Table Of ContentManfred Beetz
Frühmoderne
Höflichkeit
Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale
im altdeutschen Sprachraum
FRÜHMODERNE HöFLICHKEIT
Manfred Beetz
Frühmodeme Höflichkeit
Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale
im altdeutschen Sprachraum
J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung
Stuttgart
GERMANISTISCHE ABHANDLUNGEN 67
1988 redigierte Fassung der an der Philosophischen Fakultät
der Universität des Saarlands eingereichten
Habilitationsschrift von 1986
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Beetz, Manfred:
Frühmoderne Höflichkeit: Komplimentierkunst und
Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum I Manfred Beetz.
- Stuttgart: Metzler, 1990
(Germanistische Abhandlungen; Bd. 67)
NE:GT
ISBN 978-3-476-00723-0
ISBN 978-3-476-03333-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03333-8
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© 1990 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1990
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG: THEMENSTELLUNG UND
FORSCHUNGSPROBLEME
1. Historische und aktuelle Relevanz des Themas
2. Aufgabenstellung, Methodik und Probleme 7
3. Thematischer Umfang der Untersuchung 14
3.1 Reden und Handeln 14
3.2 Mündliche und schriftliche Komplimente 19
4. Rezeptionshaltungen der Forschung 22
TEIL I:
GATTUNGSFRAGEN IM KONTEXT
DES LITERARISCHEN LEBENS
1. Genres gesellschaftsethischer Literatur 32
1.1 Gesellschaftsethische Verhaltensregulierungen im Umkreis
der Anstandsliteratur 32
(a) Ständelehren 33
(b) Klugheitsiehren und politische Breviere 36
(c) Ökonomik, Familienbuch, Ehespiegel und Predigten über den
christlichen Hausstand 38
(d) Elterliche »Testamente«, fürstliche Erziehungsinstruktionen 42
1.2 Genres der Anstandsliteratur 44
(a) Anstandsbücher 44
(b) Hofmeisterlehren 48
(c) Hofschulen 49
(d) Tischzuchten und antigrobianische Satire 52
1.3 Kommunikationslehren 54
{a) Gattungshistorische Probleme des Komplimentierbuchs 54
(b) Phänotypen des Komplimentierbuchs 56
(c) Konversationsbücher 64
2. Produzenten und Publikum des literarischen Marktes 71
2.1 Suchbild des gesellschaftsethischen Autors 72
(a) Schichtzugehörigkeit, Herkunft, Berufe der Autoren 72
(b) Konfessionelle und regionale Distribution 78
( i) Konfessionszugehörigkeit 78
(ii) Regionale Verteilung und Zirkelbildungen 83
(c) Anonyme Verfasser, Filiationen 89
Inhaltsverzeichnis
2.2 Adressatenorientierungen in funktionsgeschichtlicher Sicht 94
(a) Intendiertes Publikum und Verwendungszusammenhänge 94
(b) Reale Verbreitung, Auflagenzahl 104
TEIL II:
THEORIESKIZZE DES GALANTEN
HÖFLICHKEITSDISKURSES
1. Definitionen und Verwendungen des Complimentbegriffs
im Barock 109
1.1 Begriffsexplikation 109
1.2 Kontrastive Begriffsbestimmung gegenüber verwandten Text-und
Handlungsarten 115
(a) Texte mit rechtsverbindlichem Charakter 116
(b) Zur Differenz von Höflichkeit und Zeremoniell 121
(c) Kompliment und Komplimentierrede 125
(d) Schmeichelei und Imagearbeit 129
2. Strukturmerkmale verbaler Höflichkeitsrituale 130
2.1 Grundstruktur barocker Komplimente 131
2.2 Inhalts-und Beziehungsebene von Komplimenten 135
(a) Lügen Komplimente? 135
(b) Phatische Kommunikation 138
2.3 Grade der Obligiertheit von Anstand, Höflichkeit, Takt 141
2.4 Notwendige Theatralik 147
(a) Fiktionalität und Überschwenglichkeit des Höflichkeitsaustausches 147
(b) Theaterarbeit 151
2.5 Perspektivenübernahme 156
(a) Antizipationen 156
(b) Perspektivenpotenzierung und Meta-Perspektiven 158
(c) Interessenverschmelzung 160
(d) Konformität mit dem Adressaten 161
2.6 Symbolisierungsleistungen und Überexplizitheit 163
(a) Expressivität und Ausführungsweise kommunikativer Handlungen 164
(b) Überexplizitheit 166
3. Funktionen des Anstands- und Ehrerbietungsverhaltens 168
3.1 Sozialpsychologische und emotionale Funktionen 168
3.2 Kognitive und kommunikative Leistungen 171
(a) Verstehensleistungen 171
(b) Kommunikative Funktionen 173
3.3 Didaktik des Compliments 174
3.4 Soziale Ordnungsfunktionen von Anstands-und Interaktionsnormen 177
(a) Konstruktion sozialer Harmonie 177
(b) Soziale Distinktion 180
Inhaltsverzeichnis
3.5 Politische Funktionen 185
(a) Staats-und gesellschaftspolitische Funktionen von Höflichkeit
und Zeremoniell 186
(b) Der privatpolitische Nutzwert der Höflichkeit 188
3.6 Ökonomisch profitable Höflichkeit 191
