträge 
jüdischer Autoren. 
11  Christian Meier: Zur deutschen Geschichtserinnerung nach Auschwitz. In: Modern 
Age - Modern Historian. In Memoriam György Ranki. Hg. von Ferenc Glatz. Buda-
pest: Institute of History of the Hungarian Acad, of Sciences 1990, S. 367-380, hier 
S. 379. 
12 Abraham I. Heschel definierte: »Glauben bedeutet: sich erinnern«, hier zit. nach 
Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im 
Judentum nach Auschwitz. 2. Aufl., Gütersloh: Kaiser 1996, S. 24. 
13 Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches 
Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1988, S. 104. 
14 Hier muß man zwischen Opfer- und Täterliteratur unterscheiden, denn das Schweigen 
auf der Täterseite hat eine ganz andere Bedeutung als in diesem Zusammenhang. Zur 
Täterliteratur vgl. auch  die Untersuchung  von  Ernestine  Schlant: Die  Sprache  des
4  1. Die »Funkensuche«  nach der  Shoah 
ma Morgensterns  Schreiblähmung, die er in dem vorangestellten  Motivenbe-
richt  beschreibt,  korrespondiert  mit  den  uns  bekannten  Erfahrungen  von 
Schriftstellern und Dichtern  wie Elie  Wiesel,  Paul  Celan, Nelly  Sachs  und 
anderen, die ebenfalls versuchten, das Unverstehbare in Worte fassen. Der fur 
den  oben  zitierten  Rezensenten  so  irritierende  religiöse  Bezugsrahmen  von 
Morgensterns Geschichte ist insofern direkte Folge der Konstanten von Unver-
stehbarkeit und Unaussprechlichkeit, Christoph Münz stellt fest: 
Die  epistemologische  und  hermeneutische  Problematik  dieses Postulats  [...] wird 
vornehmlich in ihrer Beziehung zum Problem der Sprache und des Schreibens über 
den Holocaust zu bedenken sein. Von hier aus ergeben sich dann teilweise überra-
schende Bezüge zwischen der Unverstehbarkeit  des Holocaust  und der  religiösen 
Frage an ihn.15 
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die Beschwörung einer transzen-
denten Ebene geradezu  typisch  ist fur Shoahliteratur. Und  da  Beschreibung 
illustrieren muß, sind biblische Motive, Bilder aus der Zeit der Existenzgrö«-
dung,  die sich  anbietende Form  des Gedenkens  an ein  existenzbedrohendes 
Ereignis wie die Shoah. Dabei muß es sich keineswegs gleichzeitig um solch 
starke Glaubensbekenntnisse  handeln wie bei Morgenstern,  so sei  beispiels-
weise auf das verstärkte Auftreten des Hiob-Motivs in der Literatur über den 
Judenmord hingewiesen: Das Hadern mit Gott, das In-Frage-stellen der göttli-
chen Gerechtigkeit hat Tradition und ist im Judentum Teil des Gesprächs mit 
Gott. Denn,  so Morgenstern,  Juden  sind  immer Gläubige:  »Even  if he's  an 
atheist, he believes in atheism.«16 Läßt man also auch gebrochene  Gottesbil-
der, biblische Metaphern und Anspielungen gelten, erscheint die im jüdischen 
Glauben wurzelnde Aussage von Die Blutsäule  zwar besonders radikal, aber 
durchaus nicht einzigartig. 
Im Verlauf dieser Arbeit werden der religiöse wie zeitgeschichtliche und li-
terarische Hintergrund von Morgensterns Werk aufgezeigt und in die bekann-
ten Diskurse zum Thema eingeordnet. Zunächst werden  Soma  Morgensterns 
Leben und seine Werke vor und während seines lebenslänglichen Exils kurz 
vorgestellt; dies wird hauptsächlich anhand seiner Erinnerungsschriften gesche-
hen. Da  der  Schwerpunkt  dieser  Untersuchung  auf der spezifisch jüdischen 
Interpretation  der  Shoah  und  den Bedingungen  für das  Schreiben  über  den 
Judeozid liegt, folgt eine Betrachtung der Besonderheiten von Exilliteratur im 
jüdischen Kontext. 
1964 gelang  es Morgenstern,  nach  langer  Suche  einen  Verleger  für  Die 
Blutsäule  zu finden; warum das Werk damals kaum Beachtung fand und auf 
welchen Leserkreis es damals stieß, soll in einem kurzen Abriß über die Re-
zeption von Shoahliteratur in Deutschland illustriert werden. 
Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001. Sie un-
terscheidet zwischen Be- und Verschweigen. 
15 Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben (Anm. 12), S. 28. 
16  Israel Shenker: Morgenstern. In: Present Tense, 1 (1973/74) Nr 3, S. 6.