3.7 Zur ästhetischen Komponente der Konvenienz 194
(a) Die positive Ästhetik der Anstands-und Höflichkeitskultur 195
(b) Der vermiedene Anstoß und die Equilibristiknorm 197
4. Verbale »Complimentir-Kunst« 200
4.1 Sprachregelungen des sozialständischen Decorum 200
(a) Soziologie des Schriftbildes und der Textpräsentation 201
(b) »Constructio politica« 205
(c) Sozialsemantik 208
4.2 Strategien und Techniken sprachlicher Insinuation 210
4.2.1 Aufwertung des Adressaten-Selbstabwertung des Sprechers 211
4.2.2 Angezeigte Einstellungen 219
(a) Syntaktische Ehrerbietung 219
(b) Verbundenheit und Wohlwollen 221
4.3 Maßnahmen des Imageschutzes 222
(a) Adressatenschutz 222
(b) Sprecher-und Adressatenschutz 232
4.4 Reduktionen: Grundaxiome der Höflichkeit
und davon abgeleitete Regeln 234
4.4.1 Die Balance zwischen der Aufrechterhaltung
des eigenen und fremden Image 235
4.4.2 Die »goldene Regel« 239
4.4.3 Die Heteronomie der »Ehre« 241
TEIL III:
HISTORISCHE TRANSFORMATIONEN DES
HÖFLICHKEITSDISKURSES
VOM 16. ZUM 18. JAHRHUNDERT
1. Politische, soziologische, sozialgeschichtliche Impulse für die
Formierung und den Wandel des Decorum im 17. Jahrhundert 243
Der Hof als modellbildende Institution, Salonkultur 246
Soziale Distinktion als Innovationsantrieb 248
Politische Auslöser der Titelinflation 249
Reaktionen auf den Dreißigjährigen Krieg
und auf Rechtsunsicherheit 252
Diplomatie und soziale Mobilität im Absolutismus 256
2. Historizität der Selbst- und Fremdachtung in Status
konstellationen 258
2.1 Selbstdegradierung und Partnererhöhung im historischen Prozeß 258
Inhaltsverzeichnis
2.2 Umbrüche im Statusdenken 263
2.3 Akzentuierungen des Distinktionsverhaltens 266
2.4 Einstellungsveränderungen gegenüber unteren Schichten
und Abhängigen 268
2.5 Revisionen im Ehrerbietungsverhalten gegenüber Höhergestellten 272
3. Paradigmenwechsel und der Wandel moralischer Normen 275
3.1 Das Debüt des Kaufmanns und die Zeitökonomie 276
3.2 Die Abkoppelung der Gesellschaftsethik von der Moral 283
3.3 Interaktionsnormen im Säkularisationsprozeß 291
4. Modifikationen der Affekt- und Wahrnehmungsmodeliierung 301
4.1 Zum Prozeß der Informalisierung im frühen 18. Jahrhundert 301
4.2 Die Genese der Intimisierung 308
4.3 Zivilisatorische Verfeinerung 315
Schlußbemerkung: Offene Fragen 323
LITERATURVERZEICHNIS
1. Quellen 325
2. Forschungsliteratur 350
EINLEITUNG
THEMENSTELLUNG
UND FORSCHUNGSPROBLEME
1.
Historische und aktuelle Relevanz des Themas
Zu den Konventionen publizistischer Aufbereitung gehört es heute, Anstandsfra
gen amüsiert und beiläufig zu glossieren. Auch die periodischen W erbekampa
gnendes rührigen»F achausschusses für Umgangsformen« können nicht verhin
dern, daß dem >guten Ton< im öffentlichen Bewußtsein dieser Republik eine nur
periphere Bedeutung beigemessen wird.
Positiver als vielerorts die Medien schätzen moderne Sozialwissenschaftler das
Steuerungspotential der Interaktion durch Verhaltensgrammatiken ein. E. GotT
man zog Anstandsbücher der Tradition mehrfach zur Analyse zeitgenössischer
Interaktionsrituale heran.1
Erst recht zwingt die historische Beschäftigung mit der Anstandskultur des Ba
rock und der galanten Epoche zur Verabschiedung heute gängiger Relevanzbe
wertungen. Fragen der Gesellschaftsethik standen im 17. und 18. Jahrhundert
durchaus im Zentrum des literarischen und gesellschaftlichen Interesses. Darauf
deuten allein schon das Quantum und die Auflagenzahl publizierter Anstandsli
teratur hin, von der es nach einem Zeugen aus der galanten Epoche bereits 1715
»gantze Lastwagen voll Bücher« gab.2 Im Gegensatz zu heute fanden im Barock
gerade renommierte Autoren ein Engagement in Fragen des Umgangs und des
Decorum lohnend. Die Garde klangvoller Namen, die sich gesellschaftsethischen
Problemen in Übersetzungen und eigenen Schriften zuwandten, reicht im deut
schen Sprachraum von den Späthumanisten Aegidius Albertinus, J. R. Sattler,
Bernegger und Dornau über Opitz, Schotte!, Moscherosch, Schorer, Schupp,
Scherffer von Scherffenstein, Greflinger, Zesen, Harsdörfer, Pufendorf, Kinder
mann, Stieler, Butschky, C. Weise, Riemer zur Gruppe der Galanten mit Bohse,
Hunold, Benjamin und J. G. Neukirch, J. B. Mencke und schließlich zu den Früh-
1 Goffman, Ervin: Verhalten in sozialen Situationen. Gütersloh 1971, 21. Ders.: Das Indi
viduum im öffentlichen Austausch. Frankfurt/M. 1974, 251. Ders.: Wir alle spielen
Theater. München 1976.
2 Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung Zu der Klugheit zu leben(. ..) . Leipzig 1715, 476.
1
Einleitung
aufklärem C. Thomasius, v. Tschimhaus, Amthor, Wolffund Heumann. Verlän
gert man die Liste um dieNa men der mit gesellschaftsethischer Erziehung profes
sionell befaßten Hofmeister des 17. Jahrhunderts, fehlen nur wenige der namhaf
ten Autoren im Kreis derjenigen, die sich Probleme der Gesellschaftsethik theo
retisch und praktisch angelegen sein ließen. 3 Die enorme Hochschätzung, deren
sich die Anstandskultur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert-historisch modifiziert
erfreute, dokumentiert sich hinlänglich in Autorenbewertungen oder Äußerun
gen zum Geltungsbereich der Konvenienz. Die ganzeWeltkomplimentiert für C.
Weise: Die Blumen öffnen sich beim Morgenlicht, die Vögel bereiten ihm einen
jubelnden Empfang, ein Hund begrüßt mit freudigem Wedeln seinen Herrn.
Sollte da nicht der Mensch,
»die kleine Welt(. ..) seinen Nechsten/ das ist/ seines Herrn und seines Gottes Eben=Bild
mit aller gebührenden Leutseligkeit annehmen«?4
An der antiken Steigerung des menschlichen Sympathie-Mikrokosmos zu makro
kosmischer Allmacht partizipiert über die Vermittlung des Renaissance-Platonis
mus noch die christlich-barocke Komplimentierlehre.5 Ähnlich entdeckt Mars
dörfer die umfassende Wirkgesetzlichkeit der politischen Kräfte ebenso im unter
menschlichen Bereich wie in der menschlichen Gesellschaft. So kann er Stufe um
Stufe die Ständepyramide vom Fürsten bis zum Bettler herabschreiten, um im
mer wieder auf den nämlichen Befund zu stoßen: Jeder Stand schmeichelt demje
weils mächtigeren. 6 Der Abstieg bis in die Zone der Ethologie unterstreicht die na
turgesetzliche Determiniertheit von Ehrerbietungsritualen. 7
In der täglichen Interaktion erachten della Casa und Bacon kleine Höflichkei
ten und ein elegantes Benehmen für relevanter als hohe Tugenden. Wann hat
man schon im sozialen Alltag Gelegenheit, Milde, Großmut, Tapferkeit zu de
monstrieren?8 Fehler gegen den »Wohlstand« sind auf der Waage der Ethik zwar
nur kleine Splitter, werden aber von der Gesellschaft zu großen Balken gemacht:
3 Hofmeister oder Prinzenerzieher waren neben anderen, bereits als Autoren erwähnten
Gelehrten Tobias Hübner, D. von dem Werder, P. Lauremberg, J. Balde, Czepko, Rist,
P. Gerhardt, A. Tscheming, J. S. Mitternacht, A. Gryphius, Klaj, Rachel, v. Birken, Sa
cer, Mühlpfort, Neander.
4 Weise, Christian: Politischer Redner( ...) . Leipzig 1677, 432.
5 Zur vorplatonischen, platonischen und peripatetisch-stoischen Betrachtung der Liebe,
cf. Pyritz, Hans: Paul Flemings Liebeslyrik. Göttingen 1963,233 ff., 246 ff. Das Decorum
bedeutet für Domau die Vollendung der neuplatonischen Harmonie in Gesellschafts
ordnung und Kosmos. Vg l. Domavius, Caspar: CHARIDEMUS (. ..) . Bethaniae Elysio
rum 1617, fol. C2•, D3, EPf.
6 Octavianus Chiliades: DISCURS Von der Höflichkeit(. ..) . In: MERCURIUS HISTO
RICUS ( ...) . (11657) Harnburg 1658, 345f.
7 Ebd.: »ja! die Hunde und das Vieh schmeichelt denen von welchen sie ein Bissen Brod
erhalten können.«
8 10. CASAE GALATEVS Das ist/ Das Büchlein Von erbarn/ höflichen vnd holdseligen
Sitten(. ..) auß Italianischer Sprach verteutschet von NATHANE CHITRAEO. Franck
furt 1597, 2 u. 4. Francisci Baconis ( ...) Getreue Reden: die Sitten= Regiments= und
Haußlehre betreffend ( ...) . Übers. v. J. W. v. Stubenberg. Nümberg 1654, 375 f.
